BT-Drucksache 18/8242

Europaweiten Atomausstieg voranbringen - Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen

Vom 27. April 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8242
18. Wahlperiode 27.04.2016
Antrag
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Annalena Baerbock,
Bärbel Höhn, Oliver Krischer, Christian Kühn (Tübingen), Steffi Lemke, Peter
Meiwald, Dr. Julia Verlinden, Harald Ebner, Matthias Gastel, Stephan
Kühn (Dresden), Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Corinna Rüffer, Markus
Tressel, Dr. Valerie Wilms und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europaweiten Atomausstieg voranbringen ‒ Euratom-Vertrag reformieren
oder aussteigen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Am 25. März 1957 wurde in Rom der Vertrag zur Gründung der Europäischen
Atomgemeinschaft (Euratom) unterzeichnet. Ziel des Vertrags ist es, „die Voraus-
setzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernenergie zu schaffen, welche die
Energieerzeugung erweitert, die Technik modernisiert und auf zahlreichen anderen
Gebieten zum Wohlstand der Völker beiträgt“. Knapp 60 Jahre nach Vertragsab-
schluss ist weder das Ziel des Vertrags umgesetzt, noch gibt es dafür noch eine Mehr-
heit unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Im Gegensatz zu den erneu-
erbaren Energien gibt es ausdrücklich keine Ausbauziele für Atomkraft und auch
keine Erwähnung in den europäischen Beihilfeleitlinien. Die antiquierte Privilegie-
rung von Atomkraft durch den Euratom-Vertrag muss daher beendet werden.
Klimakrise, Wirtschaftskrise und Energieabhängigkeit von Importen stellen Europa
vor große Herausforderungen, die nur mit einer gemeinsamen Energiewende gelöst
werden können. In Deutschland wurde nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima
mit dem fraktionsübergreifenden Bundestagsbeschluss vom 30. Juni 2011 das Ende
der Atomkraft-Ära eingeläutet und damit der Weg frei gemacht für mehr Erneuer-
bare, Einsparung und Effizienz. In der Europäischen Union gibt es zwar nach wie
vor vereinzelte Neubauvorhaben im Atombereich, jedoch konnte bisher keines die-
ser Projekte erfolgreich umgesetzt werden. Der Europäische Druckwasserreaktor
(EPR) des französischen Herstellers Areva scheitert an allen Fronten. Im französi-
schen Flamanville wird bereits seit 2007 an einem EPR gebaut. Die für 2013 ge-
plante Inbetriebnahme ist schon lange passé. Mittlerweile wird die Fertigstellung für
das Jahr 2018 ins Auge gefasst, über zehn Jahre nach Baubeginn. Die Baukosten
sind explodiert: von 3,3 Milliarden Euro auf mindestens 10,5 Milliarden Euro. Die
gleichen Probleme spielen sich beim EPR-Bau im finnischen Olkiluoto ab. Auch
beim Neubauprojekt in Großbritannien Hinkley Point C handelt es sich um einen
EPR. Dieser muss massiv staatlich subventioniert werden, da es sich für Investoren
nicht rechnet. Auf Grundlage des Euratom-Vertrags, Art. 40, verpflichtet sich die

Drucksache 18/8242 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Europäische Kommission in regelmäßigen Abständen, ein „Hinweisendes Nuklear-
programm der Gemeinschaft“ zu veröffentlichen. In dem im April 2016 frisch ver-
abschiedeten Programm wird die staatliche Beihilfe von Hinkley Point C als ein Fi-
nanzierungsbeispiel für Neubauten genannt. In der letzten Veröffentlichung
2007/2008 hieß es noch: „Wichtig ist, dass in der EU in Kernenergieprojekte keine
staatlichen Beihilfen fließen“.1 Mit Hilfe des antiquierten Atomvertrags werden der
Ausbau der Atomkraft konkret gefördert und Atomstrom Wettbewerbsvorteile ge-
genüber Strom aus Gas- und KWK-Kraftwerken sowie gegenüber den erneuerbaren
Energien verschafft. Trotzdem lehnte die Bundesregierung eine Revision des Ver-
trags bisher ab, weil sie ihn für eine „geeignete Rechtsgrundlage für Regelungen“2
in Bereichen wie Sicherheitsforschung, internationale Kooperation und nukleare Si-
cherheit ansieht. Damit unterstützt sie weiterhin eine gefährliche, veraltete und teure
Risikotechnologie in der EU. Im Falle eines Super-GAUs wären weite Flächen in
der EU betroffen. Gerade an den Grenzen Deutschlands sind viele AKW in sehr
schlechtem Zustand. In den belgischen Atomkraftwerken Doel 3 und Tihange 2 wur-
den 2012 eine Unzahl an Rissen festgestellt, in den französischen Atomkraftwerken
Fessenheim und Cattenom herrschen Mängel wie unzureichender Überflutungs-
schutz und ungenügende Erdbebensicherheit und im schweizerischen Beznau läuft
das älteste Atomkraftwerk der Welt, bei dem ähnliche Defekte wie in Belgien ge-
funden wurden. Aus Euratom ergibt sich: Das Betreiben von Atomkraftwerken ist
die souveräne Entscheidung eines jeden Landes. Aber kein Land lebt unter einer
Glasglocke. Die radioaktive Wolke macht nicht vor der Landesgrenze halt. Deswe-
gen muss sich die Bundesregierung in Bezug auf grenznahe AKW rund um Deutsch-
land mit besonderem Nachdruck für eine Reduktion des Atomrisikos einsetzen und
die Schließung der ältesten und gefährlichsten Meiler fordern, wie sie das bei
Tihange 2 und Doel 3 gerade auch getan hat. Vor allem aber muss sie darauf hinwir-
ken, dass der Euratom-Vertrag dahingehend geändert wird, dass betroffene Anrai-
nerstaaten ein Mitspracherecht bei den Sicherheitsanforderungen angrenzender
Atomkraftwerke bekommen.
Weiterhin legitimiert die Bundesregierung mit dem Euratom-Vertrag, dass große
Summen an Steuergeldern für die Erforschung von Kernfusion, Transmutation und
Reaktoren der IV. Generation ausgegeben werden – Technologien, die bei erfolgrei-
cher Anwendung den Wiedereinstieg ins atomare Zeitalter bedeuten würden.
Der gesellschaftliche und politische Wandel in Bezug auf die geschwundene Akzep-
tanz der Atomkraft wurde im Euratom-Vertragstext ebenso wenig nachvollzogen
wie der Aufstieg der erneuerbaren Energien. Hinzu kommt der undemokratische
Charakter des Vertrags. Das Europäische Parlament hat in Euratom-Angelegenhei-
ten kein Entscheidungsrecht, z. B. im Hinblick auf die Höhe des Euratom-Budgets.
Die EU hat die Chance, als Energiewende-Union eine Schlüsselrolle sowohl im
Kampf gegen den Klimawandel als auch gegen die zunehmende Abhängigkeit von
fossilen Rohstoffimporte einzunehmen. Die EU hat sich mit der Roadmap 2050 zum
Ziel gesetzt, ihre Emissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent im Vergleich zu 1990
zu senken. Damit Atomausstieg und Energiewende europaweit gelingen, bedarf es
einer grundlegenden Revision von Euratom, welche sowohl die Abschaffung der
Sonderstellung der Atomkraft als auch die Schaffung einer Gemeinschaft für Erneu-
erbare Energien zum Ziel hat. Die Bundesregierung hat zusammen mit anderen EU-
Mitgliedstaaten in einer Erklärung zur Schlussakte von Lissabon vom 13. Dezem-
ber 2007 bereits ihre Unterstützung für eine zeitgemäße Veränderung des Euratom-
Vertrags zum Ausdruck gebracht.

1 Vgl. Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den
Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Aktualisierung des Hinweisenden Nuklearprogramms
2007 im Zuge der Zweiten Überprüfung der Energiestrategie, KOM(2008) 776 endg.

2 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Revision des Euratom-Vertrages“ der Bun-
destagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundestagsdrucksache 18/3539 vom 16.12.2014.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8242
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass schnellstmöglich eine Regie-
rungskonferenz einberufen wird, die den Vertrag zur Gründung einer Europäischen
Atomgemeinschaft grundlegend überarbeitet. Dabei soll die Bundesregierung auf
folgende Neuausrichtung hinwirken:
• Die durch den Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstellung der Kernener-

gie (Kernspaltung und Kernfusion) soll abgeschafft werden, insbesondere sollen
alle Passagen des Euratom-Vertrages und darauf beruhenden „Hinweisenden Nu-
klearprogramme“ gestrichen werden, die Investitionen, Forschungsförderung
und Genehmigungsprivilegien in der Atomkraft begünstigen. Frei werdende Mit-
tel sollen stattdessen für die Forschung und Entwicklung von erneuerbaren Ener-
gien eingesetzt werden. Die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der
Kernspaltung soll sich auf Sicherheits-, Entsorgungs- und Gesundheitsfragen be-
schränken.

• Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Atomenergie noch einige Zeit Teil
des Energiemixes einiger Mitgliedstaaten bleiben wird, müssen höchstmögliche,
verbindliche Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke gelten. Die Kontrolle der
Sicherheitsstandards soll verschärft werden.
Zudem soll der Austausch zwischen den Nachbarländern mit AKW verbessert
und verstärkt werden. Es soll ein neues Regelwerk geschaffen werden, das es An-
rainerstaaten ermöglicht, Einfluss auf die Sicherheitsanforderungen für grenz-
nahe Atomkraftwerke nehmen zu können; auch hier muss Euratom geändert wer-
den.

• Die Anlagen zur Zwischen- und Endlagerung müssen dem Stand von Wissen-
schaft und Technik entsprechen. Der Export von Atommüll und abgebranntem
Kernbrennstoff muss verboten werden.

• Der europaweite Ausstieg aus der Atomkraft soll vorangetrieben werden. Hierbei
steht der Euratom-Vertrag grundsätzlich in Frage oder muss mit einem Enddatum
versehen werden.

• Die Revision des Euratom-Vertrages muss die volle demokratische Kontrolle und
Beteiligung durch das Europäische Parlament erreichen.

• Die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Erneuerbare Energien als
Ersatz für Euratom muss vorbereitet werden.

Sollte diese Neuausrichtung auf europäischer Ebene nicht durchsetzbar sein, fordert
der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, den Euratom-Vertrag von deut-
scher Seite aus zu kündigen, was sowohl rechtlich möglich ist als auch bereits von
der Ethik-Kommission für den Atomausstieg 2011 im Entwurf ihres Schlussdoku-
ments als „die bessere Lösung“ empfohlen wurde.

Berlin, den 26. April 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.