BT-Drucksache 18/8154

Vermeintliche Integrationsverweigerung als Begründung für die Debatte um die Gesetzesverschärfung

Vom 13. April 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8154
18. Wahlperiode 13.04.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Frank Tempel, Ulla Jelpke, Kerstin Kassner,
Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Vermeintliche Integrationsverweigerung als Begründung für die Debatte um die
Gesetzesverschärfung

Nach Auffassung der Fragesteller will Bundesminister des Innern Dr. Thomas de
Maizière (CDU) wieder einmal vermeintlich integrationsunwillige Migrantinnen
und Migranten mit Sanktionen belegen; diesmal soll es Flüchtlinge treffen (vgl.
Bundestagsdrucksachen 17/3339, 17/4798 und 17/11661). Ihnen soll ein dauer-
hafter Aufenthalt versagt werden, wenn sie Deutschkurse verweigern und Ar-
beitsangebote ausschlagen. Er wolle „einen Zusammenhang“ herstellen zwischen
dem „erfolgreichen Absolvieren von Integration und der Erlaubnis, wie lange
man in Deutschland bleiben darf“ (www.tagesschau.de/inland/integration-
fluechtlinge-de-maiziere-101.html). Spätestens im Mai 2016 werde der Bundes-
innenminister ein Integrationsgesetz vorlegen. Darin soll auch eine Wohnsitzauf-
lage für Flüchtlinge enthalten sein.
Unterstützung erhält er vom Koalitionspartner SPD. „Wir müssen Integration
nicht nur fördern, sondern auch fordern“, sagte Vizekanzler Sigmar Gabriel
(www.handelsblatt.com/politik/deutschland/fluechtlinge-und-integrationsgesetz-
wir-muessen-fordern-und-nicht-nur-foerdern/13374054-2.html). Auch begrüßt
Sigmar Gabriel Einschränkungen für Flüchtlinge bei der freien Wahl des
Wohnsitzes (www.welt.de/politik/deutschland/article150845472/Gabriel-will-
Fluechtlingen-Wohnsitz-vorschreiben.html), ebenso wie der stellvertretende
Bundesvorsitzende der SPD Ralf Stegner, für den die „Wohnsitzauflage für Ge-
flüchtete, die Sozialtransfers beziehen, […] ein geeignetes Instrument [ist],
um eine gute Integration in den Städten und Gemeinden zu ermöglichen“
(www.handelsblatt.com/politik/deutschland/fluechtlinge-und-integrationsgesetz-
wir-muessen-fordern-und-nicht-nur-foerdern/13374054-2.html). Auch der Leiter
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Frank-Jürgen Weise,
vertritt die Wohnsitzauflage (www.tagesschau.de/inland/integration-fluechtlinge-
de-maiziere-101.html).
In welchem Umfang Flüchtende Integrationskurse nicht besuchen oder Arbeits-
angebote ablehnen, nannten bisher aber weder Dr. Thomas de Maizière noch
Sigmar Gabriel. Bereits im Jahr 2010 hatte Dr. Thomas de Maizière vermeintliche
Integrationsverweigerer entdeckt. Die Zahl derer, die sich nicht integrieren, liege
bei 10 bis 15 Prozent. Sie würden die Teilnahme an Integrationskursen verwei-
gern, sich abschotten oder den deutschen Staat ablehnen, hatte er damals behaup-
tet. Empirische Belege für die Unterstellung, es gebe eine bedeutende Zahl von
„Integrationsverweigerern“ in Bezug auf die Verpflichtung zur Teilnahme an ei-
nem Integrationskurs, gab es damals wie heute nicht. Die Bundesregierung
musste immer wieder auf Kleine Anfragen der Fraktion DIE LINKE. zugeben,
dass sie über keine Erkenntnisse zu entsprechenden Pflichtverletzungen verfügt

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(vgl. Bundestagsdrucksachen 17/3339, 17/4798 und 17/11661 und insgesamt:
www.migazin.de/2012/12/17/regierung-bleibt-belege-fur-integrationsverweigerung-
schuldig/). Sie konnte keine Aussage machen, ob es sich bei denjenigen, die einer
Verpflichtung zum Sprachkurs nicht nachkommen oder diesen abbrechen, um an-
gebliche Verweigerer handelt, weil die vielfältigen Gründe für eine Nichtteil-
nahme statistisch nicht erfasst werden (Bundestagsdrucksache 16/14157). Auch
eine vom Bundesministerium des Innern (BMI) initiierte Umfrage unter den Bun-
desländern erbrachte keinerlei Anhaltspunkte für eine „Integrationsverweige-
rung“ in relevanter Größenordnung. Im Gegenteil: Mehrere Bundesländer erklär-
ten, dass von aufenthaltsrechtlichen Sanktionen deshalb kaum Gebrauch gemacht
werde, weil es keine „vorwerfbare Integrationsverweigerung in nennenswertem
Umfang“ gebe (Bundestagsdrucksache 17/4798). Nach Einschätzung des dama-
ligen Präsidenten des BAMF, Dr. Manfred Schmidt, konnte – wenn überhaupt –
nur etwa 1 Prozent der Migranten mit dem Etikett „Integrationsverweigerer“ be-
legt werden (epd-Gespräch vom 9. Januar 2011).
Dennoch aber gab es im Jahr 2011 entsprechende Gesetzesverschärfungen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Teilnahmeberechtigungen für Integrationskurse wurden im Jahr

2015 und im bisherigen Jahr 2016 erteilt, wie viele neue Kursteilnehmerin-
nen und -teilnehmer gab es in diesen Zeiträumen (bitte nach den zehn wich-
tigsten Herkunftsländern, EU-Mitgliedstaaten bzw. Drittstaatsangehörigen
sowie Deutschen, nach der Rechtsgrundlage bzw. Statusgruppe – Neu-/Alt-
zuwanderer, Verpflichtete/Freiwillige, Asylsuchende usw. –, nach Kursart
und Geschlecht differenzieren und jeweils absolute und relative Zahlen nen-
nen)?

2. Wie hoch waren im Jahr 2015 die Ausgaben für die nachfolgend genannten
Bereiche (bitte jeweils auch die Werte für den jeweiligen Vergleichszeitraum
des Vorjahres und für das gesamte Jahr 2014 sowie Planungen für das Jahr
2016 nennen):
a) Intensivkurse,
b) Integrationskurse (660 Unterrichtseinheiten),
c) Wiederholung des Aufbaukurses (300 Unterrichtseinheiten),
d) Kurse für spezielle Zielgruppen (bitte differenzieren),
e) Prüfungskosten / Sprachstandsfeststellungen (bitte differenzieren),
f) hälftige Rückerstattung des Kosteneigenbeitrages,
g) Fahrtkostenzuschuss,
h) Befreiung vom Kostenbeitrag,
i) Kinderbetreuung,
j) Aufwandsentschädigung für Verwaltungstätigkeit,
k) Lehrerqualifizierung,
l) Sonstiges,
m) Insgesamt?

3. Wie hoch schätzt die Bundesregierung den Bedarf an Integrationskursen und
das reale Angebot für das Jahr 2016 ein, wenn auch die neuerdings zu Inte-
grationskursen zugelassenen Asylsuchenden berücksichtigt werden?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8154
4. Inwieweit ist die dreimonatige Dauer der Zulassung zu einem Integrations-
kurs für Asylsuchende in der Praxis ausreichend, um einen Integrationskurs
finden zu können, bzw. welche Probleme sind in der Praxis diesbezüglich
feststellbar?

5. Welche Sprachkursangebote für Asylsuchende jenseits der Integrationskurse
in Zuständigkeit des Bundes gibt es in den einzelnen Bundesländern?

6. Wie hoch waren im Jahr 2015 nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil
und die Zahl aller durch die Ausländerbehörden der Länder und die Träger
der Grundsicherung angemeldeten Verpflichteten beim Kursträger?

7. Wie hoch waren im Jahr 2015 der Anteil und die Zahl der Angemeldeten, die
den Kurs begonnen haben?

8. Inwieweit kann die Bundesregierung eine Aussage treffen, ob es sich bei den
übrigen Verpflichteten in welchem Umfang um „Verweigerer“ handelt?

9. Inwieweit kann die Bundesregierung eine Aussage treffen, welche Entschul-
digungsgründe (z. B. Umzug, Fortzug ins Ausland, Schwangerschaft, Eintritt
in den Arbeitsmarkt, Krankheit, Teilnahme an vorhandenem Kursangebot
nicht zumutbar) bezüglich einer Nichtteilnahme vorliegen?

10. Welchen Anlass sieht die Bundesregierung überhaupt, um über schärfere Ge-
setze im Zusammenhang der Integrationskursteilnahme nachzudenken (siehe
Vorbemerkung der Fragesteller, bitte ausführen), da nach Erfahrungen des
BAMF die Gründe, aus denen eine Teilnahmeberechtigung zur Teilnahme
am Integrationskurs nicht wahrgenommen werden, im Wesentlichen sind:
„prioritäre Erwerbstätigkeit, persönliche Gründe (z. B. Krankheit, Pflege,
Schwangerschaft), finanzielle Eigenbeteiligung“ (siehe Bundestagsdrucksa-
che 18/5606, Antwort der Bundesregierung zu Frage 6) ?

11. Warum wurde zuletzt die finanzielle Eigenbeteiligung an Integrationskursen
erneut angehoben, obwohl dies auch nach den Erfahrungen des BAMF ein
wesentlicher Grund dafür ist, dass ein Integrationskurs trotz Teilnahmeberech-
tigung nicht wahrgenommen wird (siehe Bundestagsdrucksache 18/5606, Ant-
wort der Bundesregierung zu Frage 6)?

12. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Kursabbre-
cher unter den Verpflichteten bei begonnenen Kursen, und was kann sie zu
den diesbezüglichen Gründen oder der Frage einer Vorwerfbarkeit des Ab-
bruchs sagen?

13. Inwieweit wird nach Kenntnis der Bundesregierung eine Statistik zu den
Gründen der Nichtteilnahme an den Integrationskursen oder Abbrüchen bei
den Ausländerbehörden, Grundleistungsträgern, dem BAMF und/oder den
Kursträgern geführt, und wenn nein, warum nicht (bitte ausführen)?

14. Wie war das Verhältnis von zur Integrationskursteilnahme verpflichteten
Personen und verpflichteten Integrationskursteilnehmenden für den Zeit-
raum der Jahre 2009 bis 2015 (bitte nach Jahren differenzieren, in absoluten
und relativen Größen angeben und nach Zuwanderergruppen und zusätzlich
zum Gesamtwert auch nach den zehn bedeutendsten Herkunftsländergrup-
pen differenzieren)?

15. Inwieweit teilt die Bundesregierung die in der Antwort des Parlamentari-
schen Staatssekretärs Dr. Christoph Bergner vom 13. September 2010 auf
die Schriftliche Frage 4 der Abgeordneten Sevim Dağdelen auf Bundestags-
drucksache 17/2963 gegebene Begriffsdefinition der Integrationsverweige-
rung, wonach diese „durch die Tendenz zur selbst gewählten Abschottung,
die Nichtteilnahme am gesellschaftlichen Leben und an den angebotenen
Deutschkursen sowie die Ablehnung des deutschen Staates“ gekennzeichnet
sei?

Drucksache 18/8154 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

16. Inwieweit kann nach Ansicht der Bundesregierung „Integrationsverweige-

rung“ bezüglich der „Tendenz zur selbstgewählten Abschottung“, der
„Nichtteilnahme am gesellschaftlichen Leben“ und der „Ablehnung des
deutschen Staates“ unabhängig vom Migrationshintergrund oder der Staats-
angehörigkeit bestehen?

17. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse darüber, dass die Einschät-
zung des damaligen Präsidenten des BAMF, Dr. Manfred Schmidt, nur etwa
1 Prozent der Migranten könne – wenn überhaupt – mit dem Etikett „Inte-
grationsverweigerer“ belegt werden (epd-Gespräch vom 9. Januar 2011),
nicht mehr zutreffend ist (bitte begründen)?

18. Welche empirischen Erkenntnisse und Einschätzungen zur Anwendung des
§ 8 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) liegen der Bundesregie-
rung (nach entsprechender Befragung der Bundesländer) vor (bitte ausfüh-
ren)?

19. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung (nach entsprechender Befra-
gung der Bundesländer) darüber, wie häufig die Ausländerbehörden Perso-
nen, die ihrer Teilnahmepflicht aus von ihnen zu vertretenden Gründen nicht
nachgekommen sind,
a) nach § 44a Absatz 3 Satz 1 AufenthG auf die möglichen rechtlichen Aus-

wirkungen ihres Handelns hingewiesen haben,
b) nach § 44a Absatz 3 Satz 2 AufenthG durch Mittel des Verwaltungs-

zwangs zur Erfüllung der Teilnahmepflicht „angehalten“ haben,
c) nach § 44a Absatz 3 Satz 3 AufenthG Gebührenbescheide in welcher

Höhe erhoben haben,
und welche näheren Kenntnisse über die Staatsangehörigkeit und den Auf-
enthaltsstatus der betroffenen Personen gibt es?

20. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung (nach entsprechender Befra-
gung der Bundesländer bzw. von zuständigen Bundesbehörden) darüber, wie
häufig Personen die Hilfen zum Lebensunterhalt gekürzt oder gänzlich ver-
sagt wurden, weil sie ihrer Pflicht zur Integrationskursteilnahme nicht nach-
gekommen sind, und welche näheren Kenntnisse über die Staatsangehörig-
keit und den Aufenthaltsstatus der betroffenen Personen gibt es?

21. Was ist der Bundesregierung (nach entsprechender Befragung der Bundes-
länder bzw. von zuständigen Bundesbehörden) dazu bekannt, inwieweit Trä-
ger im Rahmen des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) Leistungs-
empfänger zur Integrationskursteilnahme im Rahmen einer Eingliederungs-
vereinbarung verpflichten, wenn unzureichende Deutschkenntnisse vorlie-
gen?

22. Was ist der Bundesregierung (nach entsprechender Befragung der Bundes-
länder bzw. von zuständigen Bundesbehörden) dazu bekannt, inwieweit Trä-
ger im Rahmen des SGB II die nach § 31 SGB II zwingend vorgesehenen
Sanktionen ergreifen, wenn einer Verpflichtung zur Sprachkursteilnahme
nicht nachgekommen wird?

23. Welche Erkenntnisse, Erfahrungen und Einschätzungen hat das BAMF dazu,
inwieweit zur Teilnahme Verpflichtete in den Jahren 2009 bis 2015 nicht
ordnungsgemäß an Integrationskursen teilgenommen haben (bitte entspre-
chend der Jahre nach Verpflichtungen durch Träger der Grundsicherung für
Arbeitsuchende und durch die Ausländerbehörden differenzieren), und was
ist dem BAMF über die Gründe hierfür bekannt?

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24. Welche aufenthalts- und sozialrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten für den

Fall, dass einer Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme nicht nachge-
kommen wird, bestehen bereits (bitte die Rechtsgrundlagen und das Ausmaß
der Kürzungsmöglichkeiten benennen)?

25. Inwieweit sieht die Bundesregierung in Anbetracht der bereits bestehenden
Sanktionsmöglichkeiten einen Gesetzesänderungsbedarf hinsichtlich weite-
rer Sanktionsmöglichkeiten bei unzureichender Integrationskursteilnahme
(bitte konkret den Änderungsbedarf auflisten und begründen)?

Berlin, den 12. April 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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