BT-Drucksache 18/7885

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 17./18. März 2016 in Brüssel zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004, der Verordnung (EG) Nr. 863/2007 und der Entscheidung 2005/267/EG des Rates KOM(2015) 671 endg.; Ratsdok. 15398/15 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes

Vom 15. März 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7885
18. Wahlperiode 15.03.2016
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Frank Tempel, Dr. André
Hahn, Jan Korte, Petra Pau, Martina Renner, Dr. Petra Sitte,
Kersten Steinke, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 17./18. März 2016 in Brüssel

zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des
Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der
Verordnung (EG) Nr. 2007/2004, der Verordnung (EG) Nr. 863/2007 und der
Entscheidung 2005/267/EG des Rates
KOM(2015) 671 endg.; Ratsdok. 15398/15

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung nach Artikel 23
Absatz 3 des Grundgesetzes

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem Vorschlag für eine Verordnung über eine Europäische Grenz- und Küsten-
wache wird das Ziel verfolgt, die Abschottung der EU-Außengrenzen gegenüber
schutzsuchenden Menschen und anderen Migrantinnen und Migranten noch effekti-
ver als bislang zu gestalten. Zugang zu einem Asylverfahren soll nur noch über die
von der in Nachfolge von Frontex einzurichtende „Agentur für die Europäische
Grenz- und Küstenwache“ (im Folgenden: Agentur) betriebenen „hotspots“ möglich
sein, die zugleich der schnellen Abschiebung abgelehnter Schutzsuchender dienen
sollen. Auch das derzeit bereits geltende Ziel, eine Abschottung durch die Vorverla-
gerung des Grenzregimes in Transitstaaten und die elektronische Überwachung des
Grenzvorraums mittels Drohnen zu organisieren, soll effektiver als bislang verfolgt
werden können.
Zugleich steht der Vorschlag im Kontext einer immer weitergehenden Militarisie-
rung des Grenzregimes. Schon jetzt werden Frontex-Operationen mit der EU-Mili-
täroperation EUNAVFOR-MED („Operation Sofia“) vor der Küste Libyens und mit
der Ständigen Maritimen NATO-Gruppe Mittelmeer Ost vor der Küste der Türkei

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abgestimmt. Offiziell ist dabei die Aufgabe der maritimen Operationen, Informatio-
nen zu sammeln und zur „Bekämpfung des Schleuserwesens“ beizutragen. Eine un-
mittelbare Einbindung militärischer Ressourcen in Frontex-Operationen ist rechtlich
nicht möglich, weil dem der zivile Charakter des Grenzschutzes und vor allem der
Küstenwache entgegensteht. Dabei wird es zwar oberflächlich auch künftig bleiben.
Im Kern wird aber auf operativer Ebene die Militarisierung des Grenzregimes mit
dem neuen Vorschlag verstetigt.
Der im Grenzschutzpaket der Kommission (Mitteilung der Kommission „Ein euro-
päischer Grenz- und Küstenschutz und effiziente Sicherung der Außengrenzen“,
Ratsdok. 15403/15) ebenfalls enthaltene Vorschlag zur „Änderung der Verord-
nung (EG) Nr. 1406/2002 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die Sicher-
heit des Seeverkehrs“ (Ratsdok. 15390/15) befördert zudem eine weitere Technisie-
rung der Grenzüberwachung. Mit diesem Vorschlag sollen die zur Kontrolle der See-
sicherheit im „Europäischen Informationssystem zum Schiffsverkehr“ erfassten Da-
ten zu Schiffsbewegungen der Agentur für Grenz- und Küstenwache zur Verfügung
gestellt werden. Auch für die Seesicherheits-Agentur sollen nun Drohnen zur ver-
besserten Seeüberwachung anschafft werden. Diese Technisierung der Grenzüber-
wachung bindet in hohem Maße finanzielle Ressourcen, die damit beispielsweise für
eine humanitär orientierte Politik der Flüchtlingsaufnahme oder eine zivile Seenot-
rettung in europäischer Hand fehlen.
Auch die weiteren im Grenzschutzpaket der Kommission vorgesehenen Maßnahmen
zielen auf mehr und effektivere Abschottung der EU-Außengrenzen, geben keine
Antwort auf die humanitäre Katastrophe vor den Toren der EU. Die faktische Schlie-
ßung der mazedonischen Grenze im März 2016, die zu einem „Rückstau“ von
Flüchtlingen im Transit von Griechenland über die Staaten des westlichen Balkan
im vollkommen überforderten griechischen Aufnahmesystem führte, hat den Effekt
dieser Abschottung in besonderer Weise vor Augen geführt. Inzwischen sind auch
Slowenien, Serbien und Kroatien mit Grenzschließungen nachgezogen, so dass die
Balkanroute für Flüchtlinge praktisch nicht mehr passierbar ist. Hier zeigte sich der
europäischen Öffentlichkeit unmittelbar und deutlich, welche menschlichen Schick-
sale durch die gezielte Abschottung unmittelbar vor den Grenzen produziert werden.
Zahlreiche Menschen jeden Alters, ausgeschlossen von den zivilisatorischen Stan-
dards des wohlhabenden Europas, ohne Trinkwasser, sanitäre Einrichtungen, medi-
zinische Versorgung: das hat es in Europa schon seit langer Zeit nicht mehr gegeben.
Genau dieses Elend wird in der Türkei noch weiter befördert, wenn sich die Pläne
zur Abschottung der Ägäis realisieren lassen und die wenigen Flüchtlinge, die die
Türkei selbst noch einreisen lässt anstatt sie umgehend in ihre Herkunftsländer zu-
rückzuschicken, in (informellen) Flüchtlingslagern in der Türkei in ihrem Transit
nach Europa stranden. Die gesellschaftlichen Auswirkungen auf die Türkei und von
dort wieder auf Europa lassen sich noch gar nicht abschätzen.
Zudem sieht der Bundestag in zahlreichen Bestimmungen des Verordnungsentwurfs
die Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 3 und 4 des
Vertrags über die Europäische Union/EUV) verletzt. Die Mitgliedstaaten verlieren
durch die geplante Etablierung der „Europäischen Agentur für Grenz- und Küsten-
wache“ sowohl Handlungssouveränität in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung ih-
rer Außengrenzkontrolle als auch auf das aus den nationalen Haushalten bezahlte
Personal und die Ausrüstung der Grenz- und Küstenwachbehörden. Die Möglichkeit
der Anordnung von Soforteinsätzen der Agentur in Mitgliedstaaten, die nach Ansicht
von Agentur und EU-Kommission ihren Verpflichtungen zur Grenzkontrolle nicht
ausreichend nachkommen, ist ein offensichtlich schwerwiegender Eingriff in die na-
tionale Souveränität. Zugleich wird im Verordnungsvorschlag die Erforderlichkeit
des Vorschlags nicht dargelegt, also die Frage behandelt, ob die bestehenden Instru-
mente bei konsequenter Anwendung nicht bereits ausreichend wären.
Große Bedenken hat der Bundestag auch im Hinblick auf die Frage der demokra-
tisch-parlamentarischen Kontrolle der Agentur. Über den Verwaltungsrat, in dem

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alle Mitgliedstaaten und die Kommission vertreten sind, besteht nur noch eine mit-
telbare Kontrolle des Bundestages auch über den Teil der Tätigkeiten der Agentur,
an den bundesrepublikanische Polizeibeamte mitbeteiligt sind. Und obwohl die
Agentur im Vergleich zum Vorgänger Frontex einen deutlichen Ausbau ihrer Res-
sourcen und Kompetenzen erfährt, ist eine parlamentarische Kontrolle durch das Eu-
ropäische Parlament nicht vorgesehen. Die Beamten werden im Rahmen von Ope-
rationen der Agentur in die Befehlswege des Einsatzstaates eingegliedert und stehen
unter faktischer Leitung durch die Agentur. Damit wird die politische Verantwor-
tung für ihren Einsatz diffus, die parlamentarisch-politische Kontrolle läuft ins
Leere.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Vorschlag der EU-Kommission zur Einrichtung einer Agentur für die Eu-
ropäische Grenz- und Küstenwache und ähnliche in diese Richtung zielende
Vorschläge abzulehnen und dagegen in den Ratsgremien und bei den Verhand-
lungen auf der EU-Ebene einen umfassenden Vorbehalt einzulegen;

2. sich zumindest für eine konsequente Umsetzung der bestehenden Beschlüsse
zur Umverteilung (relocation) von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien
in anderen EU-Staaten einzusetzen;

3. an der Entwicklung eines Systems der Aufnahme Schutzsuchender in der EU
mitzuwirken, der sich an einer solidarischen Verteilung der Aufnahmekosten
und den Bedürfnissen und Interessen der Schutzsuchenden hinsichtlich ihres
Aufnahmestaates orientiert (free choice Modell);

4. sich in diesem Zusammenhang für eine Stärkung des Europäischen Asylunter-
stützungsbüros (EASO) dahingehend einzusetzen, das die Mitgliedstaaten mit
besonders hohen Zugangszahlen in ihren nationalen Aufnahmesystemen bei der
Erstregistrierung der Schutzsuchenden und ihrer Weiterleitung in andere EU-
Staaten unterstützen soll;

5. sich für eine schnelle und humanitäre Lösung der Situation an der griechisch-
mazedonischen Grenze einzusetzen und gegenüber den europäischen Partnern
klarzustellen, dass eine bloße Schließung der Grenzen ohne jegliches Konzept
zur Vermeidung der inhumanen Folgen für die betroffenen schutzsuchenden
Menschen in deutlichem Widerspruch zu den gemeinsamen europäischen Wer-
ten der Humanität und der Achtung der Menschenwürde steht.

Berlin, den 15. März 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Begründung

Mit dem vorliegenden „Vorschlag des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz-
und Küstenwache und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004, der Verordnung (EG) Nr. 863 und
der Entscheidung 2005/267/EG des Rates“ wird angestrebt, die Europäische Agentur für die operative Zusam-
menarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der EU, also Frontex, durch eine neue „Europäische Agen-
tur für die Grenz- und Küstenwache“ zu ersetzen.

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Neu eingeführt wird die „Europäische Grenz- und Küstenwache“ als integriertes Grenzschutzsystem der Mit-
gliedstaaten und der Grenzschutzagentur. Der Agentur kommt dabei die Aufgabe der Aufsicht über die „Euro-
päische Grenz-und Küstenwache“ zu. Ihre Verbindungsbeamten in den Mitgliedstaaten sollen die Zusammen-
arbeit zwischen Agentur und nationalen Behörden stärken und beobachten, ob die innerhalb der „Europäischen
Grenz- und Küstenwache“ festgelegten strategischen Ziele erreicht werden.
Sollte die Agentur im Rahmen ihrer umfassenden Aufsichtsbefugnisse zu dem Schluss kommen, dass in einem
Mitgliedstaat keine ausreichenden Maßnahmen zum Schutz der Außengrenzen ergriffen werden, kann sie selb-
ständig und ohne Mandat des betroffenen Mitgliedstaats an seinen EU-Außengrenzen aktiv werden. Einen Be-
schluss dazu soll die EU-Kommission ohne Beteiligung weiterer EU-Organe fällen können.
Zur personellen Untersetzung soll der Personalbestand im Vergleich zu Frontex auf 602 Stellen bis zum
Jahr 2020 verdoppelt werden. Darüber hinaus werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen festen Anteil ihrer
nationalen Grenzschutzbehörden an die Grenzschutzagentur abzustellen. Auch die Regeln zur Bestückung des
sogenannten Ausrüstungspools werden im Vergleich zur derzeitigen Frontex-tool box verbindlicher. Das heißt
Anschaffungen müssen mit Hilfe des „Fonds Innere Sicherheit“ zur Verfügung gestellt werden.
Auch im Bereich Abschiebungen werden Kompetenzen ausgebaut, die Agentur soll im Gegensatz zum jetzigen
Status quo auch auf eigene Initiative hin tätig werden können, um einzelne Mitgliedstaaten zu unterstützen.
Die Agentur soll stärker als bislang die Koordination mit Drittstaaten übernehmen, die Mitgliedstaaten dürfen
dabei eigenständig lediglich in dem von der Agentur vorgegebenen Rahmen tätig werden. Generell gilt für das
Verhältnis von Mitgliedstaaten und Agentur eine Verpflichtung auf „loyale Zusammenarbeit“ und Informati-
onsaustausch. Zu letzterem erhält die Agentur umfassende Befugnisse für die Erhebung und Verarbeitung von
personenbezogenen Daten und den Datenaustausch mit anderen EU-Agenturen. Die Agentur übernimmt die
Federführung bei der Unterstützung von „hot spots“, zu denen gemeinsame Unterstützungsteams mit dem Eu-
ropäischen Asylunterstützungsbüro, Europol und anderen Agenturen entsandt werden. Ganz ausdrücklich wird
im Aufgabenbereich Forschung die Entwicklung von Drohnen und anderen moderne Überwachungstechnolo-
gien benannt.
Es ist fraglich, ob der Vorschlag der Kommission in der vorliegenden Fassung die Prinzipien von Subsidiarität
und Verhältnismäßigkeit wahrt.
Nach Art. 10 des Verordnungsentwurfs soll die Agentur eine Aufsichtsfunktion gegenüber den Grenzschutz-
behörden der Mitgliedstaaten übernehmen, sie soll Gefährdungsbeurteilungen hinsichtlich der technischen
Ausrüstung, Systeme, Kapazitäten und Notfallpläne der Mitgliedstaaten vornehmen. Die Agentur übernimmt
damit eine wesentliche Funktion der nationalen Parlamente, denen als demokratisch legitimierte Organe eine
Aufsichts- und Kontrollfunktion gegenüber den nationalen Grenzschutzbehörden als Teil der Exekutive zu-
kommt. Mit den Mechanismen zur Frühwarnung und zur Überwachung der nationalen Systeme im Rahmen
des Art. 33 Dublin-III-Verordnung, des Schengenevaluierungsmechanismus und der darin ebenfalls vorgese-
henen Aktionspläne zur Behebung festgestellter Mängel (Art. 14 und 15 VO (EU) Nr. 2053/2013) bestehen
hier ohnehin bereits umfassende Möglichkeiten, sowohl auf eine stark steigende Zahl Schutzsuchender als auch
auf vermeintliche Defizite im Außengrenzschutz der Schengenstaaten zu reagieren. Die Kommission konnte
nicht überzeugend darlegen, warum diese Mechanismen nicht ausreichend sein sollen.
Nach Art. 11 wird die Aufsichtsfunktion der Agentur durch die Entsendung von Verbindungsbeamten in die
Grenzschutzbehörden der Mitgliedstaaten wahrgenommen. Soweit diesen Zugang zu den Informationssyste-
men der Grenzschutzbehörden eingeräumt werden soll, greifen diese weit in die Wahrnehmung der hoheitli-
chen Befugnisse der Mitgliedstaaten ein. Gegen diese Befugnisse der Agentur bestehen auch erhebliche daten-
schutzrechtliche Bedenken. Die zum Zweck der Grenzkontrolle, der Feststellung von unerlaubtem Grenzüber-
tritt oder der Registrierung Asylsuchender bei den Grenzbehörden erhobenen Daten können nicht ohne weiteres
zu den Analysezwecken der Agentur verwendet werden. Auch der geforderte ungehinderte und freie Zugang
zu den nationalen Koordinierungszentren der Grenzkontrolle, die die Mitgliedstaaten im Rahmen der
EUROSUR-Verordnung geschaffen haben, greift in die nationalen Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten ein.
Nach Art. 12 darf der Exekutivdirektor der Agentur gegenüber einem Mitgliedstaat einen Katalog von Maß-
nahmen erlassen, die dieser zur Behebung von Mängeln bei technischer Ausrüstung, seines Grenzschutzsys-
tems, der zur Verfügung stehenden Kapazitäten und der Notfallpläne zu ergreifen hat. Auch hier wird mittelbar
in die hoheitliche Souveränität und in die Haushaltssouveränität der Mitgliedstaaten eingegriffen, wenn bei-
spielsweise die Erhöhung der personellen Kapazitäten gefordert wird.
Der tiefgreifendste Eingriff in die nationalstaatliche Souveränität erfolgt aufgrund von Art. 18 des Verord-
nungsentwurfs. Demnach hat die Agentur ein Interventionsrecht, wenn nach ihrer Analyse die Wirksamkeit

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der Grenzkontrollen im betroffenen Mitgliedstaat so weit reduziert ist, dass der Schengenraum in seiner Funk-
tionsweise gefährdet ist. Dies kann der Fall sein, wenn die nach Art. 12 ergriffenen Maßnahmen nicht umge-
setzt werden oder es einen unvorhergesehen hohen Migrationsdruck an seinen Außengrenzen gibt. In diesen
Fällen sind die Mitgliedstaaten zur Kooperation verpflichtet. Damit ist allerdings den Mitgliedstaaten eine sou-
veräne Entscheidung über die Grenzkontrolle genommen: die Souveränität über die Grenzen geht eben nicht
notwendigerweise mit einer Abschottung dieser Grenzen einher – wie beispielsweise der Verzicht auf Grenz-
kontrollen innerhalb des Schengenraums eindrücklich zeigt – sondern kann auch die Öffnung der Grenzen für
Schutzsuchende bedeuten. Nach der Struktur des Verordnungsentwurfs ist der Weg zu einer flüchtlingsfreund-
lichen Grenzpolitik durch einzelne Mitgliedstaaten versperrt. Hier stellt sich zudem die Frage nach der EU-
vertraglichen Rechtsgrundlage. Zwar haben sich die Mitgliedstaaten durch den AEUV zur Verwirklichung ei-
nes integrierten Grenzschutzsystems verpflichtet, fraglich ist aber, ob der EU damit zugleich die Ermächtigung
zum Direktvollzug entsprechender Maßnahmen erteilt wurde. Die Entstehungsgeschichte spricht gegen eine
solche Deutung der Vertragsgrundlagen, denn damals ging es in erster Linie um einen Ausbau der transnatio-
nalen europäischen Kooperation, wie sie sich auch im Zuschnitt der Frontex-Verordnung widerspiegelt. Im
Lichte der Art. 4 Abs. 2 EUV und Art. 72 AEUV sind weiterhin die Mitgliedstaaten vorrangig für die Auf-
rechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständig. Vor diesem Hintergrund ist die Reichweite des Art. 77
AEUV, den die Kommission als Rechtsgrundlage für ihren Verordnungsentwurf gewählt hat, nicht abschlie-
ßend geklärt. Wird der EU jedoch an dieser Stelle eine weitreichende Kompetenz nicht nur im Verwaltungs-
verfahren, sondern auch im Direktvollzug zuerkannt, könnte dies eine Präzedenzwirkung auch auf andere Be-
reiche der öffentlichen Ordnung haben.
In Konflikt mit der jedenfalls vorrangigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öf-
fentlichen Ordnung steht auch die Ausdehnung des Mandats für die neu zu schaffende Agentur gegenüber
Frontex auf „grenzüberschreitende Kriminalität einschließlich der Beihilfe zu irregulärer Einwanderung, des
Menschenhandels und des Terrorismus“ (Art. 10 Abs. 3 VO-E). Tendenzen zur Beschäftigung mit allgemeinen
Phänomenen der grenzüberschreitenden Kriminalität wie Drogen-, Treibstoff- und Zigarettenschmuggel lassen
sich zwar jetzt schon erkennen, wenn in den quartalsweise erscheinenden „Risikoanalysen“ des Frontex Ana-
lysis Network (FRAN) auch zu diesem Kriminalitätsbereichen eine Auswertung vorgenommen wird. Sollen
aber die Risikoanalysen, die Regelungsgegenstand des Art. 10 VO-E sind, zukünftig verbindlich diese grenz-
bezogenen Deliktsbereiche umfassen, folgt daraus auch, dass sie zumindest Gegenstand des „integrierten
Grenzschutzsystems“ sind. Dies würde den Weg bereiten zu einer allgemeinen Grenzpolizei der EU. Hierfür
wären die gewählten Rechtsgrundlagen augenscheinlich nicht mehr ausreichend, ganz unabhängig davon, ob
der EU hier überhaupt eine Kompetenz jenseits der transnationalen Kooperation zukommt.
Bereits jetzt stehen den Mitgliedstaaten ausreichende Möglichkeiten zur Verfügung, im Bereich des Grenzma-
nagements und der Grenzkontrollen zu kooperieren und sich solidarisch zu unterstützen. Aus Sicht der Befür-
worter eines strikten Grenzkontrollregimes mögen sich dabei Defizite zeigen, die in der hohen Zahl der in die
EU drängenden Flüchtlinge ihren Ausdruck findet. Diese Feststellung darf nun aber nicht dazu führen, dass
eine weitere Verlagerung von Kompetenzen auf die Ebene der EU als verhältnismäßig angesehen wird. So
lange die bereits vorhandenen Möglichkeiten nicht tatsächlich ausgeschöpft sind, kann auch die Erforderlich-
keit weiterer Möglichkeiten für ein Handeln der Union nicht angenommen werden. So besteht bereits jetzt die
Möglichkeit des Einsatzes von Rapid Border Intervention Teams (RABIT) aus Einsatzkräften anderer Mit-
gliedstaaten in einem Mitgliedstaat, der Unterstützung bei der Kontrolle seiner EU-Außengrenzen anfordert.
Der Einsatzplan für diesen Einsatz wird auch jetzt schon zwischen Frontex und dem Einsatzstaat abgestimmt,
letzterer hat formal die Einsatzhoheit (und soll sie auch nach dem neuen Vorschlag behalten). Hinzu kommen
längerfristige „Gemeinsame Operationen“ (Joint Operations, JO). Beides, sowohl JO als auch RABITs, kom-
men an der griechisch-türkischen Grenze zum Einsatz. Die dennoch weiter steigenden Flüchtlingszahlen sind
kein Resultat fehlender Abschottungsbemühungen, sondern schlicht der fortbestehenden Gewalt in Syrien und
anderen Hauptherkunftsstaaten von Flüchtlingen. Jedenfalls stehen hier wie auch bezüglich Art. 10 und 12
(Risikoanalysen, Maßnahmenkatalog der Agentur) die Erforderlichkeit und damit die Verhältnismäßigkeit des
Vorschlags in Frage. Hinweis auf die fehlende Erforderlichkeit ist auch, dass die Kommission bei Vorlage ihres
Vorschlags entgegen der EU-rechtlichen Vorgaben keine Folgenabschätzung vorgenommen hat. Somit können
die Mitgliedstaaten über den Vorschlag auch nicht hinsichtlich der zu erwartenden haushälterischen Folgen
entscheiden.

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