BT-Drucksache 18/7838

Abschiebungen nach Afghanistan vor dem Hintergrund der Sicherheitslage

Vom 9. März 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7838
18. Wahlperiode 09.03.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Wolfgang Gehrcke,
Dr. André Hahn, Inge Höger, Andrej Hunko, Katrin Kunert, Niema Movassat,
Dr. Alexander S. Neu, Kersten Steinke, Halina Wawzyniak und der
Fraktion DIE LINKE.

Abschiebungen nach Afghanistan vor dem Hintergrund der Sicherheitslage

Die Bundesregierung hat mehrfach ihre Absicht kundgetan, ausreisepflichtige
Afghaninnen und Afghanen verstärkt nach Afghanistan abzuschieben. Die Bun-
desregierung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 18/7169), „Geplante Verstärkung von Ab-
schiebungen nach Afghanistan“ ausgeführt, dass die „urbanen Zentren durch die
afghanische Regierung ausreichend kontrollierbar“ seien.
Der Begriff „ausreichend kontrollierbar“ bezeichnet allerdings mitnichten ein si-
cheres Umfeld für die Zivilbevölkerung, sondern wird unter anderem von der
Bundeswehr verwendet, um die Sicherheits- und Bedrohungslage zu beschreiben.
Für „ausreichend“ wird es dabei bereits gehalten, „wenn bestehende Bedrohun-
gen eine Beeinträchtigung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit der afghani-
schen Bevölkerung, afghanischen Regierung und der Vertreter der internationa-
len Gemeinschaft darstellen. Dies kann eine räumlich und zeitlich begrenzte Ver-
schlechterung der Sicherheitslage einschließen“ (Fortschrittsbericht Afghanistan,
Januar 2014, S. 33).
Nach Einschätzung der Fragestellerinnen und Fragesteller ist damit einigermaßen
euphemistisch die in Kriegsgebieten typische, durch Kriegsereignisse oder Atten-
tate hervorgerufene „Beeinträchtigung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit“
beschrieben, die sich jederzeit und überall noch weiter verschlechtern kann. Eine
solche akute Verschlechterung war beispielsweise Ende vorigen Jahres bei der
zeitweisen Wiedereinnahme von Kunduz durch die Taliban zu verzeichnen. Der
Fortschrittsbericht 2014 verwendet die Bezeichnung „ausreichend kontrollierbar“
selbst durchgehend mit Einschränkungen wie „jedoch heterogen“, „lokal be-
grenzt volatil“ usw.
Der Terminus „ausreichend kontrollierbar“ wurde nach Angaben der Bundesre-
gierung (Bundestagsdrucksache 18/7169, Antwort zu Frage 6) vom Bundesmi-
nisterium der Verteidigung definiert und ist „Teil der Militärischen Nachrichten-
lage“. Was aus militärischer Sicht womöglich noch für „ausreichend kontrollier-
bar“ gehalten werden mag, muss dies aber noch lange nicht für Zivilisten sein.
Die in Afghanistan allgegenwärtige Todesgefahr durch Kampfhandlungen oder
Terroranschläge ist aus Sicht der Fragestellerinnen und Fragesteller jedenfalls
keine „ausreichende“ Sicherheit, um Zivilisten dorthin abzuschieben. Es gibt in
Afghanistan Gebiete mit unterschiedlich hohem Risikopotential, aber keine si-
cheren Gebiete.

Drucksache 18/7838 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

Vielmehr verschlechtert sich die Sicherheitslage in letzter Zeit erheblich. Die
United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) teilte am 14. Feb-
ruar 2016 mit, dass die Zahl ziviler Opfer im Jahr 2015 den höchsten Stand seit
Beginn der Erfassung im Jahr 2009 erreicht habe. Demnach starben 3 545 Zivi-
listen und 7 457 wurden verletzt. Aus dem Bericht geht auch hervor, dass eine
zunehmende Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte noch lange keinen Ge-
winn an Sicherheit mit sich bringt: Zunehmend sind es nämlich offizielle Polizei-
, Hilfspolizei- oder Armeeeinheiten, die für zivile Opfer verantwortlich sind (17
Prozent gegenüber 14 Prozent im Vorjahr). Für Verbrechen verantwortliche
Kommandeure der offiziellen Sicherheitskräfte müssen nicht ernsthaft mit einer
Strafverfolgung rechnen (Human Rights Watch, 16. Februar 2016). Die afghani-
sche Bevölkerung wird sprichwörtlich zwischen Aufständischen, Regierungs-
und NATO-Truppen zerrieben.
Der Afghanistan-Experte Matthias Ruttig vom Afghan Analysts Network spricht
davon, dass die Vorstellung sicherer Zonen „nichts mit Afghanistan zu tun“ habe.
„Es gibt nur kleine Inseln in einem Meer von Unsicherheit“, und selbst dort könn-
ten sich die Menschen keine langfristige Existenz aufbauen (Die Presse, 20. Feb-
ruar 2016).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wann und von wem wurde die Definition der Sicherheitslage mit Verwen-

dung unterschiedlicher Sicherheitsstufen in der heutigen Form festgelegt?
2. Welchen konkreten Zweck hat die Beschreibung der Sicherheitslage in den

Einsatzgebieten der Bundeswehr?
Wer ist im wesentlichen Adressat dieser Beschreibung?

3. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass eine aus Sicht von Berufsmili-
tärs „ausreichend kontrollierbare“ Lage zugleich eine Lage ist, die aus Sicht
in der Region wohnhafter Zivilisten als „sicher“ zu bezeichnen wäre?
Inwiefern grenzt die Bundesregierung den militärischen Terminus „ausrei-
chend kontrollierbar“ vom zivilen Terminus „sicher“ ab?

4. Welche Kriterien sind aus Sicht der Bundesregierung an eine für Abzuschie-
bende ausreichend sichere Lage zu stellen?

5. In welchen afghanischen Städten herrscht nach Einschätzung der Bundesre-
gierung nicht durchgehend die Gefahr terroristischer Attentate, denen auch
Zivilisten zum Opfer fallen können, wie ist die Sicherheitslage dort zu beur-
teilen, und auf welcher Grundlage erfolgt diese Einschätzung?

6. Inwiefern kann nach dem überraschenden Einmarsch der Taliban in Kunduz
nach Einschätzung der Bundesregierung ausgeschlossen werden, dass ähnli-
che Ereignisse auch in anderen afghanischen urbanen Zentren geschehen
(bitte begründen)?

7. Gibt es derzeit in Afghanistan nach Einschätzung der Bundesregierung Re-
gionen, bei denen mit mehr als kurzfristiger Prognose davon ausgegangen
werden kann, dass sie unbeeinträchtigt von kriegerischen Ereignissen oder
terroristischen Attentaten bleiben (bitte ggf. diese Regionen benennen und
die Einschätzung begründen)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7838
 

8. Was meint die Bundesregierung konkret mit der Angabe, es gebe in Afgha-
nistan Gebiete, in denen die Lage „vergleichsweise“ stabil sei (Bundestags-
drucksache 18/7169)?
a) Auf welche Gebiete oder Situationen bezieht sich dieser Vergleich?
b) Um welche Gebiete handelt es sich?
c) Inwiefern muss die Sicherheitslage in einer Region nicht nur als „ver-

gleichsweise“, sondern anhand welcher festen Kriterien als stabil erachtet
werden, um Abschiebungen vornehmen zu können?

d) Welche Prognose über das längerfristige Andauern dieser „angeblich“
stabilen Lage liegt der Bundesregierung vor, und auf welcher Grundlage
wurde diese erstellt?

e) Wie sicher ist die Lage in diesen „vergleichsweise“ stabilen Regionen für
die dort lebenden Menschen?

9. Wie kommt die Bundesregierung zur Einschätzung, „voraussichtlich“ blie-
ben „die meisten“ urbanen Zentren Afghanistans auch in Zukunft „ausrei-
chend“ kontrollierbar?
a) Ist die Schlussfolgerung richtig, dass diese Prognose („die meisten“) eben

nicht für sämtliche urbanen Zentren gilt?
Inwiefern hat die Bundesregierung eine Prognose darüber, welche urba-
nen Zentren nicht zu „den meisten“ gehören?

b) Was bedeutet „voraussichtlich“ in diesem Zusammenhang vor dem Hin-
tergrund, dass die vorübergehende Wiedereinnahme von Kunduz durch
die Taliban auch nicht „vorausgesehen“ worden ist?

c) Inwiefern ist aus Sicht der Bundesregierung das Risiko, nur „vorüberge-
hend“ von Taliban überrannt, nach einer Woche aber wieder von offiziel-
len Sicherheitskräften befreit zu werden (wie in Kunduz geschehen), für
Abzuschiebende zumutbar angesichts des Umstandes, dass dieser vo-
rübergehenden Taliban-Rückkehr in Kunduz einige Hundert Menschen
zum Opfer fielen?

10. Inwiefern sind aus Sicht der Bundesregierung an die Abschiebung alleinste-
hender Frauen besondere Kriterien zu legen, und welchen besonderen Risi-
ken unterliegen alleinstehende Frauen nach einer Abschiebung in Afghanis-
tan?

11. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über das Ausmaß von
Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen bzw. jungen Erwachsenen in Af-
ghanistan durch die verschiedenen bewaffneten Gruppen (staatliche, Pro-Re-
gierungstruppen und regierungsfeindliche) sowie Misshandlungen von An-
gehörigen dieser Gruppen, und welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus
in Bezug auf einen besonderen Abschiebeschutz für Jugendliche bzw. Män-
ner im wehrfähigen Alter?

12. Da die Bundesregierung selbst davon ausgeht, dass die Taliban weiterhin
versuchen werden, „staatliche Strukturen und Infrastruktur anzugreifen“
(Bundestagsdrucksache 18/7169), stimmt sie mit den Fragestellerinnen und
Fragestellern darin überein, dass auch Anschläge gegen staatliche Ziele für
die Zivilbevölkerung eine tödliche Gefahr sind, und wenn ja, inwiefern kann
dann die Sicherheitslage in diesen Städten als „sicher“ bezeichnet werden?

13. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem im
UNAMA-Bericht festgehaltenen Umstand, dass die afghanischen Sicher-
heitskräfte, obwohl sie seit Jahren von Angehörigen der EU, NATO, Bun-
deswehr und/oder deutscher Polizeien ausgebildet werden, in zunehmendem
Maß für den Tod von Zivilisten verantwortlich sind?

Drucksache 18/7838 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

14. Inwiefern hat die Bundesregierung für ihre Einschätzung, Afghanistan sei
sicher genug, um Abschiebungen dorthin vorzunehmen, Einschätzungen von
Menschenrechtsorganisationen oder unabhängigen Expertenmeinungen ein-
geholt (bitte genau angeben)?

15. Wie viele ausreisepflichtige afghanische Staatsangehörige leben derzeit in
Deutschland, und welchen Duldungsstatus haben diese jeweils (bitte Anga-
ben machen zu Bundesländern, Geschlecht, Alter, Aufenthaltsdauer, Aufent-
haltsstatus)?

16. Soweit es ausreisepflichtige afghanische Staatsangehörige ohne Duldung
gibt, wie ist das zu erklären, insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine
Duldung solange erteilt werden muss, wie eine Abschiebung aus rechtlichen
oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und Abschiebungen nach Afgha-
nistan ausweislich der Zahlen (2015 insgesamt neun Abschiebungen, vgl.
Bundestagsdrucksache 18/7588, Antwort zu Frage 1) offenkundig im Regel-
fall unmöglich sind?

17. Inwieweit ist die Zahl geduldeter afghanischer Personen zu erklären vor dem
Hintergrund zuletzt einstelliger Abschiebungszahlen im Jahr und dass nach
§ 25 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) eine Aufenthaltserlaubnis
erteilt werden soll, wenn die Abschiebung über 18 Monate hinweg ausgesetzt
wurde?

18. Wie ist die Aufenthaltsdauer der geduldeten Afghanen in Deutschland (bitte
unterteilen in die Zeiträume ein bis zwei Jahre, drei bis vier Jahre, fünf bis
sechs Jahre, sieben bis zehn Jahre, länger als zehn Jahre)?

19. Wie ist es aus Sicht der Bundesregierung zu rechtfertigen, dass Asylverfah-
ren afghanischer Asylsuchender trotz einer bereinigten Schutzquote in Höhe
von 77,6 Prozent im Jahr 2015 im Durchschnitt 14 Monate dauern (zuzüglich
einer derzeit mindestens dreimonatigen Wartezeit bis zur Asylantragstel-
lung)?
Inwiefern hält die Bundesregierung vor diesem Hintergrund eine unkompli-
zierte Bleiberechtsregelung für die knapp 10 000 seit mehr als einem Jahr
anhängigen Asylverfahren afghanischer Asylsuchender für angebracht, um
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie die Betroffe-
nen zu entlasten (vgl. Bundestagsdrucksache 18/7625)?

20. Welche Bundesländer haben nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit er-
klärt, keine Abschiebungen nach Afghanistan durchzuführen?

21. Wie ist das im Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom
5. Februar 2016 an den Vorsitzenden der Ständigen Konferenz der Innenmi-
nister und -senatoren der Länder und die Länderinnenminister benannte „be-
kannte Verfahren“ zur „Rückkehr/Rückführung“ gestaltet (bitte im Detail
darlegen und insbesondere auf den Unterschied „Rückkehr/Rückführung“
eingehen)?

22. Wie viele Personen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung zur „Rück-
kehr/Rückführung“ angemeldet, und was lässt sich Näheres über diese Per-
sonen sagen (Geschlecht, Alter, Familienstand, Herkunftsort usw.)?

23. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung hinsichtlich in diesem Jahr bereits
vollzogener Flüge mit ausreisepflichtigen Personen nach Afghanistan über
a) die Zahl der Abgeschobenen bzw. Rückkehrer,
b) die Zahl der freiwillig Zurückgekehrten bzw. der Abgeschobenen,
c) die Bundesländer, aus denen diese Personen stammten,
d) das Geschlecht und das Alter?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/7838
 

24. Wie viele Flüge mit ausreisepflichtigen Personen nach Afghanistan sind der-
zeit für welche Zeiträume geplant?

Berlin, den 9. Februar 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.