BT-Drucksache 18/7837

Zur Seenotrettung durch die Deutsche Marine vor und während der Operation EUNAVFOR MED

Vom 9. März 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7837
18. Wahlperiode 09.03.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth,
Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu
und der Fraktion DIE LINKE.

Zur Seenotrettung durch die Deutsche Marine vor und während der
Operation EUNAVFOR MED

Nach dem Tod von über 900 Flüchtlingen durch das Kentern eines Bootes in der
Nacht vom 18. auf den 19. April 2015 schickte die Bundesministerin der Vertei-
digung, Dr. Ursula von der Leyen, Anfang Mai 2015 zwei Schiffe der Marine ins
Mittelmeer zwischen Libyen und Italien, „um für die Flüchtlingshilfe bereit-
zustehen“ (www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-ursula-von-der-leyen-
beordert-marine-ins-mittelmeer-a-1031690.html). Parallel arbeiteten die ent-
sprechenden Strukturen auf Ebene der EU Operationspläne und ein Krisenma-
nagement-Konzept für eine Marinemission zur „Unterbindung des Geschäftsmo-
dells der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetzwerke im südlichen
und zentralen Mittelmeer“ (EUNAVFOR MED) im Rahmen der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aus, das am 18. Mai 2015 vom Rat
der Europäischen Union angenommen wurde. Die entsprechende EU-Mission be-
gann offiziell am 22. Juni 2015. Ende Juni 2015 wurden die beiden deutschen
Schiffe im Operationsgebiet, die Fregatte Schleswig-Holstein und der Tender
Werra, dem EUNAVFOR-MED-Verband unterstellt. Dessen Mandat bestand
laut Beschluss des Rates 2015/778 vom 18. Mai 2015 in Phase 1 darin, „durch
Sammeln von Informationen und durch Patrouillen auf hoher See im Einklang
mit dem Völkerrecht die Aufdeckung und Beobachtung von Migrationsnetzwer-
ken [zu] unterstützen“. In Phase 2 war hingegen vorgesehen, dass die beteiligten
Kriegsschiffe auch „auf hoher See Schiffe anhalten und durchsuchen, beschlag-
nahmen und umleiten, bei denen der Verdacht besteht, dass sie für Menschen-
schmuggel oder Menschenhandel benutzt werden“ (Beschluss des Rates
2015/778 vom 18. Mai 2015).
Erfolgte die deutsche Beteiligung an Phase 1 noch ohne Mandat des Bundestages,
wurde ein solches am 1. Oktober 2015 für die Beteiligung der Bundeswehr an
Phase 2 verabschiedet. In der vorausgegangenen Debatte hatte der Parlamentari-
sche Staatssekretär beim Bundesverteidigungsminister, Dr. Ralf Brauksiepe, ver-
sichert: „Die Seenotrettung ist und bleibt ein Hauptanliegen unseres Engagements
im südlichen und zentralen Mittelmeer“ (Plenarprotokoll 18/124). Im dem Ein-
satz zugrunde liegenden Beschluss des Rates ist hiervon jedoch keine Rede. Auch
im vom Bundestag beschlossenen Mandat des Einsatzes heißt es lediglich ergän-
zend: „Zudem gilt für alle im Rahmen von EUNAVFOR MED eingesetzten
Schiffe die völkerrechtliche Verpflichtung zur Hilfeleistung für in Seenot gera-
tene Personen fort.“
In der Außendarstellung betont die Bundeswehr meist die Zahl der im Zuge des
Einsatzes im Mittelmeer aus Seenot geretteten Personen. Anfang Juli 2015 gab

Drucksache 18/7837 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

sie anlässlich eines Truppenbesuchs der Bundesverteidigungsministerin an: „Bis-
her retteten die deutschen Marinesoldaten 5 673 Flüchtlinge“ („Ursula von der
Leyen besucht die Marinesoldaten im Mittelmeer“, bmvg.de). Am 9. Septem-
ber 2015 bezifferte die Bundeskanzlerin diese Zahl im Deutschen Bundestag auf
„mehr als 7 200“ (Plenarprotokoll 18/120).
Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) bezeichnet hingegen als Ziel bereits
der ersten Phase der Mission ausschließlich, „to identify, capture and dispose of
vessels as well as enabling assets used or suspected of being used by migrant
smugglers or traffickers“ (http://eeas.europa.eu/csdp/missions-and-operations/
eunavfor-med/index_en.htm). Am 6. November 2015 gab der EAD an, dass bis-
lang im Rahmen der Mission mehr als 5 300 Menschen gerettet, 41 Boote ver-
nichtet und 42 Personen als mutmaßliche „Schlepper“ den italienischen Behörden
übergeben worden seien. In seinem Halbjahresbericht an den EAD vom 27. Ja-
nuar 2016 gibt der Kommandierende der EUNAVFOR MED, Enrico Credendino,
an, dass im Verlauf der Phase 1, also bis zum 7. Oktober 2015, 3 078 Menschen
gerettet worden seien. Bis Ende Dezember 2015 hätte sich deren Zahl auf 8 336
erhöht, im selben Zeitraum seien 67 Boote vernichtet und 46 mutmaßliche
„Schlepper“ den italienischen Behörden übergeben worden.
Anhand von Daten der Agentur FRONTEX berichtet Enrico Credendino, dass die
Zahl der Migrantinnen und Migranten, die über das zentrale Mittelmeer – also im
Operationsgebiet der EUNAVFOR MED – kamen, 2015 gegenüber dem Vorjahr
um 8 Prozent zurückgegangen sei, während über das östliche Mittelmeer 16-mal
mehr Menschen Europa erreicht hätten als 2014. Die Boote würden nun mit noch
weniger Lebensmitteln und Benzin ausgestattet als zuvor und nicht mehr von den
„Schleppern“ eskortiert, um sie vor Überfällen zu schützen. Außerdem seien in
den letzten drei Wochen keine Holzboote, sondern nur noch weniger seetüchtige
Gummiboote verwendet worden (www.wikileaks.org/eu-military-refugees/
EEAS/EEAS-2016-126.pdf). Nach Angaben der International Organization for
Migration (IOM) sind im zweiten Halbjahr 2015 auf der Route über das zentrale
Mittelmeer 1 106 Menschen umgekommen, in den ersten zwei Monaten 2016 be-
reits 96 (http://missingmigrants.iom.int/mediterranean).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wann waren Kriegsschiffe der deutschen Marine in welcher Form seit An-

fang Mai 2015 an der Seenotrettung von wie vielen Menschen in welcher
Form beteiligt und wem wurden die Geretteten wo übergeben (bitte nach Da-
tum, Namen der beteiligten Schiffe, Zahl der Geretteten/Verstorbenen/Ver-
missten, Art der deutschen Beteiligung auflisten und Angabe des sicheren
Hafens)?

2. Hält die Bundesregierung nach ihrer Kenntnis die Angaben der IOM zu den
im Mittelmeer verstorbenen Migrantinnen und Migranten für zutreffend und
welche Informationen liegen ihr vor über Vorfälle, bei denen seit Mai 2015
Menschen im Mittelmeer ertrunken sind oder vermisst werden (bitte nach
Datum, Zahl der Vermissten/Verstorbenen und vermutlicher Ursache auflis-
ten)?

3. Welche Gründe sind der Bundesregierung dafür bekannt, dass trotz der Prä-
senz deutscher Kriegsschiffe und der Operation EUNAVFOR MED weiter-
hin deutlich mehr als 10 Prozent der Menschen auf der Route über das zen-
trale Mittelmeer ertrinken und nicht gerettet werden konnten?

4. Gilt nach Kenntnis der Bundesregierung die Verpflichtung zur Seenotrettung
auch in Libyschen Gewässern?

5. Wie viele der durch Schiffe der Deutschen Marine geretteten Menschen wur-
den noch an Bord der deutschen Schiffe identifiziert oder befragt (bitte nach
Datum und Zahl der Befragten auflisten)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7837
 

6. Wer hat diese Befragungen durchgeführt, und in welchen dieser Fälle waren
Mitarbeiter/-innen von FRONTEX, des Bundesnachrichtendienstes (BND),
der Streitkräfte und/oder der Behörden von Drittstaaten an diesen Befragun-
gen beteiligt (bitte entsprechend auflisten)?

7. Wie viele Menschen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung im Rahmen
von EUNAVFOR MED ohne die Beteiligung deutscher Schiffe gerettet?

8. Welcher Anteil der insgesamt im Rahmen von EUNAVFOR MED aus See-
not geretteten Menschen wurde nach Kenntnis der Bundesregierung zunächst
von Schiffen der Deutschen Marine aufgenommen?

9. Welche Gründe kennt die Bundesregierung dafür, dass durch die Deutsche
Marine angeblich zwischen Mai und Juli 2015 über 5 000, im Rahmen von
EUNAVFOR MED jedoch zwischen dem 22. Juni und dem 7. Oktober 2015
nur 3 078 Menschen gerettet wurden, während in diesem Zeitraum laut IOM
mindestens 934 Menschen im zentralen Mittelmeer verstarben?

10. War die Deutsche Marine seit Beginn der Operation EUNAVFOR MED am
22. Juni 2015 auch an Seenotrettungen beteiligt, die nicht unter dem Kom-
mando der EUNAVFOR MED stattfanden?

11. Ist die Bundesregierung weiterhin der Auffassung, dass „[d]ie Seenotret-
tung […] ein Hauptanliegen unseres Engagements im südlichen und zentra-
len Mittelmeer“ ist und dass nach Kenntnis der Bundesregierung auch die
anderen an EUNAVFOR MED beteiligten Regierungen sowie der EAD
diese Auffassung vertreten?

12. Welche entsprechenden Stellungnahmen der beteiligten Regierungen und
des EAD sind der Bundesregierung bekannt?

13. Hat sich die Bundesregierung dafür eingesetzt, dass die Seenotrettung im Be-
schluss des Rates 2015/778 explizit als Aufgabe der EUNAVFOR MED ge-
nannt wird?
Wenn nein, weshalb nicht?

14. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Seenotrettung durch eine
explizite Nennung im Mandat der Operation EUNAVFOR MED einen hö-
heren Stellenwert erhalten würde und dadurch ggf. mehr Menschen gerettet
würden?

15. Wie begründet die Bundesregierung, dass die Seenotrettung auch im Mandat
der deutschen Beteiligung an EUNAVFOR MED nicht explizit als Auftrag,
sondern nur als allgemeine völkerrechtliche Verpflichtung genannt ist?

16. In welchen Fällen waren Schiffe der Deutschen Marine daran beteiligt, mut-
maßliche „Schlepper“ („S&T“) festzusetzen, an Behörden von Drittstaaten
zu übergeben oder diesen Beweismittel auszuhändigen (bitte nach Datum,
Zahl der Verdächtigen und Art der deutschen Beteiligung auflisten)?

17. In wie vielen Fällen wurden seit Mai 2015 auf welche Weise Boote im zen-
tralen Mittelmeer durch die Deutsche Marine versenkt oder unbrauchbar ge-
macht (bitte nach Datum, Zahl der Boote und Wirkmittel auflisten)?

18. In wie vielen Fällen kam es darüber hinaus zum Waffeneinsatz durch an
EUNAVFOR MED beteiligte Kräfte (bitte nach Datum, Anlass, Ziel und
Wirkmittel auflisten)?

19. Welche Gründe vermutet die Bundesregierung hinter der Tatsache, dass sich
die Zahl der Geretteten seit Beginn der Phase 2 deutlich erhöht hat, zwischen
dem 7. Oktober und dem 31. Dezember 2015 jedoch deutlich weniger mut-
maßliche „Schlepper“ (fünf) festgesetzt wurden als während Phase 1 (41)?

Drucksache 18/7837 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

20. Unter welchen Aspekten bewertet die Bundesregierung die Operation
EUNAVFOR MED als Erfolg bzw. als Misserfolg, und wie bewertet sie den
Rückgang des Umfangs der Migrationen über das zentrale Mittelmeer bei
gleichzeitigem Anstieg jener über das östliche Mittelmeer?

21. Inwieweit steht der Übergang der Mission EUNAVFOR MED – Operation
Sophia – in die folgenden Phasen bevor, und für wann ist nach Kenntnis der
Bundesregierung ein Eintritt in Phase 3 – Vorgehen gegen von „Schleppern“
genutzte Boote und zugehörige Gegenstände auf fremdem Territorium, bei
denen der Verdacht besteht, dass sie für „Menschenschmuggel“ benutzt wer-
den, für das eine Resolution des UN-Sicherheitsrates oder die Zustimmung
des betreffenden Staates notwendig wäre – ins Auge gefasst?

Berlin, den 9. März 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.