BT-Drucksache 18/7328

Auslieferungen mithilfe des Europäischen Haftbefehls: Der Fall Tomás Elgorriaga Kunze

Vom 14. Januar 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7328
18. Wahlperiode 14.01.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Andrej Hunko, Annette Groth, Ulla Jelpke,
Dr. Alexander S. Neu und der Fraktion DIE LINKE.

Auslieferungen mithilfe des Europäischen Haftbefehls: Der Fall Tomás
Elgorriaga Kunze

Am 16. November 2015 wurde der spanische Staatsangehörige Tomás Elgorriaga
Kunze nach mehr als einem Jahr in Auslieferungshaft auf Grundlage eines Euro-
päischen Haftbefehls von Mannheim aus an Frankreich ausgeliefert (Neues
Deutschland vom 25. November .2015). Brisant ist dieser Fall aus Sicht der Fra-
gesteller vor dem Hintergrund, dass Tomás Elgorriaga Kunze nach der Festnahme
in Spanien 1998 während der sogenannten „Detención incomunicada“ schwer
gefoltert wurde und über mehrere Tage keinen Zugang zu Anwälten oder An-
gehörigen hatte (www.badische-zeitung.de/freiburg/wer-ist-der-angebliche-eta-
terrorist-aus-freiburg--105582568.html). In vergleichbaren Fällen hat Frankreich
in der Vergangenheit Personen bereits an Spanien überstellt (www.univie.ac.at/
bimtor/dateien/cat_2002_p.e._v_france.pdf; www.humanrights.ch/upload/pdf/09
1215_negCAT_Entscheid_GK_Deutschland_Com219_2002.pdf). Deshalb ist
nicht auszuschließen, dass Tomás Elgorriaga Kunze nach der Auslieferung an
Frankreich anschließend wieder nach Spanien ausgeliefert wird, wo ihm aus Sicht
der Fragesteller erneut Folter drohen könnte. Spanien wurde erst im April ein
weiteres Mal durch den UN-Ausschuss gegen Folter kritisiert und in Überein-
stimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgefordert,
die Praxis der Isolationshaft bei Terrorismusverdacht abzuschaffen (www.
ohchr.org/en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?LangID=E&NewsID=
15905). Auch Amnesty International kritisiert im Länderbericht 2015 für Spa-
nien, dass die Definitionen für Folter und Verschwindenlassen in der spanischen
Gesetzgebung weiterhin nicht internationalen Menschenrechtsstandards genügen.
Nach Aussagen des Umfelds von Tomás Elgorriaga Kunze durfte er keine per-
sönlichen Gegenstände (nicht einmal seine Brille) mitnehmen und ihm wurde
kein richterlicher Beschluss vorgelegt. Seine Versuche, politisches Asyl zu bean-
tragen, wurden ignoriert. Auch wurden seine Anwälte nicht informiert, sondern
erst im Nachhinein über seine Auslieferung nach Paris in Kenntnis gesetzt. Fast
drei Tage lang wussten weder Angehörige noch Anwälte, wo sich Tomás
Elgorriaga Kunze befand. Tomás Elgorriaga Kunze ist zwar spanischer Staatsan-
gehöriger, hat jedoch eine Mutter mit deutscher Staatsangehörigkeit. Ein bei deut-
schen Behörden eingereichtes Gesuch zur Einbürgerung ist dort angeblich unauf-
findbar.
Obwohl, wie das Beispiel Spanien aus Sicht der Fragesteller zeigt, in einigen Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union deutliche Defizite im Bereich der Men-
schenrechte existieren, wird mit dem Europäischen Haftbefehl ein deutlich ver-
kürztes und vereinfachtes Auslieferungsverfahren praktiziert. Im Rahmen des

Drucksache 18/7328 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

Prüfungsverfahrens werden lediglich formelle und materielle Anforderungen ge-
prüft. Eine Überprüfung, ob die erhobenen Tatvorwürfe zutreffen, oder unter wel-
chen Bedingungen Urteile oder Gründe für die Ausstellung des Haftbefehls zu-
stande gekommen sind, findet nicht statt. Alleine in den Jahren 2007 und 2008
wurden von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1 313 Auslieferungen
bewilligt (Bundestagsdrucksache 16/12243).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Europäische Haftbefehle sind seit 2009, und aus welchen Ländern

zum Zwecke der Vollstreckung an die Bundesrepublik Deutschland über-
sandt worden (bitte nach Jahren darstellen)?
a) Wie viele wurden vollstreckt?
b) Wie viele wurden nicht vollstreckt?
c) Welche Gründe lagen den jeweiligen Nichtvollstreckungen zugrunde?
d) Wie viele deutsche Staatsangehörige befanden sich unter den übergebe-

nen Personen?
2. Wie viele Europäische Haftbefehle sind seit 2009 zum Zwecke der Vollstre-

ckung aus der Bundesrepublik Deutschland an welche Staaten übersandt
worden?
a) Wie viele wurden vollstreckt?
b) Wie viele wurden nicht vollstreckt?
c) Welche Gründe lagen den jeweiligen Nichtvollstreckungen zugrunde?
d) Wie viele deutsche Staatsangehörige befanden sich unter den übergebe-

nen Personen?
3. Wie bewertet die Bundesregierung die Auslieferungspraxis auf Grundlage

des Europäischen Haftbefehls hinsichtlich der Menschenrechtslage in Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union?

4. Welche Kenntnisse besitzt die Bundesregierung darüber, ob aufgrund eines
Europäischen Haftbefehls von der Bundesrepublik Deutschland ausgelieferte
Personen anschließend von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender
Strafe oder Behandlung betroffen waren?

5. Wie schließt die Bundesregierung aus, dass dem Europäischen Haftbefehl
keine Urteile zu Grunde liegen, die auf Aussagen, die unter Folter zustande
gekommen sind, basieren?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die Anwendung des erst 2006 in Deutsch-
land in Kraft getretenen Europäischen Haftbefehls nach nunmehr neun Jah-
ren Anwendung?

7. Was ist der Bundesregierung über Diskussionen zur Erweiterung des Euro-
päischen Haftbefehls, etwa hinsichtlich einer „Europäischen Fahndungsan-
ordnung“ bekannt?

8. Welche Fälle eines möglichen Missbrauchs oder Fehlgebrauchs des Europä-
ischen Haftbefehls durch andere EU-Mitgliedstaaten wurden der Bundesre-
gierung seit 2009 bekannt, und in welchen Mitgliedstaaten ereigneten sich
diese?

9. Welche der in der Tageszeitung „the guardian“ berichteten Mängel in der
Umsetzung und Anwendung des Europäischen Haftbefehls in anderen EU-
Mitgliedstaaten sind der Bundesregierung seit 2009 bekannt geworden
(„Door thief, piglet rustler, pudding snatcher: British courts despair at extra-
dition requests“, „the guardian“ vom 20. Oktober 2008)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7328
 

10. Inwiefern wurde das auf Bundestagsdrucksache 16/12243 skizzierte Problem
einer Verweigerung ohne Verweigerungsgrund, einer mitunter fehlenden
Verhältnismäßigkeit, einer langen Bearbeitungsdauer, einer im Rahmenbe-
schluss nicht vorgesehenen Anforderung umfangreicher weiterer Unterlagen
oder einer für die Übersetzung des Europäischen Haftbefehls in die Landes-
sprache zu kurzen vorgegebenen Frist aus Sicht der Bundesregierung inzwi-
schen behoben?

11. Welche Fälle wurden der Bundesregierung seit 2009 bekannt, in denen der
Wegfall der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit zur Anerkennung und
Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund einer Tat geführt
hat, die in der Bundesrepublik Deutschland nicht strafbewehrt ist?

12. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, welche EU-Mitgliedstaaten
die Richtlinie der „Europäischen Ermittlungsanordnung“ inzwischen inner-
staatlich umgesetzt haben, und wann beabsichtigt die Bundesregierung, ei-
nen Gesetzentwurf für eine „Europäische Ermittlungsanordnung“ vorzule-
gen (Bundestagsdrucksache 18/1439)?

13. Welche Ermittlungen hat die Generalbundesanwaltschaft nach § 129a und
§ 129b des Strafgesetzbuches (StGB) gegen Tomás Elgorriaga Kunze ange-
stellt?

14. Welche deutschen Behörden waren nach Kenntnis der Bundesregierung über
die Festnahme und die Ermittlungen gegen Tomás Elgorriaga Kunze infor-
miert oder involviert?

15. Woher stammten die Erkenntnisse über den Aufenthaltsort von Tomás
Elgorriaga Kunze, die schließlich zu seiner Verhaftung führten (bitte die ge-
naue Bezeichnung der Behörden angeben)?

16. Inwiefern trifft es zu, dass zwar formell der Generalstaatsanwalt des Landes
Baden-Württembergs den Beschluss der Auslieferung von Tomás Elgorriaga
Kunze des Oberlandesgerichtes umsetzen musste, dieser aber auf Weisung
oder in Kooperation mit dem Generalbundesstaatsanwalt handelte?

17. Inwiefern haben die Bundesregierung bzw. die Generalbundesanwaltschaft
geprüft, inwiefern die Aussagen, die zu Ermittlungen und schließlich zum
Europäischen Haftbefehl bzw. zum Auslieferungsverfahren von Tomás
Elgorriaga Kunze führten, unter Folter zustande gekommen sein könnten?

18. Auf welche Weise waren Bundesbehörden in das Auslieferungsverfahren ge-
gen Tomás Elgorriaga Kunze involviert?

19. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über den konkreten Ablauf der
Auslieferung von Tomás Elgorriaga Kunze an Frankreich?
a) Sind der Bundesregierung Verfahrensfehler bei der Auslieferung be-

kannt?
b) Hat nach Kenntnis der Bundesregierung ein richterlicher Beschluss vor-

gelegen, auf dessen Grundlage die Auslieferung vollzogen wurde?
c) Wurde Tomás Elgorriaga Kunze nach Kenntnis der Bundesregierung der

richterliche Beschluss vorgelegt?
d) Sofern dies nicht erfolgte, aus welchem Grund wurde kein Auslieferungs-

beschluss vorgezeigt?
20. Wie bewertet die Bundesregierung angesichts der Beteiligung des General-

bundesstaatsanwalts an dem Verfahren die von Tomás Elgorriaga Kunze vor-
getragene Tatsache, dass ihm verweigert wurde bei der Abschiebeprozedur
seine Brille aus der Zelle der Justizvollzugsanstalt (JVA) Mannheim mitzu-
nehmen und er dadurch die aus seiner Sicht rechtswidrig handelnden betei-
ligten Beamtinnen und Beamten nicht identifizieren konnte?

Drucksache 18/7328 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

21. Hat die Bundesregierung davon Kenntnis, dass Tomás Elgorriaga Kunze vor
seiner Auslieferung politisches Asyl in Deutschland beantragt hat?
a) Wenn ja, welche Auswirkungen hatte dieser Asylantrag auf das Ausliefe-

rungsverfahren?
b) Wurde der Asylantrag formell aufgenommen?
c) Über welche eigenen Erkenntnisse verfügt die Bundesregierung zu dem

von Tomás Elgorriaga Kunze vorgetragenen Vorwurf, die Justizbehörden
der JVA Mannheim hätten sein mehrfach wiederholtes Gesuch auf einen
Asylantrag ignoriert?

d) Sofern dies zutreffen sollte, inwiefern hätten sich die Beamtinnen und Be-
amten aus Sicht der Bundesregierung dadurch strafbar gemacht?

22. Sind der Bundesregierung die kritischen Schilderungen von Tomás
Elgorriaga Kunze über seine Auslieferung nach Frankreich bekannt, und
wenn ja, welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

Berlin, den 14. Januar 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.