BT-Drucksache 18/6869

Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan

Vom 1. Dezember 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6869

18. Wahlperiode 01.12.2015

Antrag

der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Frank Tempel, Dr. André
Hahn, Petra Pau, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Halina Wawzyniak

und der Fraktion DIE LINKE.

Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebungen von

Flüchtlingen aus Afghanistan gemäß § 60a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes

(AufenthG) einzusetzen;

2. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, sein Einverständnis gegenüber

den Bundesländern für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitären Gründen
nach § 23 Abs. 1 AufenthG für Flüchtlinge aus Afghanistan zu erklären und

sich für entsprechende Regelungen einzusetzen;

3. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, dafür zu sorgen, dass das Bun-
desamt für Migration und Flüchtlinge keine Widerrufe von Asyl- und Flücht-

lingsanerkennungen oder eines subsidiären Schutzes unter Hinweis auf eine an-

geblich positiv veränderte Lage oder angeblich sichere Fluchtalternativen in
Afghanistan vornimmt;

4. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, dafür zu sorgen, dass afghani-
schen Asylsuchenden angesichts hoher Schutzquoten der Zugang zu Integrati-

onskursen ermöglicht wird und sie soweit möglich in beschleunigten schriftli-

chen Verfahren anerkannt werden, wobei geschlechtsspezifische Verfolgungs-
gründe besonders berücksichtig werden müssen.

Berlin, den 1. Dezember 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Drucksache 18/6869 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Begründung

Der Antrag entspricht im Kern einem Antrag der Fraktion DIE LINKE. vom 25. April 2007 (Bundestagsdruck-

sache 16/5141), der keine Mehrheit im Deutschen Bundestag fand. Die damalige Begründung trifft immer noch

zu, allerdings hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan zuletzt noch einmal deutlich verschärft. Angesichts
aktueller politischer Initiativen, die ungeachtet der verschlechterten Lagebedingungen Abschiebungen nach

Afghanistan verstärken wollen, ist ein Beschluss des Bundestages zum Schutz der afghanischen Flüchtlinge
erforderlich.

Am 28. Oktober 2015 erklärte Bundesinnenminister Thomas de Maizière, Afghanistan stehe auf Platz zwei der
Liste der Asyl-Herkunftsländer. Das sei inakzeptabel. Die Bundesregierung sei sich „einig mit der afghanischen

Regierung, das wollen wir nicht“. Die „Jugend Afghanistans und die Mittelschichtfamilien“ sollten „in ihrem

Land verbleiben und das Land aufbauen“. In Verkennung der Lage erklärte er, dass deutsche Soldaten dazu
beitrügen, Afghanistan sicherer zu machen. Zynisch fügte er hinzu, es seien große Summen von Entwicklungs-

hilfe nach Afghanistan geflossen: „Da kann man erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben. Die Men-
schen, die als Flüchtlinge aus Afghanistan zu uns kommen, können nicht erwarten, dass sie in Deutschland

bleiben können, auch nicht als Geduldete“ (www.bundesregierung.de vom 28.10.2015).

Allerdings widersprach der afghanische Flüchtlingsminister Sayed Hussain Alimi nahezu zeitgleich den Aus-

führungen seinen deutschen Kollegen (Deutsche Welle, 28. Oktober 2015): Deutschland solle mehr Flüchtlinge

aufnehmen und keine Asylsuchenden nach Afghanistan abschieben. Auf diesen Widerspruch angesprochen
erklärte die Bunderegierung auf eine Mündliche Frage der Abgeordneten Ulla Jelpke (vgl. Plenarproto-

koll 18/132 vom 4. November 2015, Frage 30), das sei eine „isolierte Einzelmeinung“, die sowohl von der
Bundesregierung als auch von der afghanischen Regierung zurückgewiesen würde. Die Nachrichtenagentur

epd berichtete am 16. November 2015 jedoch, die Regierung in Kabul habe „Deutschland am Montag erneut

[gebeten], abgelehnte Asylbewerber nicht nach Afghanistan abzuschieben“. Auch einem Bericht des „SPIE-
GEL“ vom 12. November 2015 („Prekäre Sicherheitslage: Auswärtiges Amt zweifelt an Rückführung afgha-

nischer Flüchtlinge“) ist zu entnehmen, dass sich die afghanische Regierung gegen die Rücknahme von Flücht-
lingen sperre. Hieran hätten selbst Telefonate von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-

Walter Steinmeier mit dem afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani nichts ändern können.

Die Initiative des Bundesinnenministers wurde von den Vorsitzenden der Regierungsparteien aufgegriffen, die

am 5. November 2015 weitere Verschärfungen in der Asylpolitik vereinbarten, darunter: „Wir wollen zur

Schaffung und Verbesserung innerstaatlicher Fluchtalternativen beitragen und vor diesem Hintergrund die Ent-
scheidungsgrundlagen des BAMF überarbeiten und anpassen. Dies ermöglicht auch eine Intensivierung der

Rückführungen“. Bislang gibt es, auch infolge der Rechtsprechung, nur relativ wenige Abschiebungen nach
Afghanistan, seit 2009 waren es insgesamt 67 Abschiebungen, im Jahr 2014 waren es sechs (vgl. Antwort der

Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 18/2565, Frage 9).

2015 lebten 4.901 afghanische Staatsangehörige nur mit einer Duldung in Deutschland (Bundestagsdrucksa-
che 18/5862, Frage 19), diese Menschen brauchen aufenthaltsrechtliche Sicherheit und einen rechtmäßigen

Aufenthaltsstatus.

Bundesinnenminister de Maizière verschärfte am 10. November 2015 noch einmal den Tonfall: „Wir wollen,

dass in Afghanistan das Signal ankommt: „Bleibt dort! Wir führen euch aus Europa (…) direkt nach Afghanis-
tan zurück!“ (http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2015/11/bundesinnenminister-auf-

dem-sonderrat-der-innenminister-in-bruessel.html). Er begründete dies mit „in der Regel niedrigen Chancen

auf eine Anerkennung der Schutzbedürftigkeit“ (ebd.). Das ist unzutreffend: Die bereinigte Schutzquote bei
afghanischen Asylsuchenden betrug im dritten Quartal 2015 86,1 Prozent, bei Klagen gegen negative Be-

scheide erhalten sie überdurchschnittlich häufig durch die Gerichte einen Schutz zugesprochen (vgl. Antwort

der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 18/6860,
Frage 1b und 11). Diese hohe Schutzbedürftigkeit wird auch nicht dadurch beseitigt werden können, dass ver-

sucht wird, in Afghanistan vermeintlich sichere „Fluchtalternativen“ zu schaffen – dies hat die überraschende
Eroberung der angeblich befriedeten Stadt Kunduz durch die Taliban im September 2015 eindrücklich gezeigt.

Auch nach einem internen Bericht der deutschen Botschaft in Kabul seien Abschiebungen kaum möglich, weil

sich die Bedrohungslage in Afghanistan „dramatisch“ verschärft habe (SPIEGEL vom 12. November 2015).
Die Ausdehnung der Taliban sei sogar größer als zu Beginn des militärischen Eingreifens der NATO im

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6869

Jahr 2001, selbst in Landesteilen, die bislang als relativ sicher galten, sei die Bedrohung „rasant“ gewachsen

und mit massiven Angriffen der Taliban zu rechnen.

Dass afghanischen Asylsuchenden trotz sehr hoher Anerkennungschancen entgegen § 44 Abs. 4 Satz 2 Auf-

enthG kein Zugang zu Integrationskursen ermöglicht wird, ist für die Betroffenen besonders schlimm. Denn
Asylverfahren dauern bei afghanischen Flüchtlingen im Durchschnitt mehr als 13 Monate (Bundestagsdruck-

sache 18/6860, Frage 4), die monatelange Wartezeit von der Erstregistrierung bis zur Asylantragstellung ist

dabei noch gar nicht berücksichtigt.

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.