BT-Drucksache 18/6652

Unerlaubte Einreise von Flüchtlingen entkriminalisieren

Vom 11. November 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6652

18. Wahlperiode 11.11.2015

Antrag

der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Dr. André
Hahn, Jan Korte, Petra Pau, Dr. Petra Sitte, Kerstin Steinke, Halina Wawzyniak

und der Fraktion DIE LINKE.

Unerlaubte Einreise von Flüchtlingen entkriminalisieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Derzeit reist eine große Zahl von Menschen in die Bundesrepublik Deutschland ein,
um hier Asyl zu beantragen. Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ist kein
Mittel, um den damit einhergehenden Herausforderungen gerecht zu werden. Sie ist
abzulehnen, weil sie das Prinzip der offenen Grenzen in der EU in Frage stellt.

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) legt in Artikel 31 Abs. 1 fest, dass gegen
Flüchtlinge „wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts“ keine Strafen ver-
hängt werden. Die Staatsanwaltschaften stellen die bei ihnen durch Anzeigen der
Bundespolizei und der Polizeien der Länder ausgelösten Ermittlungsverfahren in al-
ler Regel wegen geringer Schuld und fehlendem öffentlichen Interesse an der Straf-
verfolgung ein. Nichts desto weniger entsteht dadurch eine hohe Belastung für die
Polizeien und Justizbehörden. Zugleich gehen diese Fälle als so genannte „Auslän-
derkriminalität“ in die Polizeiliche Kriminalstatistik ein, obwohl keine strafverfol-
gungswürdige Handlung vorliegt.

Die Beihilfe zur unerlaubten Einreise wird mit tausenden Anzeigen, Ermittlungs-
und Gerichtsverfahren verfolgt, selbst dann, wenn die unerlaubte Einreise selbst
straffrei bleibt. Nach derzeitiger Rechtslage wird als strafwürdiges Schleusungsde-
likt schon gewertet, wenn die Beihilfe zur illegalen Einreise für mehrere Personen
erfolgt ist, also beispielsweise für eine Frau und ihr minderjähriges Kind – auch,
wenn der Täter aus rein altruistischen Motiven handelt. Das Asylverfahrensbe-
schleunigungsgesetz hat den Strafrahmen für solche Delikte sogar noch verschärft.

Damit liegt ein Wertungswiderspruch vor: Einerseits begrüßt die Gesellschaft in ih-
rer Mehrheit, dass schutzsuchende Menschen in Deutschland Aufnahme finden und
honoriert das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern, die diese Menschen unter-
stützen. Zugleich jedoch wird sowohl die Einreise der Schutzsuchenden als auch die
Hilfe dazu kriminalisiert, selbst wenn sie nicht von Bereicherung motiviert ist und
Gesundheit und Leben der Flüchtlinge nicht gefährdet.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

auf Grenzkontrollen oder weitergehende Maßnahmen wie die Errichtung von Grenz-
zäunen in Reaktion auf die Einreise von schutzsuchenden Menschen zu verzichten
und entsprechende Maßnahmen aufzuheben;

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einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Einreise von Menschen, die nach ih-
rem Grenzübertritt einen Antrag auf internationalen Schutz stellen und die nicht ge-
werbs- und bandenmäßige Beihilfe hierzu entkriminalisiert werden.

Berlin, den 10. November 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Begründung

In Deutschland ist der unerlaubte Grenzübertritt nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) strafbe-
wehrt (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr). Das betrifft auch Flüchtlinge, für die es keine legalen Einreisemög-
lichkeiten gibt und die hierdurch kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen werden, obwohl letzt-
lich fast nie eine Verurteilung wegen unerlaubter Einreise erfolgt. Nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wird mit
bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bestraft, wer sich für die Beihilfe zum unerlaubten Grenzübertritt („Schleu-
sung“) einen Vorteil versprechen lässt (beispielsweise eine Geldzahlung), wer wiederholt oder für mehrere Per-
sonen handelt. Erfasst wird von § 96 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beispielweise auch schon eine Person, die per
entgeltlicher Mitfahrgelegenheit eine geflüchtete Frau mit Kind über die Grenze fährt. Nach der Kommentarli-
teratur (Hofmann/Hoffmann) ist dieser Tatbestand auch dann erfüllt, wenn nur eine der „geschleusten“ Personen
handlungsfähig ist, nicht aber die zweite Person, etwa ein handlungsunfähiger Minderjähriger. Strafverschär-
fend wirkt nach § 96 Abs. 2 AufenthG die banden- oder erwerbsmäßige Begehung, das Mitführen einer Schuss-
waffe und die Gefährdung von Leib und Leben der Geschleusten. Diese Tatbestandsmerkmale lehnen sich an
Formulierungen des Strafgesetzbuches an. Bekannt geworden sind aber auch Fälle, in denen z. B. syrische
Staatsangehörige in notwendigerweise organisierter Form Verwandten und Freunden aus den Herkunftsorten
die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ermöglicht hatten und dafür zu Haftstrafen verurteilt wurden
(vgl. Buchen, Stefan: Die neuen Staatsfeinde, Dietz-Verlag, Berlin 2014).

Mitte September 2015 befanden sich in Bayern nach Medienberichten 800 Personen wegen des Verdachts auf
Schleusungsdelikte in Untersuchungshaft, so dass die Haftplätze in Untersuchungshaftanstalten überbelegt wa-
ren. Durch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den bayerischen Landesgrenzen zu Österreich und
der Tschechischen Republik Anfang September 2015 stieg sowohl die Zahl der Feststellungen beim unerlaubten
Grenzübertritt als auch bei vermeintlichen Schleusungsdelikten. Vom 1. Januar bis 8. Oktober 2015 wurden
309.472 unerlaubte Einreisen durch die Bundespolizei festgestellt, bis August 2015 stellte sie in 118.185 Fällen
entsprechende Strafanzeigen (Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.,
Bundestagsdrucksache 18/6467). Insgesamt wurden von Januar bis September 2015 2653 tatverdächtige
Schleuser durch die Bundespolizei festgestellt, 2014 waren es über das gesamte Jahr 2149 (Antwort der Bun-
desregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, 18/6261). Bei diesen mutmaßlichen Schleusun-
gen wurden 14.811 geschleuste Personen festgestellt. Zum Großteil handelte es sich bei Ihnen um offenkundig
schutzbedürftige Flüchtlinge mit sehr hohen Anerkennungschancen: 6.610 kamen aus Syrien, 2.358 aus Afgha-
nistan, 1.944 aus dem Irak. Die Hauptherkunftsländer der mutmaßlichen Schleuser waren Ungarn (335), Rumä-
nien (306), Syrien (238), Bulgarien (138) und Deutschland (135) (ebd.). Die pauschale Kriminalisierung des
Grenzübertritts von Flüchtlingen führt in der polizeilichen Praxis dazu, dass alle aufgegriffenen Menschen er-
kennungsdienstlich behandelt werden müssen. Das ist enorm zeitaufwendig und personalbindend. Der mit Ein-
führung der Grenzkontrollen populistisch versprochene Effekt einer sinkenden Zahl von schutzsuchenden Men-
schen tritt jedoch nicht ein. Die polizeiliche Erfassung der Einreisenden führt auch zu keiner Entlastung bei
anderen Behörden.

Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, bekannt unter dem Namen „Genfer Flüchtlingskon-
vention“ oder kurz GFK, wurde 1951 mit Blick auf die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und
Vernichtungspolitik verabschiedet, denen von Staaten auf der ganzen Welt die Zuflucht verweigert worden war.
Vor diesem historischen Hintergrund wird klar, dass die Schutzklausel des Art. 31 Abs. 1 GFK für Flüchtlinge,
„die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, indem ihr Leben oder ihre Freiheit“ bedroht war, umfassender gilt

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6652

als es der reine Wortlaut vermuten lassen könnte. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Oberlan-
desgerichts (OLG) Stuttgart, Urteil vom 2. März 2015; Az. 4 Ss 1558/09, sowie dem OLG Düsseldorf, Be-
schluss vom 1. Juli 2008, Az. 5 Ss 1227, vertritt auch die Bundesregierung die Auffassung, dass der Schutz des
Art. 31 Abs. 1 GFK nicht bereits durch die Einreise über einen sicheren Drittstaat verloren geht, wenn die Flucht
dort nicht schon beendet war (vgl. die Antwort der Bundesregierung auf eine Mündliche Frage der Abgeordne-
ten Ulla Jelpke, Plenarprotokoll 18/114 vom 1. Juli 2015, S. 11022 B, Anlage 6).

Dennoch warnt die Bundesregierung davor, den Strafrahmen für Aufenthaltsdelikte aufzuweichen, weil davon
„eine fatale Signalwirkung“ ausgehen würde. Dass schutzsuchende Flüchtlinge sich dieser Logik gemäß tat-
sächlich in größerer Zahl nach Deutschland aufmachen würden, nur weil ihre Einreise generell straffrei gestellt
würde, muss jedoch schon angesichts der aktuellen Asylzahlen bezweifelt werden.

Auch in den Reihen der Polizeibehörden gibt es Zweifel und Kritik an der strafrechtlichen Kriminalisierung der
unerlaubten Einreise von Flüchtlingen. So fordert zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft „Junge Kripo“ des
Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) im Bundeskriminalamt (BKA) in einer Stellungnahme die Entkri-
minalisierung der Einreise von Asylsuchenden (www.bdk.de, „Entkriminalisierung von Flüchtlingen,
28.08.2015). Auch der BDK-Vorsitzende André Schulz kritisierte in einer Stellungnahme die „systembedingte“
Kriminalisierung von Asylbewerbern (www.bdk.de, „Heute hü, morgen hott – Europa hat keinen Plan!“,
14.09.2015). Und die Gewerkschaft der Polizei (GdP) stellte in einem Positionspapier „Auswirkungen der
Flüchtlingssituation in Deutschland auf die Polizei – Anforderungen an die Politik“ vom September 2015 fest:
„Aus Sicht der GdP genügt es ordnungs- und rechtspolitisch, die unerlaubte Einreise und den unerlaubten Auf-
enthalt als Massendelikt auch in Deutschland zu einer Ordnungswidrigkeit umzuwidmen.“ In Österreich bei-
spielsweise gilt die unerlaubte Einreise lediglich als Ordnungswidrigkeit (Verwaltungsverstoß).

Die Folge der Kriminalisierung von unerlaubter Einreise und der Beihilfe hierzu, der „Schleusung“, ist aus
rechts- und kriminalpolitischer Sicht höchst widersprüchlich. Einen Menschen aus Not zu retten, auch indem
man ihm die unerlaubte Flucht aus Krieg und Verfolgung ermöglicht, ist ein sozial wünschenswertes Verhalten,
das nicht strafrechtlich sanktioniert werden sollte. Mehr noch: durch die Kriminalisierung selbst werden die
Preise für die Beihilfehandlungen in die Höhe getrieben, weil das Risiko der im Falle der Aufdeckung zu er-
wartenden Strafe „eingepreist“ wird. Selbst rein humanitär motivierte Fluchthelfer, die beispielsweise Ver-
wandte und Freunde aus ihren Herkunftsorten in die Bundesrepublik Deutschland holen wollen, müssen sich
den enormen Zeitaufwand vergüten lassen und zugleich Kontakte zu Kriminellen knüpfen, die ihnen notwen-
diges Know-how (Passfälschung etc.) zur Verfügung stellen. Zugleich wird Fluchthilfe damit zu einem attrak-
tiven Betätigungsfeld für Tätergruppen der organisierten Kriminalität, die über die entsprechenden Netzwerke
und funktional differenzierte Strukturen (Transport, Logistik, Beschaffen von Papieren, etc.) verfügen, um in
diesem Geschäftsfeld aktiv werden zu können. Je höher der Druck von Strafverfolgungsbehörden wird, umso
mehr werden humanitär motivierte Fluchthelfer abgeschreckt und durch kriminelle Tätergruppen verdrängt.
Durch solche rein profitorientierte Tätergruppen, die zugleich beispielsweise Menschenhandel und Zwangs-
prostitution betreiben, drohen Flüchtlinge zugleich wiederum Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen
zu werden.

Politisch kann die Antwort deshalb nicht sein, die humanitär motivierte Fluchthilfe am Ende genauso zu behan-
deln wie Mitglieder schwer krimineller Tätergruppen. Weder aus Sicht der Ordnungspolitiker noch der liberalen
Verteidiger des Rechtsstaats kann es sinnvoll sein, den Strafverfolgungsapparat mit geringfügigen Fällen von
Schleusungskriminalität zu überlasten, während zur Bekämpfung beispielsweise schwerer Formen des Men-
schen- und Kinderhandels kaum Ressourcen zur Verfügung stehen.

Nicht zuletzt zeigen spektakuläre Fälle wie das Auffinden von 71 toten Flüchtlingen am 27. August 2015 in
Österreich die Notwendigkeit eines Richtungswechsels. Dass diese Menschen zusammengepfercht elendig in
einem Transport-LKW erstickt sind, zeigt die Skrupellosigkeit der entsprechenden Tätergruppen, alles zur Er-
höhung ihrer Profitrate zu tun. Der Fall verweist aber auch auf die Verantwortung der Politik für diese Verhält-
nisse: Warum mussten sich die schutzbedürftigen Flüchtlinge überhaupt in Gefahr begeben, um von einem
Mitgliedstaat der EU in einen anderen gelangen zu können? Aufgabe der Politik ist, Flüchtlingen sichere Rei-
sewege in ihre Zufluchtsländer zu bieten und ihre gezwungenermaßen unerlaubte Einreise und die in ihrem
Interesse handelnden Helferinnen und Helfer nicht weiter zu kriminalisieren. Damit würde auch skrupellosen
Tätergruppen die Geschäftsgrundlage entzogen, deren einziges Interesse darin besteht, möglichst viel an der
verzweifelten Lage von Flüchtlingen zu verdienen.

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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