BT-Drucksache 18/6645

Parlamentarische Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes verbessern

Vom 10. November 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6645

18. Wahlperiode 10.11.2015

Antrag

der Abgeordneten Dr. André Hahn, Frank Tempel, Ulla Jelpke, Jan Korte,

Petra Pau, Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak

und der Fraktion DIE LINKE.

Parlamentarische Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit

des Bundes verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der BND hat ein gefährliches Eigenleben entwickelt, das wurde zuletzt im Zusam-
menhang mit der NSA-Spähaffäre deutlich. Mit dem Stichwort der »vernetzten Si-
cherheit«, das im Rahmen der Anti-Terror-Pakete zum Generalschlüssel einer neuen
Sicherheitsarchitektur wurde, nutzt der BND den unscharf abgegrenzten Raum der
modernen Kommunikationsmittel (Internet, Satelliten u. a.) um die Grenzen der In-
formationssammlung immer wieder auszuweiten und rechtliche Grundlagen zu um-
gehen.

Unter dem Deckmantel des sogenannten Anti-Terrorkampfes geht in vielen Fällen
die Rechtsstaatlichkeit verloren. Dabei hat sich innerhalb der deutschen Dienste eine
Eigendynamik bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben entwickelt, die eine allumfas-
sende Kontrolle durch das Parlament de facto unmöglich macht. Befördert wird die-
ser Zustand dadurch, dass sich die Dienste auf weitreichende Geheimhaltungsbefug-
nisse berufen dürfen, wie es zum Beispiel im NSA-Untersuchungsausschuss mit dem
Verweis auf den Quellen- und Methodenschutz sowie das Staatswohlinteresse per-
manent passiert.

Bei Untersuchungen bis in die jüngste Zeit hinein konnte gezeigt werden, dass struk-
turelle Probleme bei der Kontrolle der Nachrichtendienste in einer Kontinuität ste-
hen, die bis mindestens in die achtziger Jahre zurückreichen. Auch hier wurde das
Parlament unzureichend informiert und das Bundeskanzleramt hat seine Aufsichts-
pflicht darauf beschränkt zu vertrauen, die Spitze des Dienstes habe „alles im Griff“.

Die parlamentarische Kontrolle der Bundesregierung hinsichtlich der Tätigkeit der
Nachrichtendienste hat in ihrer jetzigen Ausgestaltung im Hinblick auf die Ereig-
nisse der letzten Jahre und Monate leider weitgehend versagt.

Die NSU-Verbrechen, die Enthüllungen von Edward Snowden über die anlasslose
und flächendeckende Ausspähung der Bürgerinnen und Bürger insbesondere in
Deutschland durch US-amerikanische Geheimdienste sowie der aktuellen
BND/NSA-Skandal verdeutlichen einmal mehr, dass es langfristig eine demokrati-
sche Aufgabe und Herausforderung ist, auf die schrittweise Abschaffung der Ge-
heimdienste hinzuwirken. Auch wenn die Erreichung dieses Ziels derzeit unrealis-
tisch erscheinen mag, ist es in Anbetracht des immer wiederkehrenden Versagens

Drucksache 18/6645 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

staatlicher Kontrollinstanzen und Strafverfolgungsbehörden eine Notwendigkeit,
das Ziel ernsthaft ins Auge zu fassen.

Bis zur Abschaffung der Geheimdienste ist die Ausgestaltung der parlamentarischen
Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeiten des Bundes dringend reformbedürftig.

II. Der Deutsche Bundestag beschließt,

1. das Vertrauensgremium in den regulären Haushaltsauschuss zu überführen, um
echte haushälterische Kontrolle zu ermöglichen;

2. die G 10-Kommission in der Folge der Aufhebung des G 10-Gesetzes per Ge-
setz aufzulösen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. komplett auf den Einsatz von V-Leuten zu verzichten;

2. im Bereich der Bundesdatenschutzbeauftragten eine Abteilung zu entwickeln,
die Zugang zu sämtlichen Telekommunikationsüberwachungsvorgängen und
anderen potentiell in den Bereich des G 10-Gesetzes fallenden Datenverkehren
hat, solange das G 10-Gesetz weiter besteht. Dies soll sicherstellen, dass nicht
allein die Juristeninnen und Juristen in den Nachrichtendiensten entscheiden,
was den G 10-Kommissionen an zu genehmigenden Maßnahmen zugeleitet
wird;

3. mit dem Ziel der Stärkung der Grund- und Freiheitsrechte die Übermittlung
personenbezogener Daten auch an ausländische Stellen unter Einbeziehung der
Bundesdatenschutzbeauftragten (auch nachträglich hinsichtlich der rechtlichen
und tatsächlichen Voraussetzungen) zu kontrollieren;

4. das Parlamentarische Kontrollgremium des Deutschen Bundestages selbständig
und umfassend über laufendende und geplante Maßnahmen der Geheimdienste
zu informieren und nicht erst auf Anfrage der Gremiumsmitglieder;

5. auch im Bereich der internationalen Zusammenarbeit ihrer Informationspflicht
gegenüber dem Deutschen Bundestag umfassend nachzukommen, unabhängig
von der Freigabe durch ausländische Dienste;

6. einen Gesetzentwurf vorzulegen mit dem Ziel, Whistleblower umfassend zu
schützen. Das schließt ein, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Nachrichtendienste bei von ihnen erkannten Rechtsverstößen, Missständen
oder Problemen künftig direkt an das PKGr oder einzelne Mitglieder wenden
können, ohne (wie nach derzeitiger Gesetzeslage) zugleich auch ihre jeweiligen
Dienstvorgesetzten informieren zu müssen;

7. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Mitgliedern des Deutschen Bundes-
tages künftig per Gesetz das Recht einräumt, nach gewissenhafter Prüfung der
Sach- und Rechtslage und nach sorgfältiger Prüfung der widerstreitenden Inte-
ressen einen Verstoß gegen die verfassungsgemäße Ordnung des Bundes oder
eines Landes im Deutschen Bundestag oder in einem seiner Ausschüsse zu rü-
gen, und dadurch ein Staatsgeheimnis öffentlich bekannt zu machen, ohne sich
deshalb strafbar zu machen, soweit er/sie mit der Rüge beabsichtigt, einen
Bruch des Grundgesetzes oder der Verfassung eines Landes abzuwehren.

Berlin, den 10. November 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6645
Begründung

„Die derzeitigen Systeme zur Kontrolle der nationalen Sicherheitsdienste in Europa sind weitgehend unwirk-
sam… Die europäischen Staaten müssen jetzt eine demokratischere und wirksamere Kontrolle der Tätigkeiten
der Sicherheitsdienste gewährleisten und künftig Operationen vermeiden, welche erneut gegen die Menschen-
rechte verstoßen“, erklärte der Menschenrechtskommissar des Europarates Nils Muiznieks am 5. Juni 2015 bei
der Vorstellung eines Berichts zu dem Thema. Mit den Punkten in diesem Antrag werden mehrere Empfehlun-
gen des Menschenrechtskommissars aufgegriffen und praktisch umgesetzt.

Zu II.

Zu 1. Ein wichtiger Grundsatz für die Aufstellung und Verabschiedung des Bundeshaushalts ist die Öffentlich-
keit. Eine Ausnahme hiervon stellt § 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung dar. Danach kann der Deutsche
Bundestag dem sogenannten Vertrauensgremium die Bewilligung von Ausgaben übertragen, die der Geheim-
haltung unterliegen. Dies betrifft die Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste des Bundes, die dem Vertrauens-
gremium zur Beratung und Beschlussfassung im Rahmen der Haushaltsberatungen vorzulegen sind. Im öffent-
lichen Haushaltsplan des Bundes sind bei den verantwortlichen Ressorts nur die Abschlussbeträge dieser Wirt-
schaftspläne aufgeführt. Diese werden dem Haushaltsausschuss im laufenden Haushaltsverfahren vom Vertrau-
ensgremium mitgeteilt und ohne weitere Aufschlüsselung in den Haushaltsplan eingestellt.

Die Kontrolltätigkeit des derzeit aus neun Abgeordneten bestehenden Vertrauensgremiums steht eigenständig
neben derjenigen des Parlamentarischen Kontrollgremiums, das die Bundesregierung hinsichtlich der Tätigkeit
der Nachrichtendienste des Bundes kontrolliert.

Die Praxis in Parlamenten anderer Demokratien, zum Beispiel in den USA zeigen, dass es durchaus möglich
und sinnvoll ist, auch die Haushalte der Geheimdienste durch den Haushaltsausschuss zu beraten und zu kon-
trollieren und die Öffentlichkeit dabei angemessen zu beteiligen.

Zu 2. Durch die Abschaffung des G 10 und weiterer Gesetze, die den Nachrichtendiensten des Bundes die
Befugnis zu Beschränkungen des Artikel 10 GG garantierten Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zuge-
stehen, entstehen keine Schutzlücken für die Sicherheit des Bundes oder der Länder.

Ein Vorschlag liegt mit dem Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion DIE LINKE. für ein G 10-Aufhebungsge-
setz, Bundestagsdrucksache 18/5453 vom 2. Juli 2015, dem Deutschen Bundestag bereits vor.

Zu III.

Zu 1. Die geheimdienstlich arbeitenden Verfassungsschutzämter mit ihren V-Leuten waren Herz und Motor des
sicherheitspolitischen Debakels im Zusammenhang mit dem NSU. Bei V-Leuten handelt es sich um Angehörige
einer vom Verfassungsschutz beobachteten Szene – also beispielsweise Neonazis oder Dschihadisten – die für
Geld bereit sind, Informationen an den Geheimdienst weiterzugeben. Selbst Bundesinnenminister Thomas de
Maizière nannte diese Spitzel Leute, „mit denen man sonst nicht zusammenarbeiten möchte“. Die Glaubwür-
digkeit von V-Leuten ist extrem zweifelhaft.

Das erste NPD-Verbotsverfahren 2003 scheiterte an der Durchsetzung der rechtsextremen Partei mit Geheim-
dienstspitzeln. Das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung, dass aufgrund der mangelnden Staatsferne
der NPD ein rechtsstaatliches Verbotsverfahren nicht möglich sei. Jedes sechste NPD-Vorstandsmitglied stand
damals auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes. Mögliche V-Leute des Verfassungsschutzes entpuppen
sich im laufenden NPD-Verbotsverfahren als tickende Zeitbomben.

In Thüringen, wo der NSU seinen Ursprung hat, war das V-Leute-Unwesen in den letzten Jahrzehnten völlig
aus dem Ruder gelaufen. Schon der Thüringer Heimatschutz in den 90er Jahren, aus dem das spätere NSU-Trio
dann in den Untergrund abtauchte, war eine Nazikameradschaft, in der jedes zehnte Mitglied für einen Geheim-
dienst arbeitete. Auch der Leiter der Gruppe Tino Brandt war V-Mann mit insgesamt 200.000 Deutsche Mark
Spitzelhonorar.

Aus solchen Erfahrungen mit demokratisch nicht kontrollierbaren Geheimdienststrukturen und ihren durch ihre
V-Leute-Führer vor Strafverfolgung geschützten V-Leuten hat die Thüringer Landesregierung Anfang des Jah-
res 2015 ihre Konsequenzen gezogen. Thüringen schaltete als erstes Bundesland die V-Leute des Verfassungs-
schutzes ab. Das System der V-Leute wird nicht fortgeführt, Ausnahmen sollen in „begründeten Einzelfällen
zum Zweck der Terrorismusbekämpfung“ aber möglich sein.

Drucksache 18/6645 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Zu 5. Da im Bereich des internationalen Terrorismus fast alle Informationen aus internationalen Zusammen-
hängen stammen, wird ansonsten auch künftig eine parlamentarische Kontrolle faktisch nicht ausgeübt werden

können.

Zu 6. Ein vergleichbarer Vorschlag hierzu liegt mit dem Antrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE. „Journa-

listinnen und Journalisten sowie Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber vor Strafverfolgung schützen und Un-
abhängigkeit der Justiz sicherstellen“, Drucksache 18/5839, dem Deutschen Bundestag bereits vor.

Zu 7. Grundlagen dafür sind Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes. Eine entsprechende Regelung in § 100 Ab-
satz 3 StGB wurde im Jahr 1951 geschaffen und im Rahmen der Notstandsgesetzgebung 1968 wieder gestri-

chen.

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Word-Lesezeichen
ENORM_ANTRAG_INITIANTEN

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.