BT-Drucksache 18/6335

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 15./16. Oktober 2015 in Brüssel

Vom 13. Oktober 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6335

18. Wahlperiode 13.10.2015

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Inge Höger, Andrej
Hunko, Katrin Kunert, Stefan Liebich, Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu,
Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 15./16. Oktober 2015 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag spricht den Angehörigen und Freunden der Opfer
der Terroranschläge von Ankara am 10. Oktober 2015 sein tiefes Mitgefühl

aus. Bei dem Doppelanschlag auf linke Demonstranten des Friedensmar-
sches waren nach offiziellen Angaben mindestens 95 Menschen getötet und

246 Menschen verletzt worden, darunter zahlreiche Mitglieder der oppositi-

onellen HDP, der Partei der Arbeit EMEP und anderer demokratischer Or-
ganisationen, die sich für einen Friedensprozess in der Türkei einsetzen. Mit

dem Anschlag geht die blutige Saat der Politik des türkischen Staatspräsi-
denten auf, Andersdenkende als Terroristen zu diffamieren und damit zur

Zielscheibe faschistischen Terrors in der Türkei zu machen. Der Ko-Vorsit-

zende der türkischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas, richtet
schwere Vorwürfe an die Regierungspartei AKP in Bezug auf den Anschlag

in Ankara: „Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut.“ Wirksame Er-

mittlungen der türkischen Strafverfolgungsorgane zu den Hintermännern des
Anschlags stehen infolge der bisherigen dünnen Ermittlungsergebnisse zu

vorangegangenen Anschlägen auf Oppositionelle in Zweifel.

2. Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 in der Türkei erhielt die Opposi-

tionspartei HDP mehr als 6 Millionen Wählerstimmen. Dies entsprach 13,1

Prozent. Durch den Einzug der HDP ins Parlament gelang es der Regierungs-
partei AKP nicht mehr, die absolute Mehrheit zu erringen. Die AKP ließ in

der Folge die Koalitionsverhandlungen scheitern. Für den 1. November 2015
sind Neuwahlen angesetzt. Erklärtes Ziel des türkischen Staatspräsidenten

Recep Tayyip Erdoğan ist, einen erneuten Einzug der HDP verhindern, um
eine verfassungsändernde Mehrheit für die AKP zu erreichen. Ziel dieser
Verfassungsänderung soll die Errichtung eines autoritären Präsidialsystems

in der Türkei sein.

3. Bei einem Attentat am 20. Juli 2015 in der südtürkischen Stadt Suruç an der
Grenze zu Syrien verloren 33 Menschen ihr Leben, die sich gerade für den

Drucksache 18/6335 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Wiederaufbau von Kobanê vorbereiteten. Mutmaßlicher Täter war ein An-

hänger des Islamischen Staates (IS) aus der Türkei, der ungehindert nach
Syrien und wieder zurück in die Türkei einreisen konnte, wo er den Anschlag

verübte. In der Folge wurden zwei Polizisten in der Türkei, die angeblich mit

dem IS zusammengearbeitet haben, getötet. Die PKK als Organisation be-
streitet die Täterschaft.

4. Am 23. Juli 2015 wurden türkische Soldaten an der Grenze zu Syrien durch

den IS angegriffen, wobei ein Soldat getötet wurde. Am 24. Juli 2015 startete
die türkische Armee die Luftangriffe in Syrien und im Nordirak. Doch führte

sie diese nicht nur gegen Stellungen des IS durch, sondern griff vor allem
gezielt die PKK an. Mehr als 400 Positionen sollen angegriffen worden sein.

Die PKK führte seitdem mehrere bewaffnete Aktionen gegen Armee- und

Sicherheitskräfte durch. Am 6. September 2015 kamen bei einem Angriff
auf einen Militärkonvoi nach Regierungsangaben 16 türkische Soldaten um,

am 8. September 2015 14 Polizisten.

II. Der Deutsche Bundestag erklärt:

1. Der Deutsche Bundestag missbilligt, dass die Türkei Waffen an islamistische
Terrormilizen, wie die Ahrar al-Sham und die Islamische Front, in Syrien

geliefert hat und weiterhin nicht auf eine politische Lösung in Syrien hinar-

beitet.

2. Der Deutsche Bundestag stellt mit größtem Bedauern fest, dass der türkische

Staatspräsident, Recep Tayyip Erdoğan, den Friedensprozess mit den
Kurdinnen und Kurden beendet hat. Die türkische Luftwaffe bombardiert
Stellungen der PKK im Norden des Irak. Bei diesen Angriffen sollen auch

eine Reihe von Zivilistinnen und Zivilisten getötet worden sein. Der Bun-
destag teilt die Auffassung der irakischen Regierung, die das türkische Vor-

gehen als Bruch des Völkerrechts verurteilt hat.

3. Der Deutsche Bundestag begrüßt die einseitige Waffenstillstandserklärung
der PKK vom 10.10.2015 und fordert die AKP-Regierung auf, ebenso den

Waffenstillstand zu erklären.

4. Der Deutsche Bundestag bringt seine Sorge darüber zum Ausdruck, dass die
Türkei an der Schwelle zu einem Bürgerkrieg steht. Seit der Beendigung des

Friedensprozesses haben sich die bewaffneten Auseinandersetzungen inner-
halb der Türkei verschärft. In zahlreichen Regionen (so in Varto, Semdinli,

Lice, Silvan, Yüksekova, Nusybin) im Südosten des Landes wurde der Aus-

nahmezustand ausgerufen. In etlichen Städten, wie in Cizre, und Stadtvier-
teln, wie Sur in Diyarbakir oder Nusybin galt bzw. gilt eine Ausgangssperre.

Zahlreiche Zivilisten wurden getötet. Das Vorgehen der türkischen Sicher-
heitskräfte kann massive Fluchtbewegungen auch nach Deutschland zur

Folge haben.

5. Der Deutsche Bundestag verurteilt die Welle rassistischer Gewalt gegen
Kurdinnen und Kurden, die von nationalistischen und islamistischen Kreisen

ausgeht und in deren Rahmen bereits mindestens ein Toter zu beklagen war

und Geschäfte in der Westtürkei zerstört wurden. Die Verantwortlichen der
Regierungspartei AKP unternehmen nichts, um der rassistischen Gewalt ge-

gen Kurdinnen und Kurden zu begegnen. Seit dem Attentat in Suruç hat die
türkische Regierung eine so genannte Anti-Terror-Kampagne gestartet und

im Zuge dessen mehr als 1000 Menschen festgenommen, mehrheitlich HDP-

Aktivisten und Vertreter von NGOs. Dutzende Webseiten und Twitter Ac-
counts wurden gesperrt, türkische und ausländische Journalisten wurden ver-

haftet.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6335

6. Der Deutsche Bundestag verurteilt die zunehmende Repression und Gewalt

gegen die Oppositionspartei HDP. Im Vorfeld der für den 1. November 2015
angesetzten türkischen Parlamentswahlen wurden hunderte Büros der HDP

von Schlägertrupps der AKP zerstört, zahlreiche Politiker der HDP wurden

unter Terrorismusverdacht festgenommen, gegen die Co-Vorsitzenden der
HDP wurden staatsanwaltliche Ermittlungen wegen Terrorismusverdacht

aufgenommen. Zudem wurden eine Reihe von gewählten Bürgermeisterin-

nen und Bürgermeistern unter dem Terrorismusvorwurf verhaftet oder ihres
Amtes enthoben, so in Diyarbakir Sur und Lice und in Cizre. Allein vom 6.

bis 8. September 2015 gab es über 300 Angriffe auf Büros, Geschäftsstellen,
einzelne Abgeordnete der HDP sowie kurdische Zivilpersonen.

7. Der Deutsche Bundestag nimmt mit Besorgnis zur Kenntnis, dass durch den

türkischen Staatspräsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, ein Klima der Angst
und der Einschüchterung gegenüber der Presse erzeugt wird. Dies reicht von

Anzeigen und Drohungen gegen unliebsame Journalisten, wie gegen den

Journalisten Can Dündar von der Zeitung Cumhuriyet bis hin zur Stürmung
von Zeitungsredaktionen durch der AKP nahestehende bewaffnete Schläger-

banden, wie im Falle der Zeitung Hürriyet geschehen.

8. Der Deutsche Bundestag nimmt besorgt den Entwurf des EU-Türkei Migra-

tionsplans, der eine enge Zusammenarbeit bei der Migrationsabwehr vor-

sieht, wie etwa gemeinsame Abschiebemaßnahmen und griechisch-türkische
Grenzpatrouillen, um Flüchtlinge in der Türkei zu halten, vom 6. Oktober

2015 zur Kenntnis. Dieser Plan wurde vom EU-Kommissionspräsidenten
Jean-Claude Juncker bereits dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip

Erdogan am 5. Oktober 2015 übermittelt.

9. Der Deutsche Bundestag ist in Angesicht der geschilderten Umstände be-
sorgt darüber, dass auf EU-Ebene darüber beraten wird, die Türkei als „si-

cheren Herkunftsstaat“ bzw. „sicheren Drittstaat“ einzustufen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich für eine internationale Untersuchungskommission unter Leitung der

Vereinten Nationen zum Terroranschlag in Ankara am 10. Oktober 2015 und
zu vorangegangenen Anschlägen auf Oppositionelle in der Türkei einzuset-

zen;

2. auf die türkische Regierung einzuwirken, ein Ende der Gewalt zu erklären

und den Friedensprozess mit der PKK wieder aufzunehmen, insbesondere

vor dem Hintergrund der aktuellen Waffenstillstandserklärung der PKK;

3. die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und den Bruch des Völker-

rechts durch die türkische Regierung zu verurteilen;

4. sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass die Türkei nicht als „sicherer Her-

kunftsstaat“ und nicht als „sicherer Drittstaat“ eingestuft wird;

5. den Export deutscher Rüstungsgüter in die Türkei zu unterbinden;

6. die polizeiliche, geheimdienstliche und militärische Zusammenarbeit mit der

Türkei aufzukündigen.

Berlin, den 13. Oktober 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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