BT-Drucksache 18/6332

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen 70 Jahre Vereinte Nationen

Vom 13. Oktober 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6332

18. Wahlperiode 13.10.2015

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, Dr. Alexander S. Neu,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm,
Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko, Katrin Kunert, Stefan Liebich,
Niema Movassat, Azize Tank, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
70 Jahre Vereinte Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Vor 70 Jahren, am 24. Oktober 1945, trat die Charta der Vereinten Nationen
(VN) in Kraft. Sie war zuvor auf der Konferenz von Jalta vollendet und im Juni
1945 in San Francisco von 50 Gründungsmitgliedern unterzeichnet worden.
Die VN wurden infolge des Zweiten Weltkrieges, der vom faschistischen
Deutschland begonnen worden war, gegründet. In diesem Krieg waren mehr als
75 Millionen Menschen gestorben. Er hatte in bislang beispiellosen Vernich-
tungsfeldzügen Deutschlands gegen die Sowjetunion und Japans gegen China
gegipfelt. Über 28 Millionen Menschen waren in der Sowjetunion, 20 Millio-
nen Menschen in China den Aggressoren zum Opfer gefallen. Dem rassisti-
schen Vernichtungswahn der deutschen Faschisten fielen über 6 Millionen jü-
dische Menschen zum Opfer. Die Gründung der VN richtete sich unmittelbar
gegen Angriffskriege und die faschistische Bedrohung. Sie sollte eine Plattform
bilden, um Frieden und Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte zu beför-
dern und die Eskalation möglicher künftiger Konflikte einzudämmen und da-
mit, so in der Charta: „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu
bewahren“.

2. Das 70-jährige Jubiläum der VN ist eine Chance, Bilanz zu ziehen und Überle-
gungen für eine demokratische und friedliche Reform der VN anzustellen. Von
vielen Gründungszielen sind die VN auch heute noch weit entfernt. Diese be-
treffen die Frage des Weltfriedens wie auch die Frage des sozialen Fortschritts,
dessen Beförderung ein erklärtes Ziel der VN bei ihrer Gründung war. Millio-
nen Menschen haben auch nach 1945 in Kriegen ihr Leben oder ihre Heimat
verloren. 60 Millionen Menschen befinden sich derzeit auf der Flucht vor Krieg
und Elend. 800 Millionen Menschen hungern und 1,2 Milliarden Menschen le-
ben in absoluter Armut.

3. Es bedarf auch einer Reform der VN selbst, um ihre Gründungsziele zu errei-
chen. Während die Kosten für VN-mandatierte Militärmissionen ständig gestie-
gen sind, fehlt es bei dem Welternährungsprogramm gerade im Hinblick auf

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die syrischen Flüchtlinge am nötigsten. Während in den VN in den letzten Jah-
ren immer neue Strukturen geschaffen wurden, die die Einsätze von VN-Mili-
tärmissionen logistisch unterstützen, fristen Organe wie der Wirtschafts- und
Sozialrat der VN (ECOSOC) weiterhin ein Schattendasein.

4. Der Versuch, anstelle einer demokratisch legitimierten Novellierung der VN-
Charta, neue Rechtsnormen vermeintlich über die Rechtsquelle und den Me-
chanismus des Völkergewohnheitsrechts, jedoch de facto unilateral zu etablie-
ren, schadet dem kodifizierten Völkerrecht und öffnet der Willkür Tür und Tor.
Das VN-System muss der sich neu herausbildenden multipolaren Weltordnung
Rechnung tragen. Eine umfassende institutionelle Demokratisierung ist unum-
gänglich.

5. In diesem Jubiläumsjahr der VN wurden die Entwicklungsziele der VN bis
2030, darunter die Beseitigung von Hunger und absoluter Armut und die Ver-
ringerung von Ungleichheit innerhalb der und zwischen den Gesellschaften,
beschlossen. Um diese Ziele zu erreichen, sind neue strukturelle Weichenstel-
lungen vonnöten. Während Fortschritte in der Armutsbekämpfung vor allem
auf Erfolge in der VR China sowie lateinamerikanischen Ländern (insb. Brasi-
lien, Venezuela, Bolivien, Ecuador) zurückzuführen sind, spitzt sich die welt-
weite Ungleichverteilung von Reichtum insgesamt zu: 1 Prozent der Weltbe-
völkerung besitzt so viel wie die übrigen 99 Prozent.

6. Die aktuellen Flüchtlingswanderungen sind auch durch die menschenunwür-
dige Lebenssituation vieler Flüchtlinge im Libanon, in Jordanien, in Griechen-
land und der Türkei verursacht, die auf die Unterfinanzierung der Hilfsorgani-
sationen zurückgeht. Das World Food Programme und der UNHCR sind dau-
erhaft unterfinanziert, wie auch fast alle anderen VN-Organisationen. Die Hilfe
für die syrischen Flüchtlinge im Libanon und in Jordanien musste bereits 2014
wegen massiven Geldmangels drastisch zurückgefahren werden, die Nahrungs-
mittel wurden mehrfach reduziert. Am 1. Dezember 2014 wurde die Lebens-
mittelhilfe für 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge im Libanon, in Jordanien und
in der Türkei ganz eingestellt. Die festen Beiträge der Regierungen, wenn sie
denn gezahlt werden, machen nur 20 Prozent des Gesamtbudgets der VN aus.
80 Prozent sind freiwillige Beiträge und diese gehen stetig zurück. So nehmen
durch die andauernde Unterfinanzierung der VN-Organisationen die Beiträge
privater Stiftungen und Organisationen zu, wie der Melinda und Bill Gates Stif-
tung oder der Impfallianz Gavi, und damit auch die politische Abhängigkeit
und Erpressbarkeit der VN-Programme von privaten Lobbyorganisationen. Das
steht dem unabhängigen und neutralen Charakter der VN diametral gegenüber.

7. Die weltweiten Militärausgaben haben die Rekordhöhe von 1.500 Mrd. Euro
pro Jahr erreicht. Die VN haben bislang auf eine Initiative, Rüstungsexporte,
die weltweit Tod, Elend und Flucht befördern, zu verbieten, verzichtet. Auch
der VN-Vertrag über den Handel von Waffen hat nicht zu einer Reduktion der
Rüstungsausgaben und der Rüstungsexporte geführt. Zugleich tritt die Ver-
wirklichung wesentlicher Ziele des Atomwaffensperrvertrags mit dem Ziel der
weltweiten Abschaffung von Atomwaffen auf der Stelle bzw. verzeichnet
Rückschritte. Neue Aufrüstungsprojekte, wie das so genannte NATO-Raketen-
schild oder die Militärdrohnentechnologie, werden aus der Taufe gehoben,
ohne dass die VN hier Anstrengungen unternimmt, ein neues Wettrüsten zu
verhindern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. anlässlich des 70-jährigen VN-Jubiläums eine Initiative für eine demokratische,
soziale und friedenspolitische VN-Reform anzustoßen;

http://www.stuttgarter-zeitung.de/thema/Fl%C3%BCchtlinge
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6332
2. eine Erweiterung des VN-Sicherheitsrats um Länder des Südens auf den Weg

zu bringen;

3. auf einen deutschen ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat zu verzichten und sich
gegen die Erweiterung der ständigen Mitglieder um weitere NATO- oder EU-
Mitglieder auszusprechen;

4. Reformvorstellungen für eine Aufwertung der VN-Generalversammlung auch
im Hinblick auf den VN-Sicherheitsrat zu entwickeln und diese international
einzufordern;

5. anzuregen, dass ein Normenkontrollgericht für die Verletzung völkerrechtli-
cher Normen auch durch VN-Institutionen selbst eingerichtet wird;

6. sich dafür einzusetzen, dass der ECOSOC zu einem Weltwirtschaftrat aufge-
wertet und mit Mitteln versehen wird, um Not und Elend, aber auch die unge-
rechte Armuts- und Reichtumsentwicklung wirksam bekämpfen sowie die Ver-
wirklichung der sozialen Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf Arbeit,
Wohnung und Gesundheit, weltweit gewährleisten zu können;

7. die deutschen Beiträge an das Welternährungsprogramm, an den UNHCR und
an das Entwicklungsprogramm der VN (UNDP) deutlich zu erhöhen;

8. das Fakultativprotokoll zum VN-Sozialpakt unverzüglich zu unterzeichnen und
dem Bundestag einen Gesetzentwurf zur Ratifizierung vorzulegen;

9. sich dafür einzusetzen, dass der Einfluss privater Akteure auf die VN zurück-
gedrängt wird und die Basisbeträge der Regierungen deutlich angehoben wer-
den, um mindestens 60 Prozent des Gesamtbudgets der VN sicherstellen zu
können, wobei die Errechnung auf Grundlage des Pro-Kopf-Einkommens der
Länder erfolgt;

10. sich für die Errichtung einer Kartellbehörde sowie einer Institution zur Be-
kämpfung von Steuerumgehung und Steuerhinterziehung einzusetzen;

11. sich dafür einzusetzen, dass die Ausgaben der VN für Militäreinsätze zugunsten
der Mittel für Hungerbekämpfung, friedlicher Konfliktbearbeitung und ziviler
Krisenprävention gesenkt werden;

12. in den VN eine globale Abrüstungsinitiative anzustoßen, in der für alle Mit-
gliedstaaten verbindliche Abrüstungsziele zugunsten menschlicher Entwick-
lung festgelegt werden;

13. sich für ein Regelwerk bei den VN einzusetzen, um den Handel mit Rüstungs-
gütern weltweit zu unterbinden, und neue Initiativen für Abrüstung und Kon-
version von Rüstungsproduktion anzustoßen;

14. eine neue Initiative zur weltweiten Beseitigung von Atomwaffen in Umsetzung
des Atomwaffensperrvertrages auf den Weg zu bringen;

15. sich dafür einzusetzen, dass Abrüstungsanstrengungen auch auf Militärpakte
erweitert werden mit dem Ziel, Organisationen wie die NATO, die mit Inter-
ventionskriegen Völkerrecht und VN-Charta verletzen, aufzulösen.

Berlin, den 13. Oktober 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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