BT-Drucksache 18/6297

Verfolgung von angeblichen Mitgliedern der Migrantenvereinigung ATIK

Vom 5. Oktober 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6297
18. Wahlperiode 05.10.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,

Eva Bulling-Schröter, Nicole Gohlke, Andrej Hunko, Harald Weinberg,

Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Verfolgung von angeblichen Mitgliedern der Migrantenvereinigung ATIK

Am 15. April 2015 wurden aufgrund von Haftbefehlen der Generalbundesanwalt-
schaft in Nürnberg sieben angebliche Mitglieder der Konföderation der Arbeiter
aus der Türkei in Europa (ATIK) durch das Bundeskriminalamt festgenommen.
Weitere fünf auf den Generalbundesanwalt (GBA) zurückgehende Haftbefehle
betrafen angebliche ATIK-Mitglieder in der Schweiz, Frankreich und Griechen-
land, deren Auslieferung von der deutschen Justiz beantragt wurde. Die Bundes-
anwaltschaft wirft den Beschuldigten vor, sich nach § 129b des Strafgesetzbuches
(StGB) als Mitglieder oder Rädelsführer an der „ausländischen terroristischen
Vereinigung“ Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/
ML) beteiligt zu haben, die in der Türkei „zahlreiche Schusswaffen-, Sprengstoff-
und Brandanschläge“ auch gemeinsam mit der Arbeiterpartei Kurdistans PKK
begangen habe (www.presseportal.de/blaulicht/pm/14981/2998218). Die TKP/
ML ist in Deutschland weder verboten, noch wird sie auf der EU-Terrorliste ge-
führt. ATIK ist eine in Deutschland in Form von eingetragenen Vereinen organi-
sierte Föderation von Migranten aus der Türkei, die schwerpunktmäßig in den
Bereichen Gewerkschaftstätigkeit, Antifaschismus und Exilpolitik tätig ist
(www.atik-online.net/deutsch/wer-ist-die-atik/).

Alle in Deutschland festgenommenen angeblichen ATIK-Mitglieder leben und
arbeiten nach Information der Fragesteller seit langer Zeit in Deutschland. Zuvor
waren mehrere von ihnen vor politischer Verfolgung und nach langjährigen Haft-
strafen aus der Türkei nach Deutschland geflohen, wo sie als Flüchtlinge aner-
kannt wurden. Die sieben Gefangenen wurden auf verschiedene Haftanstalten in
Bayern verteilt, wo sie nach Angaben ihrer Anwälte unter besonderen Isolations-
haftbedingungen zu leiden haben, die inzwischen zwar gelockert, aber nicht auf-
gehoben worden sind. So wird nach wie vor die Verteidigerpost kontrolliert. Ver-
teidigergespräche können nur mit Trennscheibe stattfinden. 23 Stunden am Tag
bleiben sie in ihren Zellen eingeschlossen, eine Stunde dürfen sie alleine zum
Hofgang. Aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse können sich einige der Inhaf-
tierten weder ausreichend artikulieren noch mit ihren Aufsehern oder anderen
Personen kommunizieren. Zumindest dem Gefangenen E. A. wurde mit Be-
schluss des Ermittlungsrichters am Bundesgerichtshof (BGH) vom 11. Au-
gust 2015 die Teilnahme an Freizeit- und Gemeinschaftsveranstaltungen sowie
die Arbeit in Gemeinschaft gestattet. Aufgrund von Erkrankungen unter anderem
in Folge der Hafterfahrungen in der Türkei brauchen einige der Gefangenen drin-
gend über die justizärztliche Versorgung hinausgehende medizinische Hilfe.

Drucksache 18/6297 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

 

Da der GBA bereits am 5. Dezember 2007 im Rahmen der Ermittlungen gegen
ATIK-Mitglieder wegen § 129b StGB dreizehn Objekte in mehreren Bundeslän-
dern durchsuchen ließ, läuft das Ermittlungsverfahren mindestens seit dem
Jahr 2007. Wie die Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 16/7802 angab,
erlangte sie Kenntnisse über die der TKP/ML angelasteten Anschläge „jeweils im
Wege des polizeilichen Informationsaustauschs“. Soweit Erkenntnisse der türki-
schen Sicherheitsbehörden Grundlage der Ermittlungen des GBA seien, bestehe
dort an deren Zuverlässigkeit keine Zweifel. Mittlerweile wurden zahlreiche zu-
vor führend mit Ermittlungen gegen (vermeintliche) terroristische Organisationen
befasste Juristen einschließlich der damaligen mit Sondervollmachten ausgestat-
teten Staatsanwälte sowie hochrangige mit der Terrorismusabwehr befasste Poli-
zeibeamte ihrer Posten enthoben. Viele dieser Juristen und Polizisten werden nun
ihrerseits angeklagt, Mitglieder einer gegen die AKP-Regierung gerichteten ter-
roristischen Vereinigung zu sein. Sie werden weiterhin der Fälschung von Bewei-
sen in Prozessen gegen Regierungskritikerinnen und Regierungskritiker sowie il-
legaler Abhörmaßnahmen beschuldigt. Ohne den Wahrheitsgehalt dieser Vor-
würfe beurteilen zu wollen, lassen diese nach Ansicht der Fragesteller dennoch
erhebliche Zweifel an der rechtsstaatlichen Zuverlässigkeit der türkischen Justiz-
und Polizeibehörden und der Zulässigkeit der von ihnen im Zuge des polizeili-
chen Informationsaustausches weitergegebenen Informationen zu Terrorismus-
verfahren in Deutschland aufkommen (www.taz.de/!5220264/; www.fr-online.
de/tuerkei/tuerkei-polizisten-gegen-polizisten,23356680,27996414.html; www.
welt.de/politik/ausland/article138982380/Terror-Blackout-und-Massenfreispruch
-an-einem-Tag.html; www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-wenn-der-wind-sich-
dreht-1.2611997).

Bei Ermittlungsverfahren nach § 129b StGB gegen außereuropäische „terroristi-
sche Vereinigungen im Ausland“ muss grundsätzlich das Bundesministerium der
Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) – nach Abstimmung mit anderen Re-
gierungsstellen – seine Ermächtigung geben. Nach Auffassung der Fragesteller,
aber auch von Juristen- und Bürgerrechtsvereinigungen handelt es sich dabei um
eine rechtsstaatlichen Prinzipien widersprechende Politisierung der Justiz. Auch
wenn es im Sinne der Gewaltenteilung nachvollziehbar ist, dass sich die Bundes-
regierung nicht zu laufenden Strafverfahren äußern kann und Angelegenheiten
des Justizvollzugs Länderangelegenheit sind, sehen die Fragesteller die Bundes-
regierung, die durch ihre Verfolgungsermächtigung dieses Verfahren gegen mut-
maßliche TKP/ML-Angehörige erst ermöglicht hat, in einer besonderen Verant-
wortung für das Wohl der Beschuldigten stehen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wann genau wurde von der Generalbundesanwaltschaft beim BMJV eine
Verfolgungsermächtigung nach § 129b StGB gegen die TKP/ML oder eine
nach Auffassung des GBA in ihr bestehende terroristische Vereinigung be-
antragt, und zu welchem Zeitpunkt wurde diese Ermächtigung erteilt?

2. Waren die TKP/ML und die Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee der Tür-
kei (TIKKO) nach Kenntnis der Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunkt
innerhalb der letzten zehn Jahre Thema bilateraler Gespräche deutscher und
türkischer Behörden oder internationaler Gremien etwa auf EU- oder
NATO-Ebene?

Wenn ja, wann und auf welcher Ebene wurde diese Thematik in welchem
Zusammenhang erörtert, und mit welchem Ergebnis?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6297

 

3. a) Gab es nach Kenntnis der Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunkt
schriftliche oder mündliche Ersuchen oder Bitten türkischer Regierungs-
stellen oder Behörden an die Bundesregierung oder bundesdeutsche Be-
hörden, strafrechtlich gegen die TKP/ML vorzugehen?

Wenn ja, zu welchem Zeitpunkt, von welcher türkischen Behörde und
mit welchem genauen Inhalt erfolgten diese Ersuchen oder Bitten wel-
chen deutschen Behörden gegenüber?

Wenn nein, aufgrund welcher Ereignisse oder Überlegungen oder Ersu-
chen anderer, auch internationaler Stellen oder Gremien (bitte benen-
nen), wurde nach Kenntnis der Bundesregierung von der GBA ein Er-
mittlungsverfahren gegen die TKP/ML als eine in Deutschland weder
verbotene noch auf der EU-Terrorliste genannte Organisation eingeleitet
(die Fragesteller gehen davon aus, dass die Bundesregierung als Erteile-
rin der Verfolgungsermächtigung nach § 129b StGB über diesbezügli-
ches Wissen über die Gründe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens
verfügt)?

b) Sind der Bundesregierung Ermittlungsverfahren nach § 129b StGB ge-
gen außereuropäische Vereinigungen bekannt, die sich in Deutschland
oder dem EU-Raum keiner Straftaten schuldig gemacht haben und be-
züglich derer auch kein Verfolgungsersuchen eines anderen Staates bei
deutschen Behörden vorlag?

Wenn ja, um welche Ermittlungsverfahren gegen welche Gruppierungen
handelt es sich, und warum wurden diese eingeleitet?

4. Welche genauen Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Geschichte,
Organisation, Mitgliedschaft und Ziele sowie die regionale Verbreitung der
TKP/ML und der TIKKO innerhalb und außerhalb der Türkei?

5. Für welche gewalttätigen Aktionen und Anschläge in der Türkei tragen die
TKP/ML bzw. die TIKKO nach Kenntnis der Bundesregierung die Verant-
wortung (bitte nach Art des Anschlages oder der Aktion, Ort und Zeitpunkt,
mögliche Opfer und mögliche Mittäterschaft weiterer Organisationen auf-
schlüsseln), und woher stammen die diesbezüglichen Kenntnisse der Bun-
desregierung?

6. Inwieweit und in welchem Umfang stützt sich das Wissen der Bundesregie-
rung über die TKP/ML und die ihr zur Last gelegten möglichen Straftaten
auf türkische Sicherheits- oder Justizbehörden, etwa über den Weg des po-
lizeilichen Informationsaustausches (bitte angeben, um welche türkischen
Behörden es sich gegebenenfalls handelt)?

7. Für wie zuverlässig hält die Bundesregierung generell die von türkischen
Behörden weitergereichten Erkenntnisse über die TKP/ML und andere von
türkischen Behörden als terroristisch eingeschätzte Gruppierungen ange-
sichts der Tatsache, dass inzwischen gegen zahlreiche türkische Justizbe-
amte, Staatsanwälte und Polizeibeamte, die in den vergangenen Jahren im
Bereich der Terrorismusbekämpfung tätig waren, wegen Mitgliedschaft in
einer staatsfeindlichen, kriminellen oder terroristischen Vereinigung ermit-
telt wird, während dutzende in den vergangenen Jahren unter Terrorismus-
vorwurf in den Verfahren Ergenekon und Balyoz inhaftierte Personen aus
der Haft entlassen wurden, die Fälschung von Beweisen in diesen Terroris-
musprozessen eingestanden wurde und die Urteile gegen die in diesen Ver-
fahren bereits verurteilten Personen wieder aufgehoben wurden (www.taz.
de/!5220264/; www.fr-online.de/tuerkei/tuerkei-polizisten-gegen-polizis
ten,23356680,27996414.html; www.welt.de/politik/ausland/article138982
380/Terror-Blackout-und-Massenfreispruch-an-einem-Tag.html; www.sued
deutsche.de/politik/tuerkei-wenn-der-wind-sich-dreht-1.2611997)?

Drucksache 18/6297 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

 

8. Wie viele und welche Auslieferungsersuchen türkischer Justizbehörden be-
züglich der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden mutmaßlichen
Mitglieder oder ehemaligen Mitglieder der TKP/ML sind der Bundesregie-
rung bekannt?

9. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über den Umgang türkischer Si-
cherheitskräfte und Justizbehörden mit der TKP/ML?

Inwieweit hat sie Kenntnisse über mögliche extralegale Hinrichtungen, Fol-
terungen und Misshandlungen im Zusammenhang mit Festnahmen, Verhö-
ren oder in Haft?

10. In welchen anderen europäischen Staaten wurden oder werden nach Kennt-
nis der Bundesregierung einschlägige Strafverfahren gegen TKP/ML-Mit-
glieder geführt?

11. a) Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass sie auf-
grund der von ihr erteilten Verfolgungsermächtigung nach § 129b StGB
eine besondere Verantwortung für das Wohl der Beschuldigten hat?

Wenn ja, für wie legitim hält die Bundesregierung dann die Verhängung
besonderer Isolationshaftbedingungen gegen die in bayerischen Justiz-
vollzugsanstalten in Untersuchungshaft sitzenden Beschuldigten?

b) Wie werden nach Kenntnis der Bundesregierung die nach Information
der Fragesteller verhängten besonderen Isolationshaftbedingungen in der
Untersuchungshaft – einschließlich Kontrolle der Verteidigerpost und
Trennscheibe bei Verteidigerbesuchen – begründet?

12. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über den Stand der Ausliefe-
rungsverfahren der aufgrund von Haftbefehlen des GBA in der Schweiz,
Frankreich und Griechenland festgenommenen mutmaßlichen TKP/ML-
Mitglieder?

13. Welche Proteste auf nationaler und internationaler Ebene gegen die Fest-
nahme und Inhaftierung von angeblichen ATIK-Mitgliedern von welchen
Organisationen, Verbänden und Persönlichkeiten sind der Bundesregierung
bekannt geworden?

Berlin, den 2. Oktober 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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