BT-Drucksache 18/6262

Möglichkeit der Entkriminalisierung von Flüchtlingen durch Änderung des Aufenthaltsgesetzes

Vom 30. September 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6262
18. Wahlperiode 30.09.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Martina Renner, Dr. Petra Sitte,
Kersten Steinke, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Möglichkeit zur Entkriminalisierung von Flüchtlingen durch Änderung des
Aufenthaltsgesetzes

Die Koalition aus CDU, CSU und SPD beschloss Anfang September 2015 die
Einstellung von 3 000 neuen Bundespolizistinnen und Bundespolizisten. Dieser
Beschluss erfolgte unter Bezugnahme auf die steigenden Flüchtlingszahlen. Aus
Sicht der Fragesteller muss allerdings geprüft werden, inwiefern ausgerechnet Tä-
tigkeiten im Zusammenhang mit Flucht- und Migrationsbewegungen eine Ver-
stärkung der Bundespolizei legitimieren.

Die Fragesteller beziehen sich vor allem auf gesetzliche Regelungen, die nur bzw.
vorrangig auf Flüchtlinge zutreffen, die wegen häufig unvermeidlicher Verhal-
tensweisen kriminalisiert werden. Hierzu gehört vor allem § 95 des Aufenthalts-
gesetzes (AufenthG), der die unerlaubte Einreise (ohne Reisepass bzw. Visum)
als Straftatbestand definiert und mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht.

Unter der Überschrift „Entkriminalisierung von Flüchtlingen“ hat der Bund Deut-
scher Kriminalbeamter (BDK) Ende August 2015 ein Thesenpapier vorgestellt,
welches zum Schluss kommt, „dass eine Kriminalisierung von Flüchtlingen in
keiner Weise förderlich sein kann.“ Bezug genommen wird dabei auf den Um-
stand, dass sämtliche unerlaubte Einreisen im Sinne von § 95 AufenthG von der
Polizei entsprechend zu bearbeiten seien. „Dies ist nicht nur enorm zeitaufwendig
und personalbindend, sondern erscheint unter Berücksichtigung des Mangels an
legalen Einreisemöglichkeiten widersprüchlich“. Denn die Strafverfahren wer-
den, sobald der Beschuldigte einen Asylantrag gestellt hat, in aller Regel einge-
stellt. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Flüchtlinge gemäß der
Genfer Flüchtlingskonvention nicht wegen unerlaubter Einreise strafrechtlich
verfolgt werden dürfen. Aus Sicht des BDK kann die kriminalpolizeiliche Zu-
ständigkeit „nicht zweifelsfrei begründet werden“; stattdessen erschienen die
Straftaten „als kaum vermeidbare Ordnungswidrigkeiten.“ Auch die Gewerk-
schaft der Polizei stellt in einem Positionspapier vom September 2015 die Frage,
ob der Ermittlungs- und Verwaltungsaufwand bei einem Delikt, das „so gut wie
nie geahndet wird, aber hunderttausendfach als Massendelikt auftritt, überhaupt
noch vertretbar und vor allem notwendig ist“, und empfiehlt die Einstufung der
unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts als Ordnungswidrigkeit.

Nach Angaben der Bundespolizei (Pressemitteilung vom 15. Juli 2015) hat es bis
Juli 2015 insgesamt 64 500 unerlaubte Einreisen in die Bundesrepublik Deutsch-
land gegeben. Die Bundespolizei führt aus, dass sie in diesen Fällen „erkennungs-
dienstliche Maßnahmen nach den gesetzlichen Vorgaben“ durchführe, „erforder-
lichenfalls mit Unterstützung anderer Behörden. Dabei wird sichergestellt, dass
alle Asylsuchenden erfasst und registriert werden. So erfolgt in allen Fällen ein

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Fingerabdruckabgleich mit den polizeilichen Beständen und die Anfertigung ei-
nes Lichtbildes.“

Neben dem personellen Aufwand führt die Bundespolizei auch einen erheblichen
technischen und logistischen Aufwand an, wobei sich aus der Presseerklärung
nicht ergibt, zu welchem Anteil dieser Aufwand für die Führung von Ermittlungs-
verfahren bzw. die Erstversorgung und Aufnahme der Flüchtlinge erfolgt. Jeden-
falls stellt sich die Frage, ob an der Praxis, bei Zehntausenden Flüchtlingen ein
Strafverfahren einzuleiten, das in aller Regel wieder eingestellt wird, festgehalten
werden muss oder ob hier nicht durch eine Änderung des Aufenthaltsgesetzes
sowohl eine Entkriminalisierung von Flüchtlingen als auch eine Entlastung der
Polizei erreicht werden könnte.

Wir fragen die Bundesregierung:

Wie viele unerlaubte Einreisen sind bislang im Jahr 2015 von der Bundespo-
lizei festgestellt worden?

Wie viele unerlaubte Einreisen sind nach Kenntnis der Bundesregierung von
den Polizeien der Länder bzw. ggf. anderen zuständigen Behörden festge-
stellt worden?

Wie viele Straf- bzw. Ermittlungsverfahren wegen unerlaubter Einreise sind
nach Kenntnis der Bundesregierung bis jetzt im Jahr 2015 eingeleitet worden
(bitte soweit möglich nach Bundespolizei und Länderpolizeien aufgliedern)?

Bei wie vielen von den 57 000 im Jahr 2014 festgestellten unerlaubten Ein-
reisen (www.bundespolizei.de vom 13. Juli 2015 „Jahresbericht der Bundes-
polizei 2014“) sind nach Kenntnis der Bundesregierung Ermittlungsverfah-
ren eingeleitet und zwischenzeitlich eingestellt worden?

Welche Angaben kann die Bundesregierung zu den Gründen machen, die zur
Einstellung führten, und welche Angaben dazu, in welchen Fällen für ge-
wöhnlich das Ermittlungsverfahren weitergeführt wird?

Welche erkennungsdienstlichen Maßnahmen werden nach Kenntnis der
Bundesregierung regelmäßig durchgeführt, wenn eine Person der unerlaub-
ten Einreise verdächtigt wird?

Wie häufig wurden nach Kenntnis der Bundesregierung welche erkennungs-
dienstlichen Maßnahmen im Jahr 2014 und bislang im Jahr 2015 jeweils
durchgeführt?

Welche Angaben kann die Bundesregierung zur Zahl der Strafbefehle bzw.
Verurteilungen wegen unerlaubter Einreise in der Vergangenheit machen
(bitte jeweils für die Jahre 2011 bis 2014 angeben)?

Welche Angaben kann die Bundesregierung zum Aufwand machen, den die
Bundespolizei und die Polizeien der Länder sowie die Staatsanwaltschaften
durchschnittlich im Zusammenhang mit der Einleitung bzw. Führung eines
Ermittlungsverfahrens haben, hinsichtlich

a) der aufgewendeten Zeit,

b) des Einsatzes von Personal,

c) des Einsatzes von Technik und Logistik?

Welche Kosten sind der Bundespolizei und, soweit die Bundesregierung da-
von Kenntnis hat, den Polizeien der Länder sowie den Staatsanwaltschaften
im Zusammenhang mit der Einleitung bzw. Führung von Ermittlungsverfah-
ren wegen unerlaubter Einreise im Jahr 2014 sowie bislang im Jahr 2015
entstanden?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6262

Inwiefern werden anlässlich der Feststellung einer unerlaubten Einreise nach
Kenntnis der Bundesregierung andere Behörden um Unterstützung ersucht,
und welche Kosten entstehen bei diesen Behörden dadurch?

Wird nach Kenntnis der Bundesregierung auch bei Flüchtlingen, die gegen-
wärtig etwa mit (Sonder-)Zügen an die österreichisch-deutsche Grenze ge-
bracht werden, ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubter Einreise einge-
leitet, wenn sie keinen Reisepass bzw. kein Visum haben, und wenn nicht,
aufgrund welcher Überlegungen wird dies unterlassen?

Wie beurteilt die Bundesregierung die Notwendigkeit, die unerlaubte Ein-
reise weiterhin als Straftat zu verfolgen?

a) Welche Initiativen will sie ergreifen, um unerlaubte Einreise künftig als
Ordnungswidrigkeit einzustufen oder sie gänzlich zu entkriminalisieren?

b) Welche weiteren Schlussfolgerungen zieht sie aus den bisherigen Erfah-
rungen im Zusammenhang mit Ermittlungsverfahren wegen unerlaubter
Einreise?

Inwiefern teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Präsidenten der
Bundespolizei, der in der Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bun-
destages vom 23. September 2015 gesagt hatte, Artikel 31 Absatz 1 der Gen-
fer Flüchtlingskonvention schütze Flüchtlinge nur bei unmittelbarer Einreise
aus einem Herkunftsland vor der Strafverfolgung, nicht aber beispielsweise
Syrer, deren Fluchtweg durch mehrere Drittstaaten führe, vor dem Hinter-
grund ihrer Antwort auf die Mündliche Frage der Abgeordneten Ulla Jelpke
(Plenarprotokoll 18/114), der Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung liege
grundsätzlich auch dann vor, wenn Flüchtlinge über einen Drittstaat einrei-
sen?

a) Wie bewertet die Bundesregierung die Diskrepanz der Aussagen?

b) Was will sie unternehmen, um den Präsidenten der Bundespolizei über
ihre Rechtsauffassung zu unterrichten?

Wie hoch ist die personelle Mehrbelastung durch die derzeitige Wiederein-
führung von Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze?

Welche zusätzlichen Kosten entstehen hierdurch?

Wie gestalten sich nach Kenntnis der Bundesregierung die in den Bundes-
ländern unterschiedlichen Verfahrensabläufe der polizeilichen Arbeit bei un-
erlaubter Einreise bzw. unerlaubtem Aufenthalt, und welche Probleme ver-
ursacht dies für die polizeiliche Arbeit?

Inwiefern hält sie eine Vereinheitlichung der Verfahrensabläufe für sinnvoll,
und welche Maßnahmen ergreift sie ggf. hierzu?

Wie viele illegale Einreisen konnten durch den Einsatz von Dokumenten-
und Visumberatern im Ausland im Jahr 2015 bislang verhindert werden?

Wie beurteilt die Bundesregierung die Angemessenheit der Verhinderung
der Einreise auf dem Luftweg etwa von syrischen Bürgern, weil diese keinen
Reisepass bzw. kein Visum haben, angesichts des Elends in den Flüchtlings-
lagern und der Tatsache, dass syrische Flüchtlinge zu fast 100 Prozent einen
Flüchtlingsschutz in Deutschland erhalten?

Welchen über die Flüchtlingsthematik hinausgehenden Bedarf sieht das Bun-
desministerium des Innern für die Neueinstellung von 3 000 Bundespolizis-
tinnen und Bundespolizisten (www.bundespolizei.de, Pressemitteilung vom
7. September 2015)?

Drucksache 18/6262 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Wie viele Strafverfahren wegen Verletzung der Residenzpflicht sind nach
Kenntnis der Bundesregierung im Jahr 2014 sowie bislang im Jahr 2015 ein-
geleitet worden?

Wie viele der im Jahr 2014 eingeleiteten Verfahren sind wieder eingestellt
worden?

Welche Angaben kann die Bundesregierung zum Aufwand machen, den die
Bundespolizei und, soweit sie davon Kenntnis hat, die Polizeien der Länder
durchschnittlich in Zusammenhang mit Verfahren wegen Verstoßes gegen
die Residenzpflicht haben hinsichtlich

a) der aufgewendeten Zeit,

b) des Einsatzes von Personal,

c) des Einsatzes von Technik und Logistik?

Wie beurteilt die Bundesregierung angesichts der Personalsituation bei den
Polizeien von Bund und Ländern die Notwendigkeit, an der Strafverfolgung
wegen des Verstoßes gegen die Residenzpflicht festzuhalten, bzw. inwiefern
will sie sich für eine Entkriminalisierung von Reisebewegungen aller Flücht-
linge in Deutschland einsetzen?

Berlin, den 29. September 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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