BT-Drucksache 18/6154

Kurdenfeindliche Proteste und Gewalttaten in Deutschland

Vom 24. September 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6154
18. Wahlperiode 24.09.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,

Sevim Dagdelen, Andrej Hunko, Niema Movassat, Martina Renner und der

Fraktion DIE LINKE.

Kurdenfeindliche Proteste und Gewalttaten in Deutschland

Parallel zu einer erneuten Eskalation des Krieges zwischen dem türkischen Staat
und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Überfällen nationalistischer Mobs
auf Büros der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Tür-
kei kam es in Deutschland in der zweiten Septemberwoche 2015 zu einer Welle
türkisch-nationalistischer Proteste. Vorgeblich richteten sich die Aufzüge, an de-
nen sich Anhängerinnen und Anhänger der religiös-nationalistischen türkischen
Regierungspartei Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Präsident
Recep Tayyip Erdoğan, der rechtsextremen Grauen Wölfe und kemalistisch-nati-
onalistischer Gruppierungen, wie dem Türkischen Jugendbund (TGB), beteilig-
ten, gegen Anschläge der PKK und eine angeblich drohende Teilung der Türkei.
Auf einigen dieser Kundgebungen wurden jedoch Hassparolen und allgemein To-
desdrohungen gegen Kurden gerufen. Im Anschluss an mehreren Demonstratio-
nen erfolgten zudem gewaltsame Übergriffe auf Kurdinnen und Kurden. In Han-
nover wurde so ein 26-jähriger kurdischer Flüchtling aus Syrien von einem Teil-
nehmer einer türkisch-nationalistischen Kundgebung mit einem Messerstich in
den Hals lebensgefährlich verletzt. In Berlin griffen mehrere Dutzend türkische
Nationalisten nach einer Kundgebung einen Informationsstand der prokurdischen
Demokratischen Partei der Völker (HDP) in einem anderen Stadtteil mit Steinen
und Flaschenwürfen an. Zu Auseinandersetzungen zwischen türkischen Nationa-
listen sowie Anhängern kurdischer und linker Gruppierungen kam es auch in
Hamburg und Essen. Im schweizerischen Bern wurden mehrere Menschen zum
Teil schwer verletzt, als ein Autofahrer sein Fahrzeug in eine Gruppe kurdischer
Demonstrantinnen und Demonstranten steuerte (www.vice.com/de/read/in-han-
nover-wurde-ein-kurde-von-tuerkischen-nationalisten-niedergestochen-332;
http://lowerclassmag.com/2015/09/sie-wollen-kurden-toeten/#more-2656).

„Ermutigt von einer regelrechten Lynchatmosphäre gegen Kurden und Oppositi-
onelle in der Türkei häufen sich nun auch vermehrt Angriffe dieser Art in Eu-
ropa“, beklagt das Demokratische Gesellschaftszentrum der Kurdinnen und Kur-
den in Deutschland Nav-Dem als Dachverband kurdischer Vereine und Verbände
(www.jungewelt.de/2015/09-15/048.php). So hatte der türkische Präsident Recep
Tayyip Erdoğan die HDP für die Gewalt im Lande verantwortlich gemacht, da
sie eine absolute und verfassungsändernde Mehrheit der AKP verhindert habe.
Die AKP-nahe Tageszeitung Yeni Safak bezeichnete den HDP-Co-Vorsitzenden
Selahattin Demirtas als „Mörder“ (www.welt.de/politik/ausland/article
146168334/Die-Tuerkei-droht-in-Gewalt-und-Hass-zu-versinken.html).

Drucksache 18/6154 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele und welche türkisch-nationalistischen Aufzüge fanden nach
Kenntnis der Bundesregierung seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe zwi-
schen der türkischen Armee und der Arbeiterpartei Kurdistans seit Ende
Juli 2015 wann und in welchen Städten in der Bundesrepublik Deutschland
statt?

a) Welche Personen oder Organisationen aus welchen politischen Spektren wa-
ren jeweils die Anmelderinnen und Anmelder?

b) Wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus welchen politischen Spek-
tren beteiligten sich jeweils in welcher ungefähren Stärke an diesen Aufzü-
gen (z. B. Anhängerinnen und Anhänger von Erdoğan und der AKP bzw.
von deren Auslandsorganisation UETD, Graue Wölfe bzw. Ülcücü-Bewe-
gung, Atatürk-Anhängerinnen und Anhänger, religiöse Kräfte)?

c) Welche der an den Aufzügen beteiligten Gruppierungen oder politischen
Strömungen stuft die Bundesregierung als extremistisch oder gewaltbereit
ein?

d) Wie erfolgte nach Kenntnis der Bundesrepublik Deutschland die Mobilisie-
rung für diese Aufzüge (z. B. Presse, Fernsehen, soziale Netzwerke)?

e) Liegen der Bundesregierung Hinweise auf eine zentrale Koordination der
Aufzüge in verschiedenen Städten vor, und wenn ja, durch wen werden sie
koordiniert?

f) Inwieweit gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung eine Einflussnahme
durch türkische Konsulate auf die Proteste in Deutschland?

g) In welchen einzelnen Fällen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung aus
welchen Gründen entsprechende Aufzüge türkisch-nationalistischer Grup-
pierungen verboten?

h) Was waren nach Kenntnis der Bundesregierung die zentralen Parolen, Aus-
sagen und Symbole in Reden und Aufrufen, auf Plakaten und Transparenten,
in Sprechchören, auf Fahnen oder als Handzeichen bei diesen Aufzügen?

i) Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über kurdenfeindliche Hassparo-
len sowie Aufrufe zu Gewalttaten gegen Kurdinnen und Kurden im Allge-
meinen oder PKK-Anhängerinnen und -Anhänger im Besonderen durch
Rednerinnen und Redner oder Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Auf-
züge, und wie reagierten die Veranstalterinnen und Veranstalter sowie die
anderen Aufzugteilnehmerinnen und -teilnehmer jeweils auf solche Parolen?

j) Inwieweit sind entsprechende Hassparolen bei Aufzügen türkischer Natio-
nalistinnen und Nationalisten nach Ansicht der Bundesregierung dazu geeig-
net, den öffentlichen Frieden und das friedliche Zusammenleben der Völker
zu stören?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6154

2. Wie viele und welche gewaltsamen Übergriffe von Personen aus dem tür-
kisch-nationalistischen Spektrum fanden nach Kenntnis der Bundesregie-
rung im Zusammenhang mit dem Krieg in der Türkei seit dem Wiederauf-
flammen der Kämpfe Ende August 2015 wann und in welchen Städten in der
Bundesrepublik Deutschland statt?

a) Von wem gingen diese Übergriffe aus, und gegen wen richteten sie sich?

b) In wie vielen und welchen Fällen wurden dabei welche Personen wie schwer
verletzt?

c) In welchen Fällen erfolgten solche Gewalttaten im Zusammenhang mit oder
im Anschluss an türkisch-nationalistische Aufzüge, und inwieweit sieht die
Bundesregierung einen Zusammenhang zwischen solchen Gewalttaten und
vorangegangenen Hassreden oder Hassparolen auf Kundgebungen und De-
monstrationen?

d) Inwieweit sieht die Bundesregierung einen Zusammenhang zwischen sol-
chen gewaltsamen Übergriffen in der Bundesrepublik Deutschland und dem
Vorgehen der türkischen Regierungspartei AKP sowie des türkischen Präsi-
denten Recep Tayyip Erdoğan gegen die prokurdische HDP?

3. Welche Reaktionen aus dem in Verbänden organisierten und dem als Jugend-
bewegung existierenden unorganisierten Spektrum der Grauen Wölfe
(Ülcücü) in Deutschland auf das Wiederaufflammen des Krieges zwischen
der türkischen Armee und der PKK in der Türkei sind der Bundesregierung
bekannt geworden?

a) Inwieweit haben sich organisierte und unorganisierte Anhängerinnen und
Anhänger der Grauen Wölfe seit Beginn der neuen Kämpfe in der Türkei an
Demonstrationen und Kundgebungen in der Bundesrepublik Deutschland
beteiligt oder diese organisiert?

b) Inwieweit haben sich organisierte und unorganisierte Anhängerinnen und
Anhänger der Grauen Wölfe seit Beginn der neuen Kämpfe in der Türkei an
Gewalttaten gegen Kurdinnen und Kurden oder politische Gegnerinnen und
Gegner in der Bundesrepublik Deutschland beteiligt?

c) Inwieweit wird aus dem Spektrum der Grauen Wölfe in Deutschland über
soziale Netzwerke zu Gewalt gegen Kurdinnen und Kurden aufgerufen?

4. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Gruppierung Os-
manli Ocaklari (Osmanen Heime) in der Türkei und deren mögliche Aktivi-
täten in Deutschland?

a) In welchem Verhältnis stehen die Osmanli Ocaklari nach Kenntnis der Bun-
desregierung zur AKP und zu Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan?

b) In welchem Verhältnis stehen die Osmanli Ocaklari nach Kenntnis der Bun-
desregierung zu den Grauen Wölfen (Ülcücü-Bewegung einschließlich der
Partei der Nationalistischen Bewegung, MHP, und der Großen Einheitspar-
tei, BBP, und ihren jeweiligen Jugendorganistionen sowie den ihnen nahe-
stehenden Vereinsföderationen in der Bundesrepublik Deutschland)?

c) Welche Rolle spielten die Osmanil Ocaklari nach Kenntnis der Bundesre-
gierung bei den türkeiweiten Überfällen auf Büros der HDP sowie die Re-
daktion der Zeitung Hürriyet in Istanbul im September 2015?

Drucksache 18/6154 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

5. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Gruppierung Türkiye
Genclik Birligi (TGB bzw. Türkischer Jugendbund) in der Türkei und dessen
Aktivitäten in Deutschland?

a) Inwieweit sind der Bundesregierung kurdenfeindliche Äußerungen von Mit-
gliedern oder Funktionärinnen und Funktionären des TGB bekannt?

b) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Gewalttaten von TGB-
Mitgliedern gegen Kurdinnen und Kurden oder politische Gegnerinnen und
Gegner in der Türkei und in der Bundesrepublik Deutschland?

c) Inwieweit sind der Bundesregierung Bestrebungen der TGB bekannt, die
von vielen Wissenschaftlern aber auch dem Bundespräsidenten und Bundes-
tagspräsidenten als Genozid eingestuften Massaker und Vertreibungen an
den Armenierinnen und Armeniern im ersten Weltkrieg zu leugnen oder zu
relativieren?

d) In welchem Verhältnis steht der TGB nach Kenntnis der Bundesregierung
zu politischen Strömungen und Organisationen aus dem Lager der Grauen
Wölfe (Ülcücü), und inwieweit gibt es hier eine Kooperation etwa bei De-
monstrationen und Veranstaltungen?

e) In welchem Verhältnis steht der TGB nach Kenntnis der Bundesregierung
zur türkischen Regierungspartei AKP und ihrer Auslandsorganisation
UETD, und inwieweit gibt es hier eine Kooperation etwa bei Demonstratio-
nen und Veranstaltungen?

6. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über eine Welle von Anschlä-
gen und Übergriffen auf rund 300 Büros der HDP, Zeitungsredaktionen so-
wie Wohnungen und Geschäfte von Kurdinnen und Kurden im Septem-
ber 2015 in der Türkei?

a) Welcher Schaden wurde durch die Übergriffe angerichtet, und wie viele Ver-
letzte oder Tote waren zu beklagen?

b) Was war der Auslöser dieser Übergriffe?

c) Welche Gruppierungen bzw. Anhängerinnen und Anhänger welcher Par-
teien und Organisationen oder politischen Strömungen waren nach Kenntnis
der Bundesregierung an den Übergriffen beteiligt?

d) Inwieweit hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob diese Angriffe
auch oder sogar überwiegend von Anhängerinnen und Anhängern der Re-
gierungspartei AKP und des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ver-
übt wurden?

e) Gab es nach Kenntnis der Bundesregierung eine zentrale Steuerung dieser
Übergriffe, und wenn ja, durch wen oder welche Gruppierung?

f) Welche Reaktionen türkischer Regierungs- und Oppositionspolitikerinnen
und -politiker auf diese Übergriffe sind der Bundesregierung bekannt?

g) Inwieweit und in welcher Form und mit welchem Inhalt hat die Bundesre-
gierung die Angriffe auf HDP-Büros und Zeitungsredaktionen gegenüber
der türkischen Regierung bislang thematisiert?

h) Inwieweit sieht die Bundesregierung in den Angriffen auf HDP-Büros und
Zeitungsredaktionen sowie den damit in Zusammenhang stehenden Äuße-
rungen türkischer Regierungspolitiker eine Ermutigung türkischer Nationa-
listinnen und Nationalisten, auch in Deutschland gewalttätig gegen Kurdin-
nen und Kurden oder politische Gegnerinnen und Gegner vorzugehen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/6154

i) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung bezüglich der An-
griffe auf HDP-Büros und Zeitungsredaktionen in der Türkei sowie die da-
mit im Zusammenhang stehenden Äußerungen türkischer Regierungspoliti-
ker?

Berlin, den 23. September 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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