BT-Drucksache 18/6083

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zu den Ergebnissen des Informellen Treffens der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am 23. September 2015 in Brüssel und zum VN-Gipfel für Nachhaltige Entwicklung vom 25. bis 27. September 2015 in New York

Vom 22. September 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6083
18. Wahlperiode 22.09.2015

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Heike Hänsel, Niema Movassat, Birgit Menz, Wolfgang

Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, Dr. Diether
Dehm, Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko, Katrin Kunert, Stefan

Liebich, Dr. Alexander S. Neu, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

zu den Ergebnissen des Informellen Treffens der Staats- und

Regierungschefs der Europäischen Union am 23. September 2015

in Brüssel und zum VN-Gipfel für Nachhaltige Entwicklung vom

25. bis 27. September 2015 in New York

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In diesem Jahr feiern die Vereinten Nationen (VN) das 70. Jubiläum ihres Beste-
hens. Am 24. Oktober 1945 trat die Charta der VN in Kraft. Sie war zuvor auf der
Konferenz von Jalta vollendet und im Juni 1945 in San Francisco von 50 Grün-
dungsmitgliedern unterzeichnet worden. Die Charta der VN entstand über mehrere
Etappen während des Zweiten Weltkriegs. Sie sollte die Antwort auf die Schrecken
der zwei Weltkriege sein und „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges
[zu] bewahren“. Der Bundestag würdigt diesen Anlass. Zugleich bringt der Bun-
destag seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass die Bundesregierung den
70. Jahrestag des Bestehens der VN nicht mit einer eigenen offiziellen Feier begeht.

Die VN haben sich um die Verständigung zwischen den Völkern verdient gemacht.
Sie sind das Forum, auf dem sich alle 193 Staaten miteinander ins Benehmen setzen
können und damit die Alternative zu selbstmandatierten elitären Zusammenkünften
wie die G7 oder das Weltwirtschaftsforum. Die VN haben in vielen Krisensituati-
onen vermittelt, Frieden bewahrt oder wieder hergestellt. In anderen Fällen schei-
terten sie an den politischen und ökonomischen Machtverhältnissen, die sich auch
in ihrer inneren Verfasstheit widerspiegeln.

Der Krieg wurde in den vergangenen Jahren nicht von der Erde verbannt. In be-
waffneten Auseinandersetzungen starben seit der Gründung der VN Millionen
Menschen. Unzählige verloren ihre Heimat. Derzeit befinden sich weltweit 60 Mil-
lionen Menschen auf der Flucht. Sie fliehen vor Krieg oder Bürgerkrieg, vor bitte-
rer Armut und Perspektivlosigkeit. Die meisten Fluchtbewegungen vollziehen sich
in den Ländern des Südens. Doch immer mehr Menschen fliehen nach oder inner-
halb von Europa.

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Die Industrieländer tragen Verantwortung für die Umstände, die diese Menschen
zur Flucht zwingen. Die aggressive Regime-Change-Politik gegenüber Syrien, Irak
und Libyen, der Krieg in Afghanistan und der sogenannte „Krieg gegen den Terror“
mit Drohneneinsätzen in Pakistan und im Jemen haben eine ganze Großregion de-
stabilisiert. Rüstungsexporte, auch in Krisengebiete – etwa nach Saudi-Arabien, in
die Türkei oder nach Afrika –, heizen Konflikte an. Die bestehende Weltwirt-
schaftsordnung verhindert in vielen Ländern des Südens, dass sich die Menschen
selbstbestimmt wirtschaftliche Perspektiven schaffen können. Diese Wirtschafts-
ordnung wird gegenwärtig durch Freihandelsabkommen noch vertieft. Die Exis-
tenzgrundlagen von Kleinbauern und anderen lokalen Produzenten werden dadurch
gefährdet.

Vor diesem Hintergrund verabschiedet die Generalversammlung der VN vom 25.-
27. September 2015 die Nachhaltigen Entwicklungsziele (sustainable development
goals, SDGs) für den Zeitraum bis 2030. Der Bundestag begrüßt das Zustandekom-
men des Zielkatalogs als Ausweis dafür, dass internationale Verhandlungen im
Rahmen der VN erfolgreich geführt werden können. Insbesondere würdigt der
Bundestag, dass sich die Länder des Südens im vorangegangenen Diskussionspro-
zess vernehmbarer artikulieren konnten, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Der Bundestag begrüßt ebenfalls, dass die SDGs einen universellen Anspruch for-
mulieren, die Ziele also für alle Staaten gelten und sich nicht nur an die Länder des
Südens richten, wie bei den Millenniumsentwicklungszielen, den millennium de-
velopment goals (MDGs), deren Laufzeit 2015 endet.

Der Bundestag nimmt besonders positiv Bezug auf das übergeordnete Ziel, bis
2030 alle Menschen von extremer Armut zu befreien, die Zahl der in Armut Le-
benden um die Hälfte zu verringern und den Hunger zu beseitigen. Die SDGs spre-
chen im Gegensatz zu dem MDGs auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingun-
gen von Entwicklung an. So fordern sie u. a. den allgemeinen Zugang zu wirtschaft-
lichen Ressourcen und grundlegender Daseinsvorsorge, die Förderung von Klein-
produzenten, darunter insbesondere von Frauen und Indigenen, Kleinbauern, Hir-
ten und Fischern, die Beseitigung von Agrarexportsubventionen, die Herstellung
von menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, Ressourceneffizienz in Produktion
und Konsum, die Entkoppelung von Wachstum und Umweltzerstörung, Infrastruk-
turausbau und Industrialisierung in den Entwicklungsländern, den Transfer von
Technologie, insbesondere im Bereich des Umweltschutzes, und den Abbau von
Ungleichheit zwischen den und innerhalb der Gesellschaften, z. B. durch Verrin-
gerung von Einkommensunterschieden bzw. die überdurchschnittliche Anhebung
geringer Einkommen. Die globalen Finanzmärkte sollen stärker reguliert werden,
die Länder des Südens in den internationalen Institutionen stärker repräsentiert
sein. Migration soll erleichtert werden und in geregelten Bahnen verlaufen, u. a.
sollen die Transferkosten für Rücküberweisungen verringert werden. Das Klimafi-
nanzierungsziel von 100 Mrd. US-Dollar jährlich wird ausdrücklich erwähnt, drin-
gende Maßnahmen gegen den Klimawandel werden angemahnt.

Insofern stellen die SDGs eine Herausforderung auch an die Bundesregierung dar,
politische Weichen in der Außen- und internationalen Wirtschaftspolitik neu zu
stellen.

Die SDG-Erklärung erinnert an das Entwicklungsfinanzierungsziel von 0,7 Prozent
des Bruttonationaleinkommens bei Industrieländern und formuliert das Ziel, wei-
tere Ressourcen zu mobilisieren, um eine angemessene und planbare Finanzie-
rungsgrundlage für nachhaltige Entwicklung bereitzustellen. Außerdem sollen die
Entwicklungsländer dabei unterstützt werden, ihre Verschuldung abzubauen, z. B.
durch Schuldenumstrukturierung und Schuldenerlasse für hoch verschuldete Staa-
ten.

In diesem Zusammenhang stimmen die Ergebnisse der Entwicklungsfinanzie-
rungskonferenz vom 13.-16. Juli 2015 noch wenig hoffnungsvoll. Die reichen In-
dustriestaaten schmetterten Vorstöße aus dem Süden für eine gerechtere soziale

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Entwicklung ab und zielten stattdessen auf die Eigeninitiative der armen Länder
und einen stärkeren Beitrag privater Unternehmen ab.

Der Deutsche Bundestag erinnert an das Prinzip der gemeinsamen, wenngleich un-
terschiedlichen, Verantwortungen, festgelegt in der Erklärung von Rio de Janeiro
über Umwelt und Entwicklung von 1992, das im Entwurf der SDG-Erklärung er-
neut bestätigt wurde.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

− bereits jetzt damit zu beginnen, alle Gesetzesvorhaben daraufhin zu überprü-
fen, ob sie den formulierten Zielen der nachhaltigen Entwicklungsagenda ent-
sprechen oder zuwiderlaufen;

− internationale Verantwortung als Aufgabe sämtlicher Politikbereiche zu defi-
nieren und in allen Bundesministerien geeignete Mechanismen zur Überprü-
fung der globalen Auswirkungen ihrer nationalen Politik zu verankern, um
kohärentes politisches Handeln sicherzustellen;

− den begonnenen Dialog mit der Zivilgesellschaft über die Umsetzung der
nachhaltigen Entwicklungsziele in der deutschen Politik fortzuführen und zu
verstetigen;

− den Transformationsanspruch der Agenda 2030 ernst zu nehmen und notwen-
dige klima- und umweltschutzpolitische Maßnahmen konsequent mit dem
Aufbau neuer, sozial und ökologisch nachhaltiger Wirtschafts- und Produkti-
onsweisen zu verbinden;

− deutlich mehr Mittel für die Entwicklungsfinanzierung aufzubringen, zum ei-
nen durch den Verzicht auf Rüstungsbeschaffung, zum anderen durch die stär-
kere Besteuerung von Vermögen, großen Erbschaften und Konzerngewinnen;

− eine internationale Initiative zum Abbau von Rüstungsetats und zur Umwid-
mung der freiwerdenden Mittel als Entwicklungsfinanzierung anzuregen;

− sich für die unverzügliche Einführung von Finanztransaktionssteuern in mög-
lichst vielen Ländern und die Verwendung der Einnahmen für die Armutsbe-
kämpfung in Deutschland, Europa und weltweit einzusetzen;

− die Initiative der Gruppe der Entwicklungs- und Schwellenländer für eine bei
den VN verankerte Institution zur Bekämpfung von Steuerflucht und Steuer-
hinterziehung sowie Mobilisierung von Steuereinnahmen zur Bekämpfung
der Armut zu unterstützen;

− in Europa aktiv gegen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zulasten
der Länder des Südens vorzugehen;

− soziale Gerechtigkeit zu einem Leitmotiv der deutschen internationalen Zu-
sammenarbeit zu erklären;

− die konstruktive Mitarbeit in der Arbeitsgruppe der VN zur Errichtung eines
Staateninsolvenzverfahrens aufzunehmen;

− legale Einwanderung in die Europäische Union (EU) zu vereinfachen;
− sich in der EU dafür stark zu machen, dass die Wirtschaftspartnerschaftsab-

kommen der EU mit afrikanischen Staaten und andere bereits bestehende Frei-
handelsabkommen mit Ländern des Südens ausgesetzt, Verhandlungen über
weitere Abkommen gestoppt und die Mandate der Kommission zurückgezo-
gen werden und stattdessen auf Handelsabkommen zu setzen, die die Un-
gleichheit zwischen den Partnern berücksichtigen und die einen fortlaufenden
menschenrechtlichen Prüfmechanismus enthalten, der die sozialen Auswir-
kungen der Abkommen untersucht und gegebenenfalls Anpassungen ermög-
licht, sowie auf Liberalisierungsforderungen verzichten;

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− in der EU zu verhindern, dass Druck auf die Länder des Südens ausgeübt wird,
Fischfangquoten für europäische Länder freizugeben, die den Lebensunterhalt
der lokalen Fischer und die Nachhaltigkeit der Fischgründe gefährden;

− die deutschen Rüstungsexporte unverzüglich zu stoppen, sich nicht weiter an
NATO-Kriegen und Militärinterventionen zu beteiligen und den USA nicht
weiter zu erlauben, auf deutschem Boden Flughäfen und militärische Einrich-
tungen zur Führung von Drohneneinsätzen vorzuhalten;

− sich für eine Reform der VN stark zu machen, die die VN auf ihre ursprüng-
liche Charta zurückbringt und insbesondere dem dort verankerten Gewaltver-
bot in den internationalen Beziehungen zur Durchsetzung verhilft;

− sich gegen die weitere Militarisierung der VN, insbesondere gegen die zuneh-
mende Anwendung von VN-Militärinterventionen, versehen mit einem
Kampfmandat nach Kapitel VII, zu wenden;

− sich im Gegenzug dafür einzusetzen, dass im Rahmen einer institutionellen
Reform der VN deren Organisationen, die sich mit humanitärer Hilfe, Ent-
wicklung, Umwelt beschäftigen, gestärkt und mit einer deutlich höheren Re-
gelfinanzierung statt freiwilliger Beiträge ausgestattet werden;

− eine eigene Organisation der VN für eine Kultur des Friedens aufzubauen, die
die spärlich ausgestattete Peacebuilding Commission ersetzt;

− die Umsetzung der SDGs durch die Einrichtung eines Weltwirtschaftsrats im
ähnlichen Range wie der VN-Sicherheitsrat zu fordern, der einen Fonds zur
Kompensierung von kolonialer Ausbeutung und Klimawandelfolgen sowie
eine Kartellbehörde zur Entflechtung marktbeherrschender globaler Unter-
nehmen aufstellt.

Berlin, den 22. September 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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