BT-Drucksache 18/5846

Rückerstattung der Fahrtkosten für unter Mitwirkung der Deutschen Reichsbahn deportierte Nazi-Opfer

Vom 18. August 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5846
18. Wahlperiode 18.08.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Herbert Behrens, Thomas Lutze, Martina Renner,
Kersten Steinke, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Rückerstattung der Fahrtkosten für unter Mitwirkung der Deutschen Reichsbahn
deportierte Nazi-Opfer

Für die Verschleppung von Millionen Nazi-Opfern zur Zwangsarbeit und in die
Vernichtungslager war die Deutsche Reichsbahn unentbehrlich. Sie hat sich
nicht nur als williges Instrument der Vernichtungs- und Ausbeutungsindustrie
der Nazis erwiesen, sie hat sich die Deportationen unschuldiger Menschen auch
noch bezahlen lassen. Für jeden Kilometer, den die Deportierten auf dem Weg
zu ihrer Versklavung und Ermordung mit der Bahn, meist in Güterzügen, zu-
rücklegen mussten, kassierte die Reichsbahn vier Reichspfennig, bei größeren
Transporten gab es einen Rabatt in Höhe von zwei Pfennig. Das Geld wurde zu-
nächst vom Reichssicherheitshauptamt einkassiert. Die SS wiederum zog diese
Beträge häufig von den Deportierten selbst oder den jüdischen Gemeinden ein
(vgl. z. B. „Sondertarif für Judentransporte“, Deutschlandfunk, 23. Januar 2008).
In einem Gutachten, das die Erinnerungsinitiative „Zug der Erinnerung“ in Auf-
trag gegeben hatte, werden die Gesamteinnahmen auf 445 Mio. Euro (in heuti-
gem Wert, ohne Einberechnung von Zinsen) beziffert. Die Bahn selbst hatte je-
denfalls bis zum Jahr 2008 keine Berechnungen angestellt (vgl. Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Faktion DIE LINKE. auf Bundes-
tagsdrucksache 16/9206).
Diese Gelder sind von den Nachfolgern der Reichsbahn, der Deutschen Bundes-
bahn AG (DB) bzw. dem Bundeseisenbahnvermögen, bis heute nicht zurück-
erstattet worden. Auch die von den Deportierten mitgeführten und häufig wäh-
rend der Fahrt gestohlenen bzw. geplünderten Gepäckstücke – in denen sich mit-
unter erhebliche Wertsachen befunden haben dürften – wurden bis heute nicht
erstattet. Die Deutsche Bahn (DB) hat lediglich eine Sonderausstellung zu ihrer
Mitwirkung an den NS-Massenmorden erarbeitet, während sie dem Projekt
„Zug der Erinnerung“ Gebühren für die Trassennutzung abverlangt, die diesem
nach eigenen Angaben die eigene Tätigkeit erheblich erschweren. Spenden der
DB an die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) sind nicht als
Rückerstattung der zwangsweise erhobenen „Reisekosten“ zu betrachten.
Die Jüdische Gemeinde Thessaloniki erhebt nun öffentlich die Forderung nach
Rückerstattung (Offener Brief der Jüdischen Gemeinde und des Zuges der Erin-
nerung, April 2015). Aus Thessaloniki sind zwischen März und August 1943
rund 48 000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz und Treblinka deportiert wor-
den. Auch diese Fahrt hatte sich die Reichsbahn bezahlen lassen, im heutigen
Gegenwert von 64 Mio. Euro. „Wenigstens die Fahrkarten sollte man uns erstat-
ten“, fordert der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Den Deportierten sei da-
mals gesagt worden, „auf sie warte woanders eine gute Zukunft“ (Jüdische All-

Drucksache 18/5846 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
gemeine, 19. März und 7. Mai 2015). Die Bundesregierung hat die Rückerstat-
tung der zwangsweise verlangten „Reisekosten“ jedoch in der Vergangenheit ab-
gelehnt (Antwort zu Frage 4 auf Bundestagsdrucksache 17/9331). Dabei stellte
sie die Behauptung auf, dass „alle mit Hilfe der Reichsbahn Deportierten Ent-
schädigungsleistungen“ erhalten hätten. Angesichts der Tatsache, dass Millio-
nen ihre Deportation nicht überlebt haben, sondern am Ziel ermordet worden
sind, ist eine solche Aussage aus Sicht der Fragesteller inakzeptabel.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwiefern kann die Bundesregierung die Zahl von 445 Mio. Euro, die die

Deutsche Reichsbahn durch die Deportationen eingenommen hat, bestäti-
gen?

2. Hat die Bundesregierung Anlass, diese Zahl anzuzweifeln (wenn ja, bitte
begründen)?

3. Hat die Bundesregierung oder, nach ihrer Kenntnis, die Deutsche Bahn AG
oder das Bundeseisenbahnvermögen mittlerweile eigene Untersuchungen
darüber angestellt, auf welche Summen sich die Einnahmen durch die De-
portationen belaufen?
Wenn nein, wie begründet sich die unterbliebene Aufarbeitung dieses The-
mas?

4. Hält die Bundesregierung die Aufklärung in diesem Bereich für wichtig,
und wenn ja, was will sie tun, um entsprechende Forschungen zu initiieren
und zu unterstützen?

5. Hat die Deutsche Reichsbahn oder einer ihrer Rechtsnachfolger nach
Kenntnis die Bundesregierung überlebenden Deportierten, deren Angehöri-
gen oder Jüdischen Gemeinden die Deportationskosten zurückerstattet?

6. Haben andere deutsche Behörden (etwa jene, die nach der Befreiung vom
Faschismus das Vermögen des Reichssicherhauptsamtes übernommen ha-
ben) die Deportationskosten zurückerstattet (bitte jeweils detailliert ausfüh-
ren)?

7. Welchen finanziellen Gegenwert hatte nach Kenntnis der Bundesregierung
das den Deportierten in den Zügen der Reichsbahn gestohlene Eigentum,
und inwiefern ist dieses jemals ersetzt worden?

8. Hat die Bundesregierung Anlass zu bezweifeln, dass rund 48 000 Jüdinnen
und Juden aus Thessaloniki mit Hilfe der Deutschen Reichsbahn in Vernich-
tungslager deportiert worden sind und die Reichsbahn pro Kilometer und
Erwachsenem zwei Reichspfennig kassiert hat (wenn ja, bitte darlegen)?

9. Hat die Bundesregierung Anlass zu bezweifeln, dass die damals abgepress-
ten Deportationskosten in heutigem Wert 68 Mio. Euro betragen (bitte be-
gründen und ggf. eigene Berechnungen darlegen)?
Einnahmen in welcher Höhe sind anlässlich der Deportation der jüdischen
Bevölkerung von Thessaloniki bei welchen deutschen Behörden oder
Dienststellen verbucht worden?

10. Hat nach Kenntnis der Bundesregierung das Bundeseisenbahnvermögen auf
den Offenen Brief der Jüdischen Gemeinde Thessaloniki und des Zuges der
Erinnerung reagiert, bzw. wird eine Reaktion noch erfolgen, und wenn ja,
mit welchem Tenor?

11. Hält die Bundesregierung die Forderung der Jüdischen Gemeinde Thessalo-
niki für legitim (bitte begründen)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/5846
12. Beabsichtigt die Bundesregierung, den Kontakt zur Jüdischen Gemeinde
Thessaloniki bezüglich dieses Themas zu suchen?
Sofern sie bereits in Kontakt steht, welche Position der Bundesregierung in
der Frage der Rückerstattung wurde der Gemeinde übermittelt?

13. Hat die Bundesregierung Anlass, davon auszugehen, dass der Jüdischen Ge-
meinde Thessaloniki, Überlebenden der Deportation und/oder deren Ange-
hörigen die damals abgepressten Entgelte jemals ganz oder teilweise zu-
rückerstattet wurden?
Wenn ja, bitte darlegen, wenn nein, was wird sie unternehmen, um diese
Rückerstattungen vorzunehmen?

14. Erwägt die Bundesregierung, angesichts der Tatsache, dass die Deutsche
Reichsbahn wie auch die Deutsche Bundesbahn ein staatliches Unterneh-
men war, die Forderungen zur Rückerstattung der Fahrtkosten aus dem Bun-
deshaushalt zu bestreiten (wenn nein, bitte begründen)?

15. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung zur Frage, inwiefern Bahnunter-
nehmen ausländischer Staaten, die während des Zweiten Weltkrieges vom
Deutschen Reich besetzt oder mit diesem verbündet waren, Entschädi-
gungsprogramme für die Opfer der Deportationen aufgelegt haben und wie
diese ausgestattet sind?

16. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung von allfälligen Klagen vor in-
oder ausländischen Gerichten, die auf Rückerstattung der Fahrtkosten oder
anderen Entschädigungsleistungen in Zusammenhang mit den Deportatio-
nen durch die Reichsbahn zielen, wie ist der Stand der jeweiligen Gerichts-
verfahren, und welche Position vertritt die Deutsche Bahn dabei?

17. Ist der Bundesregierung bekannt, dass die Forderungen nach Rückerstattung
– vermutlich aufgrund der bis heute andauernden Entschädigungsverweige-
rung der Bahn – teilweise damit begründet werden, die SS habe den depor-
tierten Jüdinnen und Juden von Thessaloniki erzählt, sie führen „in den Ur-
laub“ bzw. „zur Erholung“ oder es erwarte sie „eine gute Zukunft“?
Wie beurteilt sie vor diesem Hintergrund eine rechtliche und moralische
Pflicht zur Rückerstattung der Fahrkarten, weil es gewissermaßen nicht nur
um die Deportation selbst geht, sondern auch um Betrug?

Berlin, den 18. August 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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