BT-Drucksache 18/5663

Wiederaufbau von Kobani und Berichte über behördliches Vorgehen gegen Rojava-Solidarität

Vom 22. Juli 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5663
18. Wahlperiode 22.07.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Andrej Hunko, Stefan Liebich, Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE.

Wiederaufbau von Kobani und Berichte über behördliches Vorgehen
gegen Rojava-Solidarität

Im Januar 2015 wurde die syrisch-kurdische Stadt Kobani nach rund viermona-
tiger Belagerung und teilweiser Besetzung durch den sogenannten Islamischen
Staat (IS) von den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG
bzw. YPJ und ihren Verbündeten, darunter Peschmerga aus der Region Kur-
distan-Irak, Kommunisten aus der Türkei und einzelnen Brigaden der Freien
Syrischen Armee, befreit. Rund die Hälfte der 200 000 Einwohnerinnen und
Einwohner des selbstverwalteten Kantons, die vor den IS-Angriffen in die
Türkei geflohen waren, sind seitdem nach Angaben der Kantonalverwaltung in
die zu 80 Prozent zerstörte Stadt und die umliegenden Dörfer zurückgekehrt. Die
humanitäre Situation vor Ort ist weiterhin aufgrund der Zerstörung wichtiger In-
frastrukturen prekär. Dazu kommt ein faktisches Embargo durch die Türkei, die
nur ausgewählte Hilfstransporte ihre Grenze passieren lässt, aber nach Angaben
der Kantonalverwaltung wichtige Güter für den Wiederaufbau blockiert. Die
Sicherheitslage erscheint insbesondere aufgrund von Minen, Sprengfallen und
nicht explodierter Munition weiterhin höchst brisant (www.jungewelt.de/2015/
05-12/011.php; www.heise.de/tp/artikel/44/44991/1.html).
Zudem erfolgte Ende Juni 2015 ein erneuter Überfall des IS auf die Stadt. Die
nach YPG-Angaben auch über die Türkei nach Kobani eingedrungenen Dschi-
hadisten töteten dabei über 200 Zivilistinnen und Zivilisten.
Unterdessen sehen sich Aktivistinnen und Aktivisten, die sich an humanitären
Projekten zum Wiederaufbau, aber auch am Widerstand gegen den IS beteiligen
wollen, in verschiedenen Staaten der Europäischen Union (EU) staatlichen Re-
pressalien ausgesetzt. Am 18. Juni 2015 wurde die aus Duisburg stammende
S. K., Mitglied der Jugendgruppe Young Struggle, bei ihrer geplanten Ausreise
über den Düsseldorfer Flughafen von der Bundespolizei aufgehalten. Die junge
Frau wollte sich an einer humanitären Brigade des internationalen sozialisti-
schen Zusammenschlusses ICOR zum Bau eines Gesundheitszentrums in Ko-
bani beteiligen. Die Polizei nahm S. K. ihren Personalausweis und Reisepass
ab, sie erhielt ein Ausreiseverbot mit der Begründung der „Gefahrenabwehr“
(www.antifa-duesseldorf.de/2015/07/06/interview-mit-sofie-k/;
https:\\linksunten.indymedia.org/de/node/146492).
Im März 2015 wurde die aus Duisburg stammende 19-jährige I. H., die sich den
Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG bzw. YPJ angeschlossen hatte,
bei der Verteidigung eines christlichen Dorfes gegen den IS in Rojava/Nord-
syrien getötet. Neben Einleitung eines Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt
wegen der Tötung der deutschen Staatsbürgerin wollte die Bundesanwaltschaft

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auch ein strafrechtliches Vorgehen gegen die Marxistisch-Leninistische Kom-
munistische Partei (MLKP), in deren Namen H. nach Syrien gegangen war,
wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung prüfen
(www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/2000-menschen-erweisen-ivana-
hoffmann-die-letzte-ehre-a-1023582.html).
Auch in anderen EU-Staaten werden Maßnahmen gegen Personen ergriffen, die
sich dem bewaffneten Widerstand gegen den IS angeschlossen haben oder dies
möglicherweise vorhatten. So wurden zwei aus Spanien stammende Mitglieder
einer von der MLPK initiierten Internationalen Freiheitsbrigade aus Rojava bei
ihrer Rückkehr am 6. Juli 2015 festgenommen. Ein Sondergericht wirft ihnen
die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor (www.heise.de/tp/
artikel/45/45385/1.html). Auch in Großbritannien wurde im Januar 2015 eine
18-jährige Kurdin unter dem Vorwurf der Terrorismusunterstützung inhaftiert,
weil sie sich möglicherweise den Frauenverteidigungseinheiten YPJ in Rojava
anschließen wollte (www.theguardian.com/world/2015/mar/13/british-teenage-
girl-charged-kurdish-forces-fighting-isis).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwiefern und auf welcher rechtlichen Grundlage hält die Bundesregierung

Ausreiseverbote gegen Personen, die zur Unterstützung humanitärer Projekte
oder ziviler Bereiche der Selbstverwaltungskantone nach Rojava reisen wol-
len, für zulässig?

2. Inwiefern und auf welcher rechtlichen Grundlage hält die Bundesregierung
Ausreiseverbote gegen Personen, die sich dem bewaffneten Widerstand ge-
gen den IS in Nordsyrien oder dem Nordirak anschließen wollen, für zuläs-
sig?

3. In wie vielen und welchen Fällen wurden wann und auf welcher rechtlichen
Grundlage in der Bundesrepublik Deutschland Ausreiseverbote gegen Per-
sonen verhängt, die nach Nordsyrien/Rojava reisen wollten?
a) Wie viele dieser Ausreiseverbote richteten sich gegen mutmaßliche An-

hänger des IS oder anderer dschihadistischer Gruppierungen (bitte ange-
ben, inwieweit der Verdacht bestand, dass die Betroffenen sich bewaff-
neten Gruppierungen anschießen wollten, oder was sonst die Absicht der
Reise war, z. B. humanitäre Hilfe, Eheschließung mit einem Dschihadis-
ten etc.)?

b) Wie viele dieser Ausreiseverbote richteten sich gegen mutmaßliche Unter-
stützerinnen und Unterstützer der Selbstverwaltungskantone von Rojava
(bitte angeben, inwieweit der Verdacht besteht, dass die Betroffenen sich
den bewaffneten Gruppierungen YPG bzw. YPJ oder anderen, aufseiten
der Selbstverwaltung kämpfenden Verbände anschießen wollten, oder was
sonst die Absicht der Reise war, z. B. humanitäre Hilfe)?

4. Inwieweit wurden nach Kenntnis der Bundesregierung auf EU-Ebene Maß-
nahmen zur Verhinderung der Ausreise von Personen besprochen oder ver-
einbart, die im Verdacht stehen, zur Unterstützung der Selbstverwaltungs-
kantone einschließlich ihrer Selbstverteidigungsmilizen YPG bzw. YPJ u. a.
nach Nordsyrien/Rojava ausreisen zu wollen oder von dort zurückkehren?

5. Welche EU-Staaten haben bislang nach Kenntnis der Bundesregierung re-
pressive Maßnahmen gegen Personen ergriffen, die im Verdacht stehen, zur
Unterstützung der Selbstverwaltungskantone einschließlich ihrer Selbstver-
teidigungsmilizen YPG bzw. YPJ u. a. nach Nordsyrien/Rojava ausreisen zu
wollen oder von dort zurückkehren?

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a) Um welche Maßnahmen auf welcher rechtlichen Grundlage in welchen
Staaten handelt es sich genau?

b) Wie viele Personen wurden in welchen EU-Staaten bislang wegen ihrer
möglichen bzw. geplanten Beteiligung an humanitären oder bewaffneten
Aktivitäten aufseiten der Selbstverwaltungskantone von Rojava festge-
nommen, inhaftiert, angeklagt oder verurteilt?

6. Inwieweit und in welchen Fällen und aus welchen Gründen im Einzelnen
erachtet die Bundesregierung eine Beteiligung deutscher Staatsbürger oder
in Deutschland aufenthaltsberechtigter Personen an Gruppierungen, die in
Syrien und dem Irak bewaffnet gegen den IS kämpfen, für unzulässig oder
strafbar?
a) Welche möglichen Straftatbestände kann eine Beteiligung deutscher

Staatsbürger oder generell in Deutschland aufenthaltsberechtigter Perso-
nen am bewaffneten Widerstand gegen den IS im Irak und Syrien nach
Kenntnis der Bundesregierung unter welchen Umständen und auf welcher
rechtlichen und gesetzlichen Grundlage im Einzelnen erfüllen?

b) Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen ist es deutschen Staatsbür-
gern generell verboten, sich bewaffneten staatlichen, parastaatlichen oder
nichtstaatlichen Gruppierungen im Ausland anzuschließen?

7. Wie begründet die Bundesregierung konkret das gegen S. K. verhängte Aus-
reiseverbot?
a) Was genau wurde oder wird S. K. vorgeworfen?
b) Aus welchen Quellen stammen die diesbezüglichen Erkenntnisse der Bun-

despolizei?
c) Welche Behörde hat das Ausreiseverbot wann und für welchen Zeitraum

verhängt?
d) Wurden S. K. sowohl der Reisepass als auch der Personalausweis entzo-

gen, und wenn ja, für wie lange?
Falls sie eines der Dokumente zurückerhalten hat, inwieweit ist darin die
Ausreisesperre ausdrücklich vermerkt worden?

e) Welche rechtlichen Mittel stehen S. K. nach Kenntnis der Bundesregie-
rung zur Verfügung, um gegen das Ausreiseverbot vorzugehen, und inwie-
fern und wann wurde sie darüber belehrt?

8. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der aktuelle Stand des nach dem
Tod von I. H. angekündigten Prüfvorgangs der Generalbundesanwaltschaft
wegen möglicher Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die MLKP
oder einzelne Mitglieder oder Funktionäre oder Teilstrukturen dieser Partei
im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Kämpferinnen und Kämpfern
gegen den IS in Syrien und Irak?
a) Wurde mittlerweile ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, und wenn ja, ge-

gen wen, und aufgrund welcher möglichen Straftatbestände?
b) Wurde vonseiten der Justiz die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens

nach § 129b des Strafgesetzbuches (StGB) gegen die MLKP oder Teil-
strukturen dieser Partei (welche) beantragt, und wie ist gegebenenfalls die
Haltung des für eine diesbezügliche Verfolgungsermächtigung zuständi-
gen Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV)
hierzu?

9. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Stand des Ermittlungsverfah-
rens gegen Unbekannt wegen Tötung der deutschen Staatsbürgerin I. H. in
Syrien?

Drucksache 18/5663 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
10. Inwieweit spielte nach Kenntnis der Bundesregierung die Beteiligung von
Mitgliedern der TKP bzw. ML bzw. ihres bewaffneten Arms TIKKO am
Widerstand der YPG bzw. YPJ bzw. der Internationalen Freiheitsbrigade
gegen den IS in Nordsyrien bei Aufrechterhaltung der vom BMJV im Jahr
2012 erteilten Verfolgungsermächtigung nach § 129b StGB und den am
15. April 2015 von der Bundesanwaltschaft unter dem Vorwurf des § 129b
StGB veranlassten Festnahmen von elf Mitgliedern der Konföderation der
Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) in Deutsch-
land, Griechenland, Frankreich und der Schweiz eine Rolle (www.freitag.de
vom 17. Juni 2015 „MigrantInnen in der Diaspora kriminalisiert“)?

11. Wie stellt sich die gegenwärtige Situation an der türkisch-syrischen Grenze
nach Kenntnis der Bundesregierung dar?
a) Welche passierbaren Grenzübergänge zwischen der Türkei und Syrien

bestehen, und welche Gruppierungen kontrollieren diese jeweils auf sy-
rischer Seite?

b) Inwieweit, in welchem Ausmaß und an welchen Stellen ist es Angehö-
rigen dschihadistischer Gruppierungen, wie des IS, al Nusra, der Armee
der Eroberer etc. möglich, die türkisch-syrische Grenze zu überschreiten,
und inwieweit findet dieser Grenzverkehr mit Wissen, Unterstützung
oder Billigung türkischer Behörden statt?

c) In welchen Bereichen der Grenze wurden von türkischer Seite aus wel-
che besonderen Blockademaßnahmen (Mauern, Zäune, Gräben, Minen
etc.) neben den bereits vor Beginn des syrischen Bürgerkrieges bestehen-
den Grenzsicherungsanlagen errichtet, und welchen Zielen im Einzelnen
bzw. der Abwehr welcher möglichen Gefahren dienen diese nach Kennt-
nis der Bundesregierung?

d) Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen können nach Kenntnis
der Bundesregierung generell Personen und Güter die Grenze zwischen
der Türkei und den drei Selbstverwaltungskantonen Cazire, Kobani und
Afrin in Nordsyrien passieren?

e) Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen können Baufahrzeuge
und Baumaterialien für den Wiederaufbau von Kobani die türkisch-syri-
sche Grenze passieren, und wo und mit welcher Begründung gibt es in
diesem Bereich Restriktionen durch die türkischen Behörden?

f) Inwiefern und unter welchen Voraussetzungen können Personen, die sich
am Wiederaufbau von Kobani einschließlich medizinischer Versorgung
beteiligen wollen, die Grenze nach Syrien von der Türkei aus passieren,
und inwieweit sind der Bundesregierung hier Restriktionen vonseiten der
türkischen Behörden bekannt (bitte benennen inwieweit hier zwischen
türkischen und syrischen Staatsbürgern und Bürgern anderer Staaten un-
terschieden wird)?

12. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung die derzeitige humanitäre Si-
tuation in der Stadt Kobani und den umliegenden Dörfern des Kantons?
a) Wie viele Bewohnerinnen und Bewohner sind nach Kenntnis der Bun-

desregierung zwischenzeitlich aus der Türkei nach Kobani zurückge-
kehrt, und wo und unter welchen Umständen leben diese?

b) Welche Informationen über den aktuellen Stand des Wiederaufbaus von
Kobani hat die Bundesregierung?

c) Hat die Bundesregierung Kenntnis von internationalen Konferenzen, die
sich mit dem Wiederaufbau von Kobani befassen, und wenn ja, inwie-
weit hat sie sich an solchen Konferenzen beteiligt oder beabsichtigt dies
in Zukunft zu tun?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/5663
d) Welche staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsprojekte und Hilfspro-
gramme aus Deutschland für den Wiederaufbau von Kobani und die hu-
manitäre Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner sind der Bun-
desregierung bekannt, und inwieweit unterstützt sie deren Bemühungen?

13. Inwieweit setzt sich die Bundesregierung bei der türkischen Regierung für
eine weitere Öffnung der Grenze bzw. die Schaffung eines humanitären
Korridors aus der Türkei nach Kobani ein, um den Wiederaufbau der Stadt
zu unterstützten und die humanitäre Versorgung der zurückgekehrten Be-
wohnerinnen und Bewohner sicherzustellen?

14. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über einen erneuten Überfall
des IS auf Kobani Ende Juni 2015?
a) Wie viele IS-Kämpfer waren nach Kenntnis der Bundesregierung an dem

Angriff beteiligt, und wie konnten diese in die Stadt eindringen?
b) Inwieweit gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung Hinweise, dass

sich IS-Kämpfer über türkisches Territorium bewegen, die Grenze von
der Türkei aus passiert haben oder von türkischen Behörden Hilfestellun-
gen beim Eindringen nach Kobani oder beim Rückzug erhalten haben?

c) Wie viele Menschenleben kostete der erneute IS-Angriff auf Kobani
nach Kenntnis der Bundesregierung (bitte nach Zivilistinnen bzw. Zivi-
listen, Mitgliedern der Sicherheitskräfte von Kobani – YPG bzw. YPJ,
Asayis u. a. – und IS-Kämpfern aufschlüsseln)?

15. Wie schätzt die Bundesregierung generell die Sicherheitslage in der Region
Rojava ein (bitte nach den Kantonen Afrin, Kobani und Cazire getrennt auf-
schlüsseln und begründen)?

Berlin, den 22. Juli 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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