BT-Drucksache 18/5434

zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 18/589 - Abschaffung der Zwangsverrentung von SGB-II-Leistungsberechtigten

Vom 2. Juli 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5434
18. Wahlperiode 02.07.2015
Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
(Zwickau), Katja Kipping und der Fraktion DIE LINKE.
– Drucksache 18/589 –

Abschaffung der Zwangsverrentung von SGB-II-Leistungsberechtigten

A. Problem
Auf der Grundlage der Regelung in § 12a des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB II) droht nach Angaben der antragstellenden Fraktion jährlich Zehntausenden
von SGB-II-Leistungsberechtigten ab 63 Jahren eine zwangsweise vorgezogene
Verrentung.

B. Lösung
Die antragstellende Fraktion fordert eine Gesetzesänderung, wonach die Verpflich-
tung für SGB-II-Leistungsberechtigte zur Beantragung einer vorzeitigen Rente
ebenso aufgehoben wird wie die Berechtigung der Jobcenter, unabhängig vom Wil-
len der betroffenen Person für diese einen Rentenantrag zu stellen.
Ablehnung des Antrags mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN.

C. Alternativen
Annahme des Antrags.

D. Kosten
Konkrete Kostenrechnungen wurden nicht angestellt.
Drucksache 18/5434 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,
den Antrag auf Drucksache 18/589 abzulehnen.

Berlin, den 1. Juli 2015

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales

Kerstin Griese
Vorsitzende

Markus Paschke
Berichterstatter
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/5434
Bericht des Abgeordneten Markus Paschke

I. Überweisung

1. Überweisung
Der Antrag auf Drucksache 18/589 ist in der 33. Sitzung des Deutschen Bundestages am 8. Mai 2014 an den
Ausschuss für Arbeit und Soziales zur federführenden Beratung sowie an den Ausschuss für Recht und Ver-
braucherschutz zur Mitberatung überwiesen worden.
2. Stellungnahmen des mitberatenden Ausschusses
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz hat den Antrag auf Drucksache 18/589 in seiner Sitzung
am 1. Juli 2014 beraten und dem Deutschen Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Ablehnung em-
pfohlen.

II. Wesentlicher Inhalt der Vorlage

SGB-II-Leistungsberechtigte ab dem Alter von 63 Jahren, die die Voraussetzungen für eine Altersrente erfüll-
ten, werden nach den Worten der Antragsteller systematisch von den Jobcentern aufgefordert, einen Renten-
antrag zu stellen. Sofern die betroffenen Menschen einen derartigen Antrag nicht in die Wege leiteten, stellten
die Jobcenter selbst den Antrag auf Verrentung. Der rentenrechtliche Grundsatz, dass ausschließlich die be-
troffenen Personen über ihren Antrag auf eine vorzeitige Rente entschieden, werde ausgehebelt. Daher handele
es sich um einen massiven Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen – um eine Zwangsverrentung.
Eine Zwangsverrentung bedeute einen massiven Eingriff in die erworbenen sozialen Rechte. Die Rentenan-
sprüche würden massiv und dauerhaft abgesenkt, weil für jeden Monat des vorzeitigen Renteneintritts ein Ab-
schlag von der Rente in Höhe von 0,3 Prozentpunkten erfolge. Dies bedeute aktuell (im Jahr 2014) bei einem
Renteneintritt mit Vollendung des 63. Lebensjahres eine lebenslange Kürzung in der Regel von 8,7 Prozent
des Rentenanspruchs.
Diejenigen, die nach einer Zwangsverrentung dauerhaft auf Fürsorgeleistungen angewiesen seien, hätten weder
Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB II noch – bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze – auf Leistungen
der Grundsicherung im Alter. Diese Personen seien auf die Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach
dem SGB XII – der traditionellen Sozialhilfe – mit deutlich restriktiveren Bedingungen angewiesen. Vermögen
– auch bei Hartz IV noch geschütztes Altersvorsorgevermögen – müsse nunmehr weitgehend aufgebraucht
werden, bevor überhaupt ein Leistungsanspruch entstehe. Auch erfolge bei dieser Fürsorgeleistung ein Rück-
griff auf Einkommen und Vermögen von Kindern und Eltern.

III. Öffentliche Anhörung von Sachverständigen

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat die Beratung des Antrags auf Drucksache 18/589 in seiner 17. Sit-
zung am 2. Juli 2014 aufgenommen und die Durchführung einer öffentlichen Anhörung von Sachverständigen
beschlossen. Die Anhörung fand in der 27. Sitzung am 1. Dezember 2014 statt.
Die Teilnehmer der Anhörung haben schriftliche Stellungnahmen abgegeben, die in der Ausschussdrucksache
18(11)263 zusammengefasst sind.
Folgende Verbände, Institutionen und Einzelsachverständige haben an der Anhörung teilgenommen:
Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
Deutsche Rentenversicherung Bund
Deutscher Landkreistag
Deutscher Städtetag
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)
Bundesagentur für Arbeit
Deutscher Caritasverband e. V.

Drucksache 18/5434 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
AWO Bundesverband e. V.
Der Paritätische Gesamtverband
PD Dr. Martin Brussig
Heiko Siebel-Huffmann
Markus Wahle
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) stimmt der Forderung nach Abschaffung der so genannten
Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängerinnen und Empfängern zu. Es handele sich um einen nicht gerecht-
fertigten Eingriff in die Lebensgestaltung einer Personengruppe. Der Nachranggrundsatz in der Sozialhilfe
bzw. im Hartz IV-System rechtfertige einen solchen gravierenden Eingriff in Persönlichkeitsrechte nicht.
Durch die „Zwangsverrentung“ drohe ein Überwechseln der Personengruppe in die Hilfe zum Lebensunterhalt
im Rahmen der Sozialhilfe und nach Erreichen der Regelaltersgrenze dauerhaft in die Grundsicherung im Alter.
Dieser „Verschiebebahnhof“ sei im Interesse der Betroffenen wie der Kommunen, die über die Sozialhilfe
finanziell belastet würden, abzulehnen. Zugleich würde die Abschaffung der geltenden Regelung zur Rechts-
vereinfachung bei den Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums beitragen.
Die Jobcenter erhielten derzeit einen arbeitsmarktpolitischen Fehlanreiz, sich weniger intensiv um rentennahe
Jahrgänge zu kümmern. Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht sei jedoch das Gegenteil angezeigt. Außerdem sende
die Bundesregierung widersprüchliche Signale, wenn sie vor dem Hintergrund des demografischen Wandels
die Notwendigkeit längerer Lebensarbeitszeiten betone und gleichzeitig eine Personengruppe auch gegen ihren
Willen vorzeitig in die Altersrente schicke. Schließlich handele es sich um einen Beitrag zur statistischen Be-
reinigung von Altersarbeitslosigkeit, der die Aussagekraft der Arbeitslosenstatistik schwäche.
Die Deutsche Rentenversicherung Bund bestätigt, dass Leistungen nach dem SGB II gegenüber anderen
Sozialleistungen grundsätzlich nachrangig seien. Dies ergebe sich aus §§ 1 Absatz 2 Satz 2, 2 Absatz 1 Satz 1,
Absatz 2 Satz 1, 9 Absatz 1, 12a in Verbindung mit § 5 SGB II. Gemäß § 12a Satz 1 SGB II seien Leistungs-
berechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen
Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürf-
tigkeit erforderlich sei. Renten der gesetzlichen Rentenversicherung seien Sozialleistungen in diesem Sinne.
Dementsprechend bestehe nach geltendem Recht auch die Pflicht, eine vorgezogene Altersrente vorzeitig, also
mit Abschlägen in Anspruch zu nehmen.
Um Härten für Leistungsberechtigte zu vermeiden, gebe es Ausnahmen von dieser Verpflichtung. So seien
Leistungsberechtigte bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres nicht verpflichtet, eine Altersrente vorzeitig in
Anspruch zu nehmen. Für den Zeitraum nach Vollendung des 63. Lebensjahres ergäben sich weitere Einschrän-
kungen aus der aufgrund von § 13 Absatz 2 SGB II erlassenen Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten
durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente. Nach § 1 Unbilligkeits-Verordnung seien Hilfebe-
dürftige nach Vollendung des 63. Lebensjahres nicht verpflichtet, eine Altersrente vorzeitig in Anspruch zu
nehmen, wenn die Inanspruchnahme unbillig wäre. Dafür seien insgesamt vier Unbilligkeitsgründe maßgeb-
lich. Dazu gehöre, a) wenn und solange die vorzeitige Inanspruchnahme zum Verlust eines Anspruchs auf
Arbeitslosengeld führen würde, b) wenn Hilfebedürftige in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in
Anspruch nehmen könnten, c) solange Hilfebedürftige sozialversicherungspflichtig beschäftigt seien oder aus
sonstiger Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen erzielten oder d) wenn Hilfebedürftige glaub-
haft machten, dass sie in nächster Zukunft eine Erwerbstätigkeit aufnähmen und nicht nur vorübergehend aus-
üben würden.
Der Deutsche Caritasverband spricht sich gegen die Möglichkeit aus, Leistungsempfänger mit Vollendung
des 63. Lebensjahres auf die Beantragung von vorzeitiger Altersrente zu verweisen. Ein Leistungsempfänger
solle wie ein nicht auf ALG II angewiesener Arbeitnehmer frei entscheiden können, ob er vorzeitig mit Ab-
schlägen in Rente gehen möchte. Die Abschläge seien bereits jetzt erheblich und würden in den folgenden
Jahren noch steigen, da die die Kluft zwischen starrer Regelung zur vorzeitigen Altersrente mit 63 Jahren und
steigender Regelaltersgrenze wachse. Aufgrund von diskontinuierlichen Erwerbsbiographien, Arbeitslosigkeit
und Lücken bei der Rentenanwartschaftszeit hätten Langzeitarbeitslose häufig ohnehin geringere Rentenan-
sprüche. Zudem führten Jobcenter seit 2011 für Langzeitarbeitslose auch keine Beiträge zur Rentenversiche-
rung mehr ab. Die Gefahr der Abhängigkeit von Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter werde künftig noch
zunehmen, wenn zusätzlich das Rentenniveau sinke. Diese Gefahr werde durch den Zwang zum frühzeitigen
Renteneintritt mit Abschlägen verschärft. Altersarmut werde zunehmen.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/5434
Die gegenwärtige Prüfung der Vorrangigkeit von Leistungen sei nicht hinreichend, da weder Abschläge, noch
Rentenhöhe, noch die Wirkung in Bezug auf die künftige Transferabhängigkeit im Familienkontext angesehen
würden. Die Änderung des Verfahrens wäre bürokratisch sehr aufwändig. Die Hoffnung seitens des Bundes,
hier dauerhaft Kosten zu sparen, werde sich nicht erfüllen, da im Unterschied zur Einführung der Regelung im
Jahre 2008 die Kosten der Grundsicherung heute ebenfalls von Bund zu tragen seien. Es sei davon auszugehen,
dass Personen, die durch die vorzeitige Rente mit 63 aus dem Transferbezug kämen, ohnehin von dieser Rege-
lung Gebrauch machen würden, da der Verbleib im System der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit erheb-
lichen Verpflichtungen verbunden sei.
Die Frühverrentung konterkariere zudem die Idee, ältere Menschen länger auf dem Arbeitsmarkt zu halten.
Hier müsse grundsätzlich ein Umdenken in der Gesellschaft erreicht werden. Deshalb sollten eher die Bemü-
hungen verstärkt werden, Grundsicherungsempfänger im Alter in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Arbeit sei
das beste Mittel gegen Altersarmut. In diesem Sinne empfehle der Deutsche Caritasverband, die Verpflichtung
für SGB II-Leistungsempfänger zur Beantragung einer vorzeitigen Rente aufzuheben. §§ 12 Satz 2 Nummer 1
und 13 Absatz 2 SGB II sowie die Unbilligkeitsverordnung seien ersatzlos zu streichen.
Der AWO Bundesverband begrüßt die dem Antrag zugrunde liegende Intention, die Verpflichtung zur vor-
zeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente im SGB II zu streichen. Denn die in § 12a Satz 2 Nummer 1 SGB II
normierte Verpflichtung, ab Vollendung des 63. Lebensjahres als vorrangige Leistung eine Rente wegen Alters
in Anspruch zu nehmen, führe zu Abschlägen und damit auch zu nachhaltigen Belastungen beim Bezug der
Rente.
Im Detail sehe die AWO an einigen Stellen Anlass zur Ergänzung: Die Gefahr zunehmender Altersarmut habe
ihre Ursachen in einem sinkenden Sicherungsniveau und Veränderungen am Arbeitsmarkt. Vor allem längere
Erwerbslosigkeit, Beschäftigung im Niedriglohnsektor, Beschäftigung in atypischen Beschäftigungsverhält-
nissen wie Leiharbeit, Minijobs etc. sowie prekäre Selbstständigkeit bzw. Wechsel zwischen selbstständiger
und abhängiger Beschäftigung seien immer häufiger Ursachen geringer Renteneinkommen im Alter. Für die
SGB II-Leistungsbeziehenden manifestiere sich das Problem drohender Altersarmut in doppelter Hinsicht:
Durch die Verpflichtung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente ab dem 63. Lebensjahr müssten
sie mit lebenslangen monatlichen Abschlägen von 0,3 Prozentpunkten und mit einer entsprechend geringeren
Rentenanwartschaft rechnen. Zudem seien zum 1. Januar 2011 Rentenzahlungen für Beziehende von Arbeits-
losengeld II ersatzlos gestrichen worden. Das führe dazu, dass Zeiten des Arbeitslosengeld II-Bezuges nicht
mehr als Pflichtbeitragszeiten gewertet würden und habe negative Auswirkungen auf den Erwerb von Erwerbs-
minderungsrentenansprüchen und Ansprüche auf Maßnahmen der beruflichen und medizinischen Rehabilita-
tion. Hier poche die AWO auf eine rentenrechtliche Besserstellung von SGB-II-Leistungsempfängern und
-Leistungsempfängerinnen.
Der Paritätische Gesamtverband unterstützt die Forderung nach Abschaffung der Zwangsverrentung von
SGB II-Leistungsberechtigten uneingeschränkt. Seit Einführung dieser Maßnahme im Jahr 2008 hätten sich
mit der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters die mit einer Zwangsverrentung verbundenen Härten
für die Betroffenen sogar noch weiter verstärkt. Dabei drohe dieses Schicksal allein in den kommenden beiden
Jahren über 140.000 Menschen. Die durch die Praxis der Zwangsverrentung verursachten Einkommensverluste
im Alter führten - wie man aus der Beratungspraxis wisse - zu spürbaren Kürzungen der eigentlich erworbenen
Leistungsansprüche gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie entwerteten einen Teil der Erwerbs-
biographie der Betroffenen, ermöglichten einen verstärkten Rückgriff auf erarbeitetes Vermögen und Rück-
stellungen für das Alter und könnten auch zur Heranziehung Unterhaltsverpflichteter führen. Das Risiko der
Altersarmut für die Betroffenen wachse spürbar. Zum Teil verstetigten Zwangsverrentungen durch die damit
verbundenen dauerhaften Einbußen bei den Rentenleistungen eine individuelle Abhängigkeit von Fürsorge-
leistungen, zumal die Höhe der künftigen Abschläge nicht immer vorab geprüft werde. Die Betroffenen seien
dabei Leidtragende einer Politik, die - ohne dabei insgesamt größere Einsparungen zu erzielen – Finanzierungs-
verantwortung verschoben und in erheblichem Maße zusätzlich Bürokratie erzeugt hätten.
Der Paritätische kritisiert darüber hinaus die krasse Ungleichbehandlung ähnlicher Erwerbsbiographien, die
mit den zum 1. Juli 2014 verbesserten Möglichkeiten für einen abschlagsfreien Renteneintritt verschärft wor-
den sei. Während langjährig Versicherte mit mindestens 45 Jahren Beitragszeiten (zu denen u. a. auch Zeiten
des Wehr- oder Zivildienstes, des Bezuges von Arbeitslosengeld, der Pflege von Angehörigen und der Kinder-
erziehung zählten) ab 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen könnten, könnten andere Versicherte mit zum
Teil nur wenig kürzeren Beitragszeiten mit deutlichen Abschlägen im Falle von Arbeitslosigkeit und Hilfebe-

Drucksache 18/5434 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
darf zwangsverrentet werden. Dadurch würden beispielsweise langjährig versicherte Männer mit vergleichs-
weise hohen Leistungsansprüchen überdurchschnittlich begünstigt. Mit dieser Ungleichbehandlung ähnlicher
Versicherungsbiographien sei ein unverhältnismäßiger Wertungswiderspruch verbunden.
Der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städtetag halten das dargestellte Problem und seine praktische
Relevanz tendenziell für überschätzt. Für die Beurteilung der Relevanz des mit dem Antrag aufgezeigten Prob-
lems müssten die einzelnen Personengruppen differenziert betrachtet werden. Zum einen könnten die während
des SGB II-Bezugs zwischen dem 63. Lebensjahr und dem Erreichen der Regelaltersgrenze entstehenden Ren-
tenanwartschaften in Einzelfällen dazu führen, dass der Leistungsbezieher nach Erreichen der Regelfallgrenze
über ein Einkommen verfüge, das oberhalb der Bedürftigkeitsschwelle der Sozialhilfe nach dem SGB XII liege,
sodass die Hilfebedürftigkeit im Alter entfiele. Zum anderen könnten Personengruppen mit Vermögen betrof-
fen sein, das zwar im SGB II als Schonvermögen gelte, bei einem aufstockenden Leistungsbezug nach dem
Dritten Kapitel SGB XII jedoch einzusetzen wäre. Hier käme jedoch bei der Betrachtung der Fälle hinzu, dass
das Vermögen nach Vollendung des 65. Lebensjahres wegen benötigter ergänzender Leistung nach dem Vier-
ten Kapitel SGB XII ebenfalls einzusetzen wäre, sodass in der Gesamtschau doch keine Nachteile bestünden.
In diesen Fällen kämen die niedrigeren Vermögensgrenzen beim Übertritt in den Leistungsbezug nach SGB XII
lediglich etwas früher zur Anwendung. Diese beiden Personengruppen seien nach bisheriger Erfahrung zah-
lenmäßig klein.
Darüber hinaus sehe die Regelung in § 12a Satz 2 Nummer 1 SGB II ausdrücklich vor, dass die Geltendma-
chung von Rentenansprüchen erst ab Vollendung des 63. Lebensjahres in Betracht kommen könne. Insofern
enthalte die derzeitige Regelung schon eine Durchbrechung des Nachrangigkeitsgrundsatzes zugunsten der
Leistungsberechtigten bis zum Erreichen dieses Alters. Inwieweit bei dieser Abweichung vom Nachrangig-
keitsgrundsatz ein möglichst großer Gleichlauf mit den Vorschriften zum Renteneintrittsalter und etwaigen
Ausnahmen erforderlich sei, sei vom Gesetzgeber zu entscheiden. Allerdings sollten die SGB II-Vorschriften
nicht mit zusätzlichen Regelungen verkompliziert werden, die nur einen sehr kleinen Anwendungsbereich hät-
ten.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) lehnt den Antrag ab. Die Pflicht der
SGB II-Leistungsbeziehenden, einen bestehenden Rentenanspruch geltend zu machen, sei sozialpolitisch sinn-
voll und verfassungskonform. Sie resultiere aus dem Subsidiaritätsgrundsatz, der dem Recht der Grundsiche-
rung zugrunde liege. Danach sei die Grundsicherung gegenüber anderen Einkommen und Vermögen nachran-
gig. An diesem Grundsatz müsse auch bei der Altersrente festgehalten werden, da eine Abweichung von diesem
Grundsatz zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung führen würde. In der Debatte um eine angebliche
Zwangsverrentung werde ein gesetzlicher Handlungsbedarf behauptet, der nicht bestehe. Die Bezeichnung
„Zwangsverrentung“ führe in die Irre. Mit der gesetzlichen Anforderung, den Bezug von Arbeitslosengeld II
auch durch Geltendmachung eines Rentenanspruchs möglichst zu vermeiden bzw. zumindest zu verringern,
würden die Betroffenen nicht vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Im Gegenteil, jeder Arbeitslose, der arbeiten
wolle, könne dies auch nach Rentenbeginn und bei der Arbeitssuche die Unterstützung der Arbeitsagenturen
in Anspruch nehmen.
Die Bundesagentur für Arbeit bestätigt, dass der Verweis auf eine vorgezogene Altersrente dem Nachran-
gigkeitsgrundsatz des SGB II entspricht. Die Unbilligkeitsverordnung lege abschließend die Prüfungskriterien
fest, wann auf eine vorgezogene Altersrente ab 63 Jahren verwiesen werden könne. Durch die Prüfung entstehe
ein nicht bezifferbarer Verwaltungsaufwand. Der Verweis auf die vorgezogene Altersrente führe zu einer ge-
ringeren Zahl von Leistungsberechtigten im SGB II. Durch den Verweis auf eine vorgezogene Altersrente
könne eine Lücke zum Existenzminimum entstehen. Diese werde aber durch SGB XII-Leistungen geschlossen.
Eine gesetzliche Überarbeitung zu Detailfragen des Nachrangigkeitsgrundsatzes erscheine angebracht. Zahlen
über von Zwangsverrentung Betroffene könne man nicht nennen; denn statistische Auswertungen zum Verweis
auf eine geminderte Altersrente sehe § 51b SGB II nicht vor.
Der Sachverständige Dr. Martin Brussig verweist darauf, dass sich Rentenzahlbeträge und rentenrechtliche
Zugangsvoraussetzungen als die starken Einflussfaktoren für den Rentenzugang aus dem ALG II-Bezug heraus
darstellten. Die Gruppe von Personen, die für eine verpflichtende Rentenantragstellung in Frage komme, sei
deutlich kleiner als die Gruppe jener, die abschlagsfrei (überwiegend an der Regelaltersgrenze vermutlich auf-
grund fehlender versicherungsrechtlicher Voraussetzungen für eine vorzeitig beziehbare Altersrente) bzw. zum
frühestmöglichen Zeitpunkt gegebenenfalls auch vor Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente bezögen.
Gleichwohl deuteten die durchschnittlichen Rentenzahlbeträge darauf hin, dass ein Grundsicherungsbezug im
Alter aufgrund des durch den vorzeitigen Rentenbezug geminderten Rentenanspruchs sich nicht auf Einzelfälle
beschränke. Diese Vermutung ergebe sich nicht allein aus dem durchschnittlichen Rentenzahlbetrag, sondern

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/5434
auch aus der Tatsache, dass im ALG II die Leistungsberechtigten bereits bedürftig seien und deshalb vielfach
neben der Rente weitere Alterseinkünfte erforderlich seien, um die Grundsicherungsschwelle zu überschreiten.
Quantitativ viel größer als das Risiko, aufgrund des vorzeitigen Rentenbezugs fürsorgebedürftig im Alter zu
werden, sei aber das Risiko der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter für die große Gruppe der ALG II-Be-
ziehenden, die mit sehr niedrigen Rentenansprüchen abschlagsfrei in die Altersrente wechselten.
Umfangreichere Auswertungen mit den vorhandenen Daten sowie zusätzliche Daten könnten die hier vorge-
legten Ergebnisse noch einmal deutlich differenzieren und möglicherweise auch revidieren. Von Interesse sei
insbesondere eine genauere quantitative Abschätzung des betroffenen Personenkreises auch im Zeitverlauf. In
den jüngeren Rentenzugangskohorten seien die Rentenzugänge aus ALG II nicht eindeutig erfasst. Im Prinzip
lägen aussagekräftige Daten zur Rentenberatung in den Jobcentern vor, könnten aber aktuell nicht genutzt wer-
den. Alternativ würde eine Befragung rentennaher Personen weiterführenden Aufschluss geben. Sie könnte
insbesondere geeignet sein, das Wechselspiel von Informationsgrundlagen, Präferenzen, Freiwilligkeit und
Zwang im Altersübergang zu untersuchen.
Angesichts der Tatsache, dass viele ALG II-Beziehende zum frühestmöglichen Rentenzeitpunkt in Altersrente
wechselten und noch mehr ALG II-Beziehende gar nicht vorzeitig in Rente gehen könnten, dränge sich die
Vermutung auf, dass sich am Renteneintrittsverhalten aus dem SGB II-Leistungsbezug heraus nicht viel ändern
würde, wenn es die Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer Altersrente nicht gäbe. Wohl aber würden sich
das Rentenzugangsverhalten und die Fürsorgebedürftigkeit im Alter von rentennahen ALG II-Beziehenden
ändern, wenn sie konsequent in Beschäftigung vermittelt werden würden. Eine Abschaffung der verpflichten-
den Inanspruchnahme von vorzeitig beziehbaren Altersrenten - wie auch eine Abschaffung des § 53a SGB II,
der Anreize setze, ältere Leistungsbezieher im SGB II aus der Aktivierung auszuschließen – verbessere die
Voraussetzungen, dass ältere ALG II-Beziehende in Beschäftigung vermittelt werden könnten und entlaste die
Jobcenter von bürokratischem Aufwand, der nicht ihrem Kerngeschäft entspreche.
Der Sachverständige Heiko Siebel-Huffmann empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Der Antrag greife mit der
Vermeidung von Altersarmut ein wichtiges gesellschaftliches Thema auf. Bei der Abwägung zwischen der
Belastung des Allgemeinheit und der des Einzelnen durch Inanspruchnahme eigener Ressourcen besitze der
Deutsche Bundestag großen Gestaltungsspielraum. Soweit im Antrag auf eine systematische Vorgehensweise
der Jobcenter abgestellt werde, bleibe unklar, woher die Feststellung komme, da entsprechende Quellen nicht
benannt würden. Vielmehr sei aus einer Vielzahl von Fortbildungen von Fachanwältinnen und Fachanwälten,
Jobcentermitarbeiterinnen und -mitarbeitern zu berichten, dass es dort in jeglicher Hinsicht kein Thema sei.
Auch in der Rechtsprechung finde sich das Thema kaum wieder. Weder werde aus dem Kollegenkreis auf
bundesweiten Fachtagungen zu dem Thema der vorrangigen Leistungen berichtet, noch gebe es eine nennens-
werte Anzahl veröffentlichter Entscheidungen. Da im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende sehr
viele Entscheidungen veröffentlicht würden, müsste das Thema der abschlagsbehafteten vorzeitigen Inan-
spruchnahme von Altersrente präsenter sein, wenn es sich um ein Breitenphänomen handeln würde.
Der Sachverständige Markus Wahle kritisiert, dass die Regelungen zur sogenannten Zwangsverrentung im
SGB II weder dem Hauptziel des SGB II, der Integration in den Arbeitsmarkt, noch dem Prinzip des Nachrangs
von Fürsorgeleistungen gerecht werde. Darüber hinaus sei das zur Durchsetzung solcher Anträge gewählte
Mittel dazu gerade nicht geeignet und der erforderliche Verwaltungsaufwand unverhältnismäßig hoch. Die
Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente folge rentenrechtlichen und -finanzi-
ellen Gesichtspunkten. Die Ziele des SGB II und auch der Nachrang von Fürsorgeleistungen seien dabei be-
deutungslos gewesen. Bei der Umsetzung der sogenannten Zwangsverrentung würden jedoch gerade diese Vo-
raussetzungen zum entscheidenden, letztlich aber völlig sachfremden Kriterium. Die Ermächtigung der Ver-
waltungen zur Antragstellung auch gegen den Willen der Anspruchsinhaber sei nach bisheriger Rechtspre-
chung oberster Bundesgerichte nicht geeignet, sozialrechtliche Statusentscheidungen (hier: als Altersrentner)
durchzusetzen.
Die gegenwärtige Verwaltungspraxis der Jobcenter genüge den rechtlichen Anforderungen oft nicht. Der von
den Jobcentern zu erbringende Verwaltungsaufwand sei erheblich, die Verwaltungsvorschriften der Bunde-
sagentur für Arbeit bildeten diesen nur unzureichend ab und das in den Jobcentern damit betraute Personal sei
häufig überlastet und/oder überfordert. Bei Berücksichtigung des administrativen Aufwands sowohl der Job-
center als auch der zumindest teilweise in Folge nicht bedarfsdeckender Renten betroffenen Ämter (Sozialamt
bzw. Wohngeldamt) sei die mit dem Nachrang von Fürsorgeleistungen verbundene Erwartung finanzieller Ein-
sparungen zumindest fraglich. Darüber hinaus entstünden anderen Sozialversicherungsträgern dauerhaft Min-
dereinnahmen.
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/5434 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Weitere Einzelheiten der Stellungnahmen können der Materialzusammenstellung auf Drucksache 18(11)263
sowie dem Protokoll der Anhörung entnommen werden.

IV. Beratungsverlauf und Beratungsergebnisse im federführenden Ausschuss

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat den Antrag auf Drucksache 18/589 in seiner 48. Sitzung am 1. Juli
2015 abschließend beraten und dem Deutschen Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Ablehnung emp-
fohlen.
Die Fraktion der CDU/CSU kritisierte, dass auch bei rentenrechtlichen Fragen nicht ausschließlich Ansprüche
betrachtet werden könnten. Das Geld dafür müsse schließlich von den Steuerzahlern erarbeitet werden. Die
ordnungspolitischen Strukturen müssten auch in der Sozialpolitik beachtet werden. Es würde erhebliche grund-
sätzliche Probleme aufwerfen, das Nachrangigkeitsprinzip durch Sonderregelungen in Frage zu stellen. Das sei
der zentrale Grund für die Ablehnung des Antrags durch die Fraktion.
Die Fraktion der SPD kündigte ein Gesamtkonzept in der Rentenpolitik in Sachen flexible Übergänge an.
Dort werde auch die Frage der Zwangsverrentung von SGB-II-Beziehenden angegangen werden. Es gehe dabei
oft um Menschen, die 40 Jahre oder sogar länger gearbeitet hätten und dann kurz vor Erreichen der Regelal-
tersgrenze ihre Arbeit verloren hätten. Hier bestehe eine Gerechtigkeitslücke. Dieser Personenkreis habe es
nach wie vor besonders schwer, wieder Arbeit zu finden. Es sei ein Umdenken in den Betrieben notwendig,
um die Arbeitsmarktchancen für diese Menschen zu verbessern. Gebraucht werde insgesamt ein gutes Konzept
für flexible Übergänge in die Rente einschließlich einer Lösung bei der Zwangsrente und keine isolierten Ein-
zelaktivitäten. Hierfür müsse man sich die notwendige Vorbereitungszeit nehmen.
Die Fraktion DIE LINKE. forderte, die Regelung zur Zwangsverrentung von SGB-II-Beziehenden endlich
außer Kraft zu setzen. Diese Forderung werde von einer breiten Koalition auch von Verbänden und Organisa-
tionen getragen. Bei der Anhörung des Ausschusses hätten die Sachverständigen diese Forderung ebenfalls
mehrheitlich unterstützt. Die Fraktion würde auch eine „kleine Lösung“ über eine Unbilligkeitsverordnung
mittragen, um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen. Denn für viele der Betroffenen bedeute die geltende Rege-
lung sehr große Abschläge auf ihre Rente. Darüber hinaus benötigten ältere Arbeitslose aber auch wieder För-
derung bei der Arbeitsaufnahme statt Zwangsverrentung; denn nur so könnten sie ihre Rentenansprüche stei-
gern.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kritisierte die geltende Regelung als eklatanten Verstoß gegen
das Prinzip der Selbstbestimmung, wenn von Amts wegen ein Rentenantrag gestellt werde – zumal dieser er-
hebliche Einbußen bei der Rentenhöhe bedeute. Das Nachrangigkeitsprinzip bei Sozialleistungen müsse gegen
unbillige Härten abgewogen werden. Die Koalition solle die Beseitigung dieser Gerechtigkeitslücke aus einer
großen Rentenlösung auskoppeln. Es gehe um einen eher kleinen Personenkreis, so dass die Lösung auch fi-
nanziell machbar wäre.

Berlin, den 1. Juli 2015

Markus Paschke
Berichterstatter

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