BT-Drucksache 18/5229

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. Juni 2015 in Brüssel

Vom 17. Juni 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5229
18. Wahlperiode 17.06.2015
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Sahra Wagenknecht, Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Da delen, Dr. Dieter Dehm,
Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Katrin Kunert, Stefan
Liebich, Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu, Michael Schlecht, Alexander
Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 25./26. Juni 2015 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bei einer griechischen Staatspleite droht ein Schaden für den öffentlichen Haushalt
in Deutschland in der Höhe von – mindestens – knapp 60 Mrd. Euro. Diese Summe
ergibt sich allein durch die finanziellen Risiken, die mit dem ersten und zweiten
„Griechenland-Paket“ eingegangen worden sind und ein Gesamtvolumen von 237
Mrd. Euro aufwiesen. Für das drohende finanzielle Fiasko sind die aktuelle und
letzte Bundesregierung jeweils unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel
verantwortlich:
Im April 2010 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer damaligen konser-

vativ-liberalen Bundesregierung und mit Zustimmung von SPD und GRÜNEN
leichtfertig eine weitere Verschärfung der Lage des überschuldeten griechi-
schen Staates organisiert, indem sie die Forderungen von Banken und anderen
privaten Gläubigern an den griechischen Staat mit öffentlichen Geldern rettete
und damit das Kreditausfallrisiko auf die europäischen Steuerzahler übertrug.

Auf europäischer Ebene hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel seitdem –
unterstützt von SPD und GRÜNEN – dafür stark gemacht, dass die Auszahlung
der „Hilfskredite“ an die Erfüllung harter Kürzungsauflagen und die Durchfüh-
rung marktradikaler Reformen gekoppelt wurde. Dieses Kürzungsdiktat wurde
von der Troika, bestehend aus IWF, EZB und EU-Kommission, durchgesetzt.
In der Folge sind Wirtschaftsleistung und Steuereinnahmen in Griechenland
massiv eingebrochen, so dass sich die Schuldentragfähigkeit zusätzlich ver-
schlechterte.

Ungeachtet des durch den Wahlsieg von SYRIZA im Januar 2015 demokratisch
manifestierten Willens der griechischen Bevölkerung blockiert die Bundesre-
gierung weiterhin einen wirtschaftlich und sozial notwendigen Kurswechsel in
der Krisenpolitik gegenüber Griechenland.

Statt ergebnisoffene Verhandlungen zu führen, sollte die griechische Regierung
während der zweiten Verlängerung des laufenden „Hilfsprogramms“ zu einer Fort-

Drucksache 18/5229 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
führung der Austeritätspolitik und damit zur Übernahme der Politik ihrer Vorgän-
gerregierung gezwungen werden, die von der Bevölkerung abgewählt worden war.
Um das Erpressungspotential zu verschärfen, wurde der neuen griechischen Regie-
rung während dieses Zeitraums kein einziger Euro der überfälligen Tranchen ausge-
zahlt. Stattdessen wurden der SYRIZA-Regierung, wie beispielsweise mit der deut-
lichen Anhebung des Mehrwertsteuersatzes auf Medikamente, neuen Rentenkürzun-
gen oder der massiven Erhöhung von Verbrauchssteuern, unannehmbare Forderun-
gen gestellt.
Die Blockadehaltung der Bundesregierung in den Verhandlungen mit Griechenland
ist sachlich nicht nachvollziehbar, weil die Politik der EU, ihrer Institutionen und
der internationalen Gläubiger gegenüber Griechenland an ihren eigenen Zielen dra-
matisch gescheitert ist: Das Troika-Diktat hat die Wirtschaftskrise in Griechenland
massiv verschärft. Seit Ende 2009 ist das Bruttoinlandsprodukt um fast ein Viertel
(22 %) gesunken. Steuern und andere Einnahmen des Staates sind eingebrochen.
Unternehmenspleiten haben zugenommen. Gegenwärtig befindet sich Griechenland
immer noch in einer Rezession. Dadurch ist die Schuldentragfähigkeit sogar noch
gesunken, anstatt sich zu verbessern. Die Schuldenquote des Landes stieg von rund
127 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) Ende 2009 auf rund 176 % des BIP Ende
2014. Durch diese Entwicklung wird eine Rückzahlung der Kredite immer unwahr-
scheinlicher. Ein grundlegender Kurswechsel in Griechenland ist damit sowohl im
Interesse der griechischen wie der deutschen Bevölkerung.
„Gerettet“ wurden mit den „Hilfskrediten“ nicht Griechenland und die griechische
Bevölkerung, sondern die Ansprüche internationaler privater Gläubiger, darunter
Großbanken aus Deutschland. Die öffentlichen Gelder aus den sogenannten Ret-
tungspaketen flossen zu über 90 % direkt in den Finanzsektor. Damit fand eine Las-
tenverschiebung zugunsten wohlhabender privater Gläubiger statt.
Die Politik der Austerität und angeblichen Reformen von Seiten der EU-Kommis-
sion, der Euro-Gruppe und der internationalen Gläubiger hat in Griechenland zu ei-
ner dramatischen Verschlechterung der sozialen Lage weiter Teile der griechischen
Bevölkerung geführt: Die Arbeitslosigkeit beträgt aktuell 26 %; die Jugendarbeits-
losigkeit 50,6 %. Die Einkommen (Äquivalenznettoeinkommen) sind drastisch von
13.974 Euro im Jahr 2010 auf 9.303 Euro im Jahr 2013 gesunken; das entspricht
einem Verlust von über einem Drittel. Die Armutsquote hat sich im gleichen Zeit-
raum auf 35,7 % erhöht, die Kinderarmut ist von 18,7 % im Jahr 2010 auf 48,6 %
gewachsen. Zugleich ist die ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen
massiv angestiegen. Während die Armut beängstigende Ausmaße annimmt, gibt es
seit der Krise mehr Millionäre als zuvor, und diese besitzen überdies ein wesentlich
höheres Gesamtvermögen. Gegenüber 2010 mit 69.000 Millionären und 178 Mrd.
Euro Privatvermögen gibt es 2013 78.100 Millionäre mit 226 Mrd. Euro Privatver-
mögen.
Durch das von der Troika erzwungene Zusammenstreichen der öffentlichen Daseins-
vorsorge werden selbst grundlegende Versorgungsleistungen nicht mehr gewährleis-
tet: Beispielsweise wurden im Gesundheitssektor die öffentlichen Ausgaben zwi-
schen 2010 und 2012 von 14,1 Mrd. auf 12 Mrd. Euro zusammengestrichen. Pro
Kopf und Jahr betragen die Gesundheitsausgaben aktuell nur noch 1.085 Euro ge-
genüber 2.800 Euro in Deutschland. Die Ausgaben für Gesundheitsinfrastruktur und
Gehälter des medizinischen Personals wurden massiv gekürzt mit dem Ergebnis,
dass immer mehr Griechen (besonders die der unteren Einkommensgruppen) keinen
Zugang mehr zu ausreichender medizinischer Versorgung haben. Knapp 30 % der
Bevölkerung, also 3,1 Millionen, sind heute ohne Krankenversicherung. Davon be-
ziehen etwa 800.000 weder ein Erwerbseinkommen noch eine Arbeitslosenunterstüt-
zung. Resultat ist eine deutliche Zunahme vieler Krankheiten infolge der Kürzungs-
politik: HIV/Aids, Geschlechtskrankheiten, Malaria, psychische Krankheiten inklu-
sive Suiziden (die Suizidrate liegt um 35 % höher als vor der Krise). Auch die Kin-
dersterblichkeitsrate ist um 43 % gegenüber dem Vorkrisenniveau gestiegen.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/5229
Die Konservativen der Nea Demokratia und die sozialdemokratische Partei PASOK
hatten sich schon nach dem Ende der Militärdiktatur abwechselnd oder gleichzeitig
den griechischen Staat mit verheerenden Folgen zur „Beute“ gemacht. Flächende-
ckend hatten sie staatliche Positionen und Ämter besetzt, Korruption nicht nur zuge-
lassen, sondern gefördert, zugleich aber den Aufbau staatlicher Verwaltungsorgani-
sationen wie eines effektiven Steuer-, Zoll- und Katasterwesens vernachlässigt, su-
perreichen Oligarchen ungerechtfertigte Steuerprivilegien gewährt und insgesamt
zum Verlust staatlicher Einnahmen in riesigem Umfang beigetragen. Wenn Grie-
chenland sich heute in einer ausgesprochen schwierigen Situation befindet, tragen
dafür nicht die Kräfte die Verantwortung, die die heutige Regierung stellen, sondern
die Parteien, die auf das engste im europäischen und internationalen Rahmen mit den
Parteien der deutschen Großen Koalition zusammengearbeitet haben und von ihnen
unterstützt wurden. Das wird in der künftigen innenpolitischen Diskussion in
Deutschland über eine Unterstützung Griechenlands zu berücksichtigen sein wie
auch die rechtliche und moralische Verpflichtung, einen Zwangskredit aus dem Jahr
1942 zurückzuzahlen.
Die jetzige griechische Regierung strebt eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik an,
die auf der Förderung und Stabilisierung der öffentlichen wie der privaten Nachfrage
beruht. Dazu sollen beispielsweise Investitionen im industriellen und landwirtschaft-
lichen Bereich getätigt, der Mindestlohn soll angehoben sowie dringend mehr Geld
zur Stabilisierung des Gesundheitswesens ausgegeben werden. Seit dem Antritt der
SYRIZA-Regierung ist aber kein einziger Euro der internationalen Gläubiger nach
Griechenland geflossen. Stattdessen sind Zins- und Tilgungsraten in Höhe von 7,2
Mrd. Euro zurückgezahlt worden.
Zu angemessenen Primärüberschüssen – Saldo der laufenden Ein- und Ausgaben des
Staates ohne Zinszahlungen – bekennt sich SYRIZA nur, wenn auch die Schulden-
last deutlich verringert wird. Sonst werden übermäßige Primärüberschüsse notwen-
dig, die ein Ende der Kürzungspolitik nicht erlauben. Deshalb ist ein Schuldenschnitt
unumgänglich. Zu erwarten ist auch, dass die neue griechische Regierung die Rüs-
tungsausgaben weiter senken und Rüstungsimporte auch aus den anderen EU-Län-
dern herabsetzen wird. In diesem Zusammenhang muss von deutscher Seite endlich
auch geklärt werden, ob und wie Rüstungsunternehmen aus EU-Ländern wettbe-
werbswidrig Rüstungsgeschäfte befördert haben.
Die Bundesregierung hat es versäumt, ihren verfassungsrechtlichen Verpflichtungen
aus Artikel 23 des Grundgesetzes und aus § 8 EUZBBG gegenüber dem Bundestag
nachzukommen, die vorsehen, dass sie „fortlaufend aktualisierte Informationen über
den Beratungsablauf [übermittelt], die es ermöglichen, den für eine Stellungnahme
geeigneten Zeitpunkt zu bestimmen, und teilt mit, bis zu welchem Zeitpunkt auf
Grund des Beratungsverlaufs eine Stellungahme angemessen erscheint“. Damit hat
sie wichtige demokratisch-parlamentarische Rechte verletzt, die durch das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich festgestellt wurden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bei den Verhandlungen mit der griechischen Regierung und innerhalb der europäi-
schen Institutionen, insbesondere der Euro-Gruppe, sowie in Bezug auf den IWF
dafür Sorge zu tragen, dass tragfähige Bedingungen geschaffen werden, unter denen
Griechenland in der Eurozone verbleiben kann. Dies erfordert, dass sich die Bundes-
regierung nachdrücklich dafür einsetzt, dass folgende inhaltliche Positionen in etwa-
igen geänderten oder neuen Vereinbarungen durchgesetzt werden:
1. Griechenland wird von den finanziellen Belastungen durch die bisherigen Kre-

dit-Pakete der EU und des IWF freigestellt, die im Ergebnis fast ausschließlich
privaten Kreditgebern zugutekamen. Soweit zur Abdeckung von Schulden und
zur Stärkung der Investitionskraft der griechischen Wirtschaft finanzielle Zu-
schüsse von Einrichtungen der EU oder von Mitgliedstaaten der EU erforder-
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/5229 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

lich sind und gewährt werden, dürfen diese nicht an austeritätspolitische Prin-
zipien und an im Widerspruch zu Artikel 345 AEUV stehende Privatisierungs-
auflagen geknüpft sein. Soweit eine derartige generelle Vereinbarung über neue
Kreditvereinbarungen kurzfristig nicht geschlossen werden kann, ist Griechen-
land über den 30. Juni 2015 hinaus ein zeitlich befristeter Brückenkredit ohne
austeritätspolitische Auflagen zu gewähren, um die Folgen eines abrupten fi-
nanziellen Zusammenbruchs des Landes und entsprechende Konsequenzen für
die anderen Mitgliedstaaten der EU, auch für Deutschland, zu vermeiden.

2. Notwendig ist jetzt ein Schuldenmoratorium für Griechenland. Bestrebungen
der griechischen Regierung, durch eine Vermögensabgabe der reichen Oligar-
chen in ihrem Land die Schuldenlast zu reduzieren, müssen unterstützt werden.

3. Die „Troika“ wird aufgelöst und die von ihr kontrollierten Programme zur
Durchsetzung von Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen werden nicht mehr
fortgeführt.

4. Der von den EU-Verträgen nicht gedeckte Machtmissbrauch der Europäischen
Zentralbank (EZB) zur Durchsetzung neoliberaler Politik muss sofort beendet
werden. Insbesondere darf eine bestimmte Politik in einzelnen Ländern nicht
zur Bedingung für geldpolitische Maßnahmen der EZB gemacht werden.

5. Griechenland und die anderen „Programmstaaten“ benötigen wieder mehr fi-
nanziellen Spielraum. Neben einer europaweit koordinierten höheren Besteue-
rung der Vermögen von Millionären und Multimillionären sind weitere Einzel-
heiten auf einer EU-Schuldenkonferenz auszuhandeln und zu vereinbaren.

6. Die EZB-Niedrigzinspolitik belastet Sparer und macht die Reichen durch stei-
gende Aktien- und Immobilienpreise reicher. Das Geld der EZB soll nicht mehr
auf die Finanzmärkte und in die Banken gepumpt werden, sondern für ein öf-
fentliches Investitionsprogramm verwendet werden. Ein Zukunftsinvestitions-
programm für die Eurozone von jährlich 500 Mrd. Euro ist erforderlich. Seine
Finanzierung erfolgt durch die EZB und durch höhere Steuern zu Lasten von
Konzernen und Superreichen. Eine weitere Belastung der Mittelschicht, wie sie
heute existiert, muss europaweit vermieden werden.

7. Mitgliedstaaten der EU dürfen nicht länger als „Steueroasen“ für reiche Steu-
erpflichtige aus Griechenland und anderen Ländern der EU zur Verfügung ste-
hen. Kapitalflucht ist auch dadurch zu stoppen, dass Bankguthaben griechischer
Staatsbürger über 200.000 Euro in anderen EU-Staaten eingefroren und dem
griechischen Staat gemeldet werden, damit überprüft werden kann, ob die Gel-
der bereits rechtmäßig besteuert wurden oder noch zu besteuern sind. Auch in-
ternational sind „Steueroasen“ mittels völkerrechtlicher Verträge zu ächten und
trockenzulegen. Um Steuerflucht auch in Länder zu verhindern, die nicht der
EU angehören, sind zwischen der EU und solchen Staaten Vereinbarungen zu
ihrer Bekämpfung zu treffen.

8. Um sicherzustellen, dass Millionäre und Milliardäre ihrem Beitrag zur Redu-
zierung der öffentlichen Schulden und Finanzierung dringender öffentlicher In-
vestitionen nicht durch Steuerflucht entgehen, ist die griechische Regierung da-
rin zu unterstützen, auf der Grundlage der Artikel 65 und 66 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Kapitalverkehrskontrollen
einzuführen.

Berlin, den 16. Juni 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.