BT-Drucksache 18/5204

Urbanisierung in den Ländern des Südens - Staatliche und kommunale Funktionen stärken, Privatisierung verhindern

Vom 16. Juni 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5204
18. Wahlperiode 16.06.2015
Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Caren Lay, Jan van Aken,
Christine Buchholz, Sevim Da delen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Inge
Höger, Andrej Hunko, Kerstin Kassner, Katrin Kunert, Stefan Liebich, Niema
Movassat, Dr. Alexander S. Neu, Dr. Kirsten Tackmann, Alexander Ulrich und der
Fraktion DIE LINKE.

Urbanisierung in den Ländern des Südens – Staatliche und kommunale
Funktionen stärken, Privatisierung verhindern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das beschleunigte Städtewachstum in Asien, Afrika und Lateinamerika vollzieht
sich unter erheblich anderen Bedingungen als die Urbanisierung in Europa vor an-
derthalb Jahrhunderten. Sie wird in vielen Ländern durch Faktoren ausgelöst und
gesteuert, die nicht im Ermessen der lokalen oder nationalen Akteure liegen. Sie wird
bestimmt durch eine globale Handelspolitik, die in den ländlichen Regionen des Sü-
dens die Existenzgrundlagen bäuerlicher Wirtschaft vernichtet, ohne zugleich Exis-
tenzgrundlagen in den urbanen Räumen zu schaffen. Im Gegensatz zu Europa, wo
sich die Urbanisierung parallel mit der Industrialisierung und der damit verbundenen
Schaffung von neuen Arbeitsplätzen vollzog, wird im Süden eine selbstbestimmte
Industrialisierung behindert, weil die Länder in Handelsverträgen auf den Abbau
wichtiger Steuerungsinstrumente wie Importzölle und Exportquoten festgelegt wer-
den. Unter diesen Bedingungen entwickeln sich die Städte des Südens zu Werkbän-
ken niedriger Fertigungsstufe oder zu riesigen Märkten, auf denen die Billigimporte
aus Europa, Nordamerika und Asien gehandelt werden, aber kaum Wertschöpfung
stattfindet. In Reaktion darauf entwickeln die Familien diversifizierte Einkommens-
strategien, um ihr Überleben zu sichern: Ein Teil der Familie arbeitet in der Stadt im
informellen Handel oder an der Werkbank, ein anderer Teil verbleibt im ländlichen
Sektor. Aus diesen ökonomischen Bedingungen resultieren prekäre Arbeits- und Le-
bensbedingungen und eine hohe Verwundbarkeit der neuen Stadtbewohner und
Stadtbewohnerinnen. Der Zugang zu Wasser, Energie, Gesundheit und Bildung ist
oft nicht gewährleistet.

In der Auseinandersetzung um den städtischen Raum bei weitgehender Abwesenheit
staatlicher Regulierung vollziehen sich in den Ländern des Südens zugespitzte Se-
gregationsprozesse. Die arme Bevölkerung ist von den Veränderungen am stärksten
negativ betroffen. Teils durch die ungebremste Wirkung des kapitalistischen Boden-
marktes, teils unter Anwendung von Gewalt, sehen sie sich von Verdrängung aus
ihren angestammten Wohngebieten bedroht, sind gezwungen, sich in unerschlossene
und teilweise gefährdete Randlagen zurückzuziehen. Stadtentwicklung vollzieht
sich vielfach als ungeplanter Prozess, dessen Ergebnisse die Kräfteverhältnisse in

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der Flächenkonkurrenz widerspiegeln, in dem aber keine öffentliche Planung wirk-
sam wird. Nicht die lokale Bevölkerung und ihre gewählten Vertreter, sondern pri-
vate Profitinteressen entscheiden darüber, wie sich Stadtgebiete entwickeln. Dabei
handelt es sich vielfach um globale Investoren, die die Stadtentwicklung prägen:
Shopping Malls, Erlebnisparks, Bürohochhäuser, Stadtautobahnen verdrängen lo-
kale Bevölkerung und lokales Gewerbe und vereinheitlichen das Antlitz der Städte
rund um den Globus.

Dazu haben die Strukturanpassungsprogramme der 90er-Jahre in den Ländern des
Südens ebenso beigetragen wie die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik in den
Ländern des Nordens. Privatisierungen haben die Steuerung von Stadtentwicklungs-
prozessen und den Zugang von großen Teilen der Bevölkerung zu Leistungen der
Daseinsvorsorge erschwert. Zugleich haben sich große Kapitalien gebildet, die in
private Infrastrukturprojekte oder im Angebot von privatisierten Dienstleistungen
investiert werden. Sie ersetzen zunehmend die öffentliche Hand, die im Zuge neoli-
beraler Umverteilungspolitik geschwächt wurde.

Viele dieser Prozesse sind auch den Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohnern in
Deutschland bekannt. Die Vernachlässigung des sozialen Wohnungsbaus und der
aktiven Mietpreisgestaltung ebenso wie die immer noch fortdauernde Privatisierung
von Wohnungen aus kommunalem, Landes- oder Bundesbesitz führen auch hier zu
Verdrängung und sozialer Segregation. Die Privatisierung kommunaler Daseinsvor-
sorge, etwa der Wasser- und Energieversorgung, und der Betrieb von öffentlichen
Einrichtungen in öffentlich-privaten Partnerschaften haben den Zugang zu wichtigen
Leistungen vielfach eingeschränkt und verteuert, haben die Kommunen viel Geld
gekostet und werden deshalb vielfach wieder rückgängig gemacht. Hier gibt es viel-
fältige Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches mit Kommunen in den Ländern
des Südens, die aktiv genutzt werden müssen.

In einigen Ländern des Südens wird versucht, Stadtentwicklung wieder zu einem
gesellschaftlich gesteuerten Prozess zu machen, das heißt zu demokratisieren und
vom Vermarktungsdruck zu befreien. In Venezuela sind vom Staat geförderte sozi-
ale Nachbarschaftsprojekte (misiones), Haus- und Fabrikbesetzungen sowie die
Gründung von kommunalen Räten wesentlicher Bestandteil der Stadtentwicklung.
Die Entwicklung des Städtesystems in Kuba ist dadurch gekennzeichnet, dass die
Hauptstadt Havanna über die letzten Jahrzehnte nicht überdurchschnittlich schnell
angewachsen ist, sondern die Mittelstädte und die ländlichen Kommunen eine we-
sentlich stärkere Rolle spielen in der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgü-
tern, Wohnraum und sozialen Dienstleistungen als in vergleichbaren Nachbarlän-
dern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Partnerschaften deutscher Kommunen mit Kommunen in den Ländern des Sü-
dens aktiv zu fördern und den Titel 685 71 Förderung des Kommunalen Enga-
gements im Kapitel 2302 des Bundeshaushaltes (Etats des Entwicklungsminis-
teriums) im Haushaltsentwurf deutlich zu erhöhen;

2. bei Regierungsverhandlungen die Interessen von Kommunen zu beachten und
die Kommunen sowohl aus Deutschland als auch aus dem jeweiligen Partner-
land nach Maßgabe des Partnerlands einzubinden;

3. im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit die staatlichen und kommunalen
Versorger in den Ländern des Südens zu stärken sowie kommunalen und genos-
senschaftlichen Wohnungsbau zu unterstützen;

4. den Aufbau sozialer Sicherungssysteme wie Arbeitslosen-, Berufsunfähigkeits-
und Rentenversicherungen in den Ländern des Südens ausschließlich im Rah-
men staatlicher Trägerschaft zu unterstützen;

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5. im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit die Stellung der Kommunen und

die Mitwirkung der Bevölkerung an Stadtentwicklungsprozessen zu stärken und
dabei den Schwerpunkt auf den Aufbau städtischer Funktionen in mittelgroßen
und kleinen Städten zu legen;

6. in allen urbanen Infrastrukturprojekten, die im Rahmen der deutschen Entwick-
lungszusammenarbeit durchgeführt werden, aktiv die Beteiligung der betroffe-
nen Bevölkerung zu suchen und zu fördern;

7. sich nicht an Privatisierungen oder der Umwandlung öffentlicher Leistungen in
öffentlich-private Partnerschaften zu beteiligen;

8. einen kommunalen Austausch über die Rückführung privatisierter oder in öf-
fentlich-privater Partnerschaft betriebener Leistungen der Daseinsvorsorge in
kommunale Verantwortung zwischen Kommunen in Deutschland und in den
Partnerländern zu befördern;

9. die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Land und Stadt zu fördern und für
den Aufbau von lokalen Wertschöpfungsketten zu nutzen mit dem Ziel, wirt-
schaftliche Perspektiven auch im ländlichen Raum zu schaffen und somit die
Abwanderung aus dem ländlichen Raum zu verringern;

10. in der Europäischen Union auf eine Neuausrichtung der Handelspolitik zu drän-
gen, die auf Liberalisierungsforderungen verzichtet und die es den Handelspart-
nern im Süden ermöglicht, ihre Landwirtschaft und Industrien im Aufbau vor
Verdrängungswettbewerb zu schützen, und

11. die umfangreichen Handelsabkommen CETA, TTIP und TISA zu stoppen, da
sie massiv in die kommunalen Entscheidungsmöglichkeiten über die Ausgestal-
tung der Daseinsvorsorge eingreifen und unwiderruflich Liberalisierungen vo-
rantreiben.

Berlin, den 16. Juni 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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