BT-Drucksache 18/4628

Umgang mit Verschlusssachen in Ministerien und Behörden des Bundes bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit

Vom 9. April 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4628
18. Wahlperiode 09.04.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dağdelen, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke,
Katrin Kunert, Martina Renner, Kersten Steinke, Frank Tempel, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Umgang mit Verschlusssachen in Ministerien und Behörden des Bundes bei der
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit

Am 7. Januar 2011 meldete die „BILD“, dass die „Organisation Gehlen“ und
später auch deren Nachfolger, der Bundesnachrichtendienst (BND), bereits seit
dem Jahr 1952 wusste, wo sich der für die Organisation der Vertreibung, Depor-
tation und Ermordung der europäischen Juden zuständige SS-Obersturmbann-
führer Karl Adolf Eichmann versteckte, dieses Wissen jedoch geheim hielt und
nicht an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden des Bundes oder befreunde-
ter Staaten weitergegeben hatte. Kurz darauf berichtete das Nachrichtenmagazin
„DER SPIEGEL“ (15. Januar 2011), dass der als „Schlächter von Lyon“ berüch-
tigte NS-Verbrecher Klaus Barbie im Jahr 1966 zeitweise Agent des BND gewe-
sen sei. Als Folge dieser Veröffentlichungen versprach der damalige BND-Chef
Ernst Uhrlau am 17. Januar 2011 „freien Aktenzugang“ für die Untersuchung
der Frühgeschichte des Geheimdienstes. Am 15. Februar 2011 wurde vom BND
eine Unabhängige Historikerkommission (UHK) berufen, um die Geschichte
des BND, seiner Vorläuferorganisationen sowie seines Personal- und Wirkungs-
profils in den Jahren 1945 bis 1968 und des Umgangs mit dieser Vergangenheit
aufzuarbeiten. Von November 2011 bis Januar 2015 erarbeitete zudem ein Team
unter der Leitung der Historiker Prof. Dr. Constantin Goschler und Prof. Dr.
Michael Wala von der Ruhr-Universität Bochum im Projekt „Die Organisations-
geschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz 1950–1975, unter besonde-
rer Berücksichtigung der NS-Bezüge früherer Mitarbeiter in der Gründungs-
phase“ eine Studie zu den braunen Wurzeln des Bundesamtes für Verfassungs-
schutz (BfV).
Am 24. Januar 2015 meldete „DER SPIEGEL“, dass laut Akten des BfV die
Verfassungsschutzbehörden in den Fünfzigerjahren mindestens zwei Quellen im
Umfeld von Adolf Eichmann, dem Cheflogistiker des Holocausts, gehabt hätten.
Die Informanten des BfV bezogen demnach ihre Kenntnisse von Altnazis, die
Adolf Eichmann in Buenos Aires getroffen hatten. So erreichte das BfV im
Februar 1958 die Nachricht, Adolf Eichmann lebe unter dem Namen „Clement“
in Argentinien, was beinahe zutraf, da sich Adolf Eichmanns Deckname „Kle-
ment“ schrieb. Das BfV habe daraufhin die westdeutsche Botschaft gebeten,
„Clement“ zu finden, was aber aus unbekannten Gründen nicht von Erfolg ge-
krönt gewesen sei. Im Jahr 1959 habe das BfV Berichte erhalten, dass der rechts-
radikale Verleger Eberhard Fritsch damit prahle, „Kontakt zu Eichmann“ zu ha-
ben, was zutraf. Daraufhin hätten Agenten den Auftrag erhalten, den „augen-
blicklichen Aufenthaltsort des Eichmann und evtl. weitere in der Bundesrepub-
lik bestehende Kontakte festzustellen“. Laut „SPIEGEL“-Meldung hätten sie

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nach Aktenlage Adolf Eichmann jedoch ebenfalls nicht finden können. Im Jahr
darauf gelang dies schließlich dem israelischen Geheimdienst, der Eichmann
nach Israel entführte, wo er nach seinem Prozess 1962 hingerichtet wurde (DER
SPIEGEL, vom 24. Januar 2015).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Treffen die Informationen aus dem „SPIEGEL“-Artikel vom 24. Januar

2015 zu?
2. Seit wann hatte die Bundesregierung von den entsprechenden BfV-Akten

Kenntnis?
3. Handelt es sich bei den nun bekannt gewordenen Akten um erst kürzlich im

Rahmen der Arbeit der Historikerkommission des BfV deklassifizierte
Dokumente, oder war deren Verschlusssachen-Klassifizierung schon vorher
abgelaufen?

4. Um welche BfV-Quellen im Umfeld von Adolf Eichmann handelte es sich?
5. Aus welchen Gründen waren nach Kenntnis der Bundesregierung die Ver-

suche, Adolf Eichmann alias Klement in den Jahren 1958 und 1959 zu fin-
den, jeweils nicht von Erfolg gekrönt, und hat die Bundesregierung Infor-
mationen darüber, dass die Suche ggf. gezielt sabotiert oder nur halbherzig
geführt gewesen sein könnte?

6. Hält die Bundesregierung es für glaubhaft, dass das BfV erst im Jahr 1958
vom Aufenthaltsort Adolf Eichmanns wusste, während dieser dem BND be-
reits seit dem Jahr 1952 bekannt war, und wenn ja, welche Gründe hatte es,
dass der BND sein Wissen dem BfV und anderen Sicherheitsbehörden und
der Justiz nicht zur Verfügung gestellt hat?

7. Existieren noch weitere, bislang unter Verschluss gehaltene, Aktenbestände
zu Adolf Eichmann bei Bundesministerien und Bundesbehörden?
Wenn ja, wo, in welchem Umfang, und wann ist jeweils mit ihrer Deklassi-
fizierung und Abgabe an das Bundesarchiv zu rechnen (bitte entsprechend
nach Bundesministerium oder Behörde, Aktenumfang in laufenden Metern,
Grund der anhaltenden Schutzfrist und voraussichtliches Datum der Akten-
öffnung bzw. Abgabe an das Bundesarchiv aufschlüsseln)?

8. In welchem Umfang wurden Akten mit NS-Bezug den diversen Historiker-
kommissionen und Forschungsprojekten zur Organisationsgeschichte und
NS-Vergangenheit in Ministerien und Behörden des Bundes aus Geheim-
haltungsgründen nicht zur Verfügung gestellt (bitte entsprechend nach Bun-
desministerium bzw. Behörde, Umfang der unter Verschluss gehaltenen
Akten in laufenden Metern und voraussichtlichem Datum der vollständigen
Aktenabgabe aufschlüsseln)?

9. In welchen Fällen gab es in den letzten Jahren Schutzfristverlängerungen
bzw. sogar Verschlusssachen-Neueinstufungen bei Akten mit NS-Bezug im
Verantwortungsbereich des Bundes, z. B. im Bundesministerium des Innern
(BMI), Bundeskanzleramt, beim BND, BfV, Auswärtigen Amt (AA) etc.
(bitte jeweils ab dem Jahr 2009 jährlich nach Bundesministerium bzw. Be-
hörde, Anzahl und Umfang der Dokumente in laufenden Metern, Grund der
Schutzfristverlängerung bzw. Verschlusssachen-Einstufung und Datum des
Fristablaufes aufschlüsseln)?

10. Kann die Bundesregierung die Aussage von Prof. Dr. Michael Wala auf der
BfV-Veranstaltung am 29. Januar 2015 im Deutschen Historischen Museum
bestätigen, wonach im Rahmen des Forschungsprojektes ein relevantes
Dokument für 30 weitere Jahre aus Sicherheitsinteressen gesperrt wurde, so
dass die Historiker darauf nicht zugreifen konnten?

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Wenn ja, um welche Akte handelt es sich, und welche Sicherheitsinteressen
wären durch eine Deklassifizierung konkret beeinträchtigt worden?

11. Gibt es Überlegungen bzw. Pläne für einen dauerhaften und institutionali-
sierten Aktenzugang zur wissenschaftlichen Forschung etc. nach Abschluss
der Arbeit der jeweiligen Historikerkommissionen, und wenn ja, wie sehen
diese jeweils konkret aus?

12. In welchem Umfang wurden bislang die Akten, die den diversen Historiker-
kommissionen und Forschungsprojekten zur Organisationsgeschichte und
NS-Vergangenheit in Ministerien und Behörden des Bundes zur Verfügung
standen, dem Bundesarchiv übergeben (bitte entsprechend nach Bundes-
ministerium bzw. Behörde, Umfang der abgegebenen und weiterhin nicht-
öffentlichen Akten in laufenden Metern und voraussichtlichem Datum der
vollständigen Aktenabgabe aufschlüsseln)?

Berlin, den 9. April 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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