BT-Drucksache 18/4579

Psychosoziale Betreuung und Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen

Vom 9. April 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4579
18. Wahlperiode 09.04.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Katja Kipping, Katrin Kunert,
Martina Renner, Kersten Steinke, Azize Tank, Frank Tempel, Harald Weinberg,
Birgit Wöllert und der Fraktion DIE LINKE.

Psychosoziale Betreuung und Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen

Unter dem Titel „Dringender Aufruf zur Sicherstellung der Psychosozialen Zen-
tren für Flüchtlinge und Folteropfer“ wandte sich die Bundesweite Arbeitsge-
meinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF)
am 4. März 2015 an die Öffentlichkeit. Die BAfF vertritt 30 von gemeinnützigen
Vereinen getragene Behandlungszentren in Deutschland, die auf die Betreuung
und Behandlung traumatisierter Flüchtlinge spezialisiert sind. In dem Aufruf
wird eine zum Teil dramatische Finanzsituation der psychosozialen Zentren be-
schrieben.
Ohnehin seien die Behandlungskapazitäten aufgrund steigender Asylzahlen viel
zu gering. Flüchtlinge aus Syrien etwa sind sehr häufig traumatisiert und immer
mehr Flüchtlinge leiden auch unter den traumatischen Bedingungen der illega-
lisierten Flucht nach Europa (z. B. gerettete Überlebende im Mittelmeer). Die
finanzielle Situation der Zentren verschärfte sich dramatisch, weil Mittel des
neuen EU-Fonds AMIF (Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds) nicht wie ge-
plant ab Anfang des Jahres 2015 zur Verfügung standen. Für viele Zentren sind
diese EU-Mittel eine wichtige oder sogar die Hauptfinanzierungsquelle. Obwohl
entsprechende Anträge rechtzeitig gestellt wurden, kam es zu Verzögerungen
von unabsehbarer Dauer. In der Folge mussten einzelne Zentren bereits bewährte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen, laufende Therapien mussten abge-
brochen und Wartelisten für neue Behandlungen geschlossen werden. Laut
BAfF droht ab Ende März 2015 sogar die Schließung ganzer Einrichtungen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft forderte wegen der Verzögerungen bei der Aus-
zahlung der AMIF-Mittel eine Zwischenfinanzierung durch öffentliche Geldge-
ber. Darüber sei aber auch eine abgesicherte und verbindliche Finanzierungsre-
gelung für Psychosoziale Zentren unter Beteiligung von Bund, Ländern und
Kommunen zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung für traumatisierte
Flüchtlinge erforderlich. Hierzu ist Deutschland auch infolge von EU-Recht ver-
pflichtet; die geänderte EU-Aufnahmerichtlinie verlangt insbesondere einen Zu-
gang zu einer „adäquaten medizinischen und psychologischen Behandlung“ für
Folteropfer und traumatisierte Flüchtlinge (Artikel 25 Absatz 1 der Richtlinie
2013/33/EU vom 26. Juni 2013).
Derzeit wird vielen traumatisierten Flüchtlingen in der Praxis jedoch die erfor-
derliche Hilfe und Behandlung ihrer seelischen und psychosomatischen Leiden
versagt, weil die Nachfrage die vorhandenen Kapazitäten um ein Vielfaches
übersteigt. Unbehandelte Erkrankungen können in der Folge zu Chronifizierun-
gen der Krankheitsbilder, zu Arbeitsunfähigkeit und zu einer Verschlimmerung
des Leidens für die betroffenen Menschen führen. Auch die Deutsche Gesell-

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schaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
(DGPPN) beklagte laut Meldung der Nachrichtenagentur „dpa“ vom 18. März
2015, dass Menschen mit traumatischen Erfahrungen in Deutschland, insbeson-
dere Flüchtlinge, unzureichend versorgt würden. Die BAfF beklagt insgesamt
eine „Fragmentierung der Zuständigkeiten“ in der Politik, weil sich letztlich nie-
mand für zuständig erkläre und die Verantwortlichkeiten von einem Politikfeld
bzw. Leistungsträger zum anderen verschoben würden. Die Bundesregierung
müsse sich deshalb für ein schlüssiges Gesamtkonzept und einen verbindlichen
Rahmen einsetzen.
Laut den Nachrichtenagenturen hat die Europäische Union das deutsche Pro-
gramm zur Umsetzung des AMIF in Höhe von 221,4 Mio. Euro für den Zeit-
raum von 2014 bis 2020 am 25. März 2015 bewilligt. Doch die Probleme einer
ausreichenden Finanzierung der spezialisierten Behandlungszentren sind damit
bei weitem nicht gelöst. Auf Antrag der fragestellenden Fraktion wurde die Fi-
nanzsituation der Zentren am 18. März 2015 im Innenausschuss des Deutschen
Bundestages behandelt. Dabei erklärte die Bundesregierung, dass die Gründe
für die Verzögerungen bei der Bewilligung der AMIF-Gelder auf EU-Ebene
lägen, die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen müsse im Übrigen
durch die Bundesländer sichergestellt werden. Zwischenfinanzierungen durch
den Bund seien schon deshalb nicht möglich, weil für die psychosoziale Versor-
gung traumatisierter Flüchtlinge im Rahmen des AMIF nur Gelder in Höhe von
2,1 Mio. Euro zur Verfügung stünden – es lägen aber Anträge auf Förderung in
Höhe von 4,8 Mio. Euro vor. Angesichts dieser Zahlen ist mit einem Einbruch
bei der spezialisierten psychosozialen Versorgung traumatisierter Flüchtlinge in
Deutschland selbst nach der nunmehr erfolgten grundsätzlichen Bewilligung der
AMIF-Gelder zu rechnen.
Weitere Probleme ergeben sich durch die Änderung des Asylbewerberleistungs-
gesetzes (AsylbLG) zum 1. März 2015. Obwohl dieses im Grunde Verbesserun-
gen enthält, gibt es auch – vermutlich ungewollte – negative Auswirkungen auf
die Behandlung traumatisierter Flüchtlinge, wenn diese aus dem AsylbLG her-
ausfallen und dadurch keine Kostenübernahme mehr gegeben ist. Auch hierauf
verweist die BAfF in einer Stellungnahme („Gefährdung der psychotherapeuti-
schen Versorgung Geflüchteter durch die Konsequenzen der AsylbLG-No-
velle“). Die Behandlungszentren sind demnach keine Vertragspartner der ge-
setzlichen Krankenkassen und die meisten Kassen wenden die Ausnahmebe-
stimmung nach § 13 Absatz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V;
Erstattungsverfahren) nicht zugunsten der Zentren an. Das hat zur Folge, dass
Psychotherapien, die bislang direkt nach dem AsylbLG abgerechnet wurden, ab-
gebrochen werden müssen, wenn kein gesetzlicher Leistungsträger die weiteren
Kosten übernimmt – nicht einmal aus Vertrauensschutzgründen und auch nicht,
wenn bereits Kostenzusagen der bislang zuständigen Landratsämter gegeben
wurden. Auch die Übernahme der, in der Regel für eine erfolgreiche therapeuti-
sche Behandlung zwingend notwendigen, Dolmetscherkosten ist zwar nach dem
AsylbLG vorgesehen, wird aber von den gesetzlichen Krankenkassen grund-
sätzlich nicht bezahlt, so die BAfF.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Ist der Bundesregierung der in der Vorbemerkung der Fragesteller benannte

„Aufruf zur Sicherstellung der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und
Folteropfer“ der BAfF von Anfang März 2015 bzw. die dort geschildete Pro-
blemlage (finanzielle Gefährdung entsprechender Zentren und drohende Ent-
lassung qualifizierter Kräfte durch verzögerte Mittelbewilligung aus dem
AMIF-Fonds) bekannt?
Welche Schlussfolgerungen zieht sie aus dieser Situation bzw. dem Aufruf,
und wie hat sie hierauf konkret reagiert?

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2. Was ist der Bundesregierung zu den Gründen der Verzögerung bei der Be-
willigung der nationalen Programme zur Verteilung der AMIF-Mittel auf
EU-Ebene bekannt, und inwieweit hat sie versucht, die Entscheidungspro-
zesse auf der EU-Ebene zu beschleunigen?

3. Was hat die Bundesregierung unternommen oder welche Sofortmaßnahmen
plant sie, um die Strukturen der psychosozialen Versorgung für traumati-
sierte Flüchtlinge nicht durch die verzögerte AMIF-Mittelgewährung zu ge-
fährden?

4. Was ist der Bundesregierung dazu bekannt, welche negativen Auswirkun-
gen die verzögerte AMIF-Mittelbewilligung in der psychosozialen Versor-
gung traumatisierter Flüchtlinge bereits hatte, etwa die Schließung von Ein-
richtungen, die Entlassung von Personal, die Schließung von Wartelisten
oder die Beendigung laufender Therapien (bitte ausführen)?

5. Was sieht das von der Europäischen Kommission nunmehr bewilligte natio-
nale Programm zur Gewährung der AMIF-Mittel im Detail vor, und wie
werden insbesondere die Mittel für die psychosoziale Betreuung und Be-
handlung traumatisierter Flüchtlinge verteilt (bitte im Einzelnen und im
Zeitverlauf darlegen)?

6. Nach welchen Kriterien wird entschieden, wie die Mittel für die psycho-
soziale Versorgung traumatisierter Flüchtlinge nunmehr verteilt werden,
und welche konkreten Entscheidungen wurden bislang getroffen (bitte die
Einzelanträge auflisten und vermerken, welchen Anträgen in welcher Höhe
entsprochen wird oder entsprochen werden soll)?

7. Welche Vorkehrungen trifft die Bundesregierung, damit die Zentren, deren
Anträge abgelehnt werden bzw. wurden, nicht schließen oder ihre Arbeit er-
heblich einschränken müssen – angesichts der voraussichtlich steigenden
Bedarfe entsprechend der gestiegenen Asylzahlen (bitte darlegen)?

8. In welchem Ausmaß stehen die AMIF-Mittel auch für die Betreuung und
Behandlung traumatisierter Flüchtlinge mit einer Duldung bzw. einer Auf-
enthaltserlaubnis zur Verfügung (bitte die Rechtsgrundlagen und Abgren-
zung genau darlegen)?
Wie wird sichergestellt, dass laufende Behandlungen traumatisierter Asyl-
suchender nicht infolge einer Anerkennung oder Ablehnung im Asylverfah-
ren abgebrochen werden müssen (bitte Rechtslage und Praxis darstellen)?

9. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, was hat sie unternommen
oder was plant sie, um auf die Bundesländer einzuwirken und sie gegebe-
nenfalls dabei zu unterstützen, eine finanzielle Absicherung und einen Aus-
bau der bestehenden Strukturen einer qualifizierten Versorgung traumati-
sierter Flüchtlinge zu erreichen?
Welche politischen oder rechtlichen Hindernisse oder Lösungswege sieht
sie diesbezüglich (bitte ausführen)?

10. Wie steht die Bundesregierung insgesamt zu der von der BAfF aufgestellten
Forderung nach einer langfristig abgesicherten Finanzierung der psychoso-
zialen Betreuungszentren für traumatisierte Flüchtlinge – auch unabhängig
von etwaigen EU-Mitteln –, insbesondere angesichts des voraussichtlich
steigenden Bedarfs?

11. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den von der
BAfF beschriebenen Problemen infolge der zum 1. März 2015 wirksam ge-
wordenen Änderungen des AsylbLG in rechtlicher und tatsächlicher Hin-
sicht?

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12. Welche Lösungswege sieht die Bundesregierung bzw. welche Initiativen
unternimmt sie, um dem Problem entgegenzuwirken, dass bereits begon-
nene Behandlungen oder Therapien abgebrochen werden müssen, wenn das
AsylbLG nicht mehr (direkt) anwendbar ist und eine Kostenübernahme
durch die gesetzlichen Krankenkassen nicht erfolgt, weil die spezialisierten
Behandlungszentren keine Vertragspartner sind und das Erstattungsverfah-
ren nicht zur Anwendung kommt (bitte auch die Rechtslage und Probleme
aus Sicht der Bundesregierung im Detail darlegen)?

13. Was ist der Bundesregierung dazu bekannt, welche Krankenkassen das Er-
stattungsverfahren zugunsten der psychosozialen Zentren für traumatisierte
Flüchtlinge und Folteropfer anwenden bzw. aus welchen Gründen die ande-
ren Krankenkassen dies ablehnen, und welche Schlussfolgerungen und
Konsequenzen zieht sie daraus?

14. Welche Lösungswege sieht die Bundesregierung bzw. welche Initiativen
unternimmt sie, um dem Problem entgegenzuwirken, dass Dolmetscherkos-
ten nach Information der Fragesteller im Rahmen der psychotherapeuti-
schen Behandlung von Flüchtlingen im Rahmen des AsylbLG regelmäßig
übernommen werden, dies aber von den gesetzlichen Krankenkassen nicht
mehr übernommen wird, etwa nach einer Anerkennung als Flüchtling (bitte
auch die Rechtslage und Probleme aus Sicht der Bundesregierung im Detail
darlegen)?

15. Inwieweit sieht sich die Bundesregierung zu einer Sicherstellung einer an-
gemessenen medizinischen und psychologischen Behandlung traumatisier-
ter Flüchtlinge verpflichtet vor dem Hintergrund, dass dies von der Richtli-
nie 2013/33/EU, insbesondere Artikel 19 Absatz 2 und Artikel 25 Absatz 1
der Richtlinie, gefordert wird?
Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es genügt, auf EU-Projektmit-
tel und die Zuständigkeit der Bundesländer zu verweisen, um eine Konfor-
mität der deutschen Rechtslage und Praxis mit EU-Recht herzustellen (bitte
ausführen)?

16. Wie will die Bundesregierung die Richtlinie 2013/33/EU – im Allgemeinen,
aber auch konkret die Bestimmungen zur psychosozialen Versorgung und
Behandlung von besonders schutzbedürftigen und traumatisierten Flücht-
lingen – umsetzen?
In welchem zeitlichen Verfahren und durch welche inhaltlichen Regelungen
in welchen Gesetzen soll dies geschehen (bitte ausführen)?
Geht die Bundesregierung davon aus, dass die bis spätestens Sommer 2015
erforderliche Umsetzung der Richtlinie noch zeitgerecht erfolgen wird, und
wenn nein, wie rechtfertigt sie dies angesichts dessen, dass die Umsetzungs-
verpflichtung der Richtlinie seit Juni 2013 besteht?

Berlin, den 9. April 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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