BT-Drucksache 18/4066

Beteiligung am Pilotprojekt "Intelligente Grenzen"

Vom 17. Februar 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4066
18. Wahlperiode 17.02.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Annette
Groth, Inge Höger, Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu, Petra Pau und
der Fraktion DIE LINKE.

Beteiligung am Pilotprojekt „Intelligente Grenzen“

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich darauf geeinigt, das seit
dem Jahr 2008 geplante System „Intelligente Grenzen“ im Jahr 2015 in einem
Pilotprojekt zu testen (Ratsdok. 17060/14). Bei allen Einreisen an den Außen-
grenzen sollen in einem „Ein/Ausreiseystem“ (EES) zukünftig bis zu zehn
Fingerabdrücke abgenommen werden. Dies beträfe sämtliche Angehörigen von
„Drittstaaten“. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob diese aus geschäftlichen,
touristischen oder schutzbedürftigen Gründen einreisen. Das System „Intelli-
gente Grenzen“ besteht aus einem weiteren Programm zur Bevorzugung von
„vertrauenswürdigen Vielreisenden“. Für eine Gebühr können vorab biometri-
sche Daten auf einer Chipkarte hinterlegt werden. Damit könnten die Reisenden
dann elektronische Kontrollgates nutzen, wie sie derzeit an mehreren deutschen
Flughäfen installiert werden. Das gesamte „Maßnahmenpaket intelligente Gren-
zen“ soll nach gegenwärtigem Stand 1,35 Mrd. Euro kosten. Die Europäische
Kommission hat noch keine Übersicht über ihre Verteilung auf den EU-Haushalt
bzw. die Haushalte der Mitgliedstaaten vorgelegt. Das Ziel des Projekts „Intel-
ligente Grenzen“ war zunächst, so genannte Over-Stayer aufzuspüren. Vielen
Mitgliedstaaten schienen die Investitionen jedoch unverhältnismäßig hoch.
Jedoch führte dies nicht zum Abbruch des Projekts: Vielmehr soll das System
nun auch Polizeibehörden zur Nutzung offenstehen. Die Bundesregierung
schlägt sich auf die Seite der Befürworter einer polizeilichen Nutzung der neuen
Vorratsdatenspeicherung und erklärt, „dass bessere statistische Erkenntnisse zur
Zahl der overstayer allein die Einführung eines EES nicht rechtfertigen können“
(Bundestagsdrucksache 18/455). Der frühere Bundesminister des Innern,
Dr. Hans-Peter Friedrich, plante die Ausweitung des Systems auf weitere Daten-
bestände („Zu prüfen wäre, ob der Datenabgleich auf weitere Datenbestände der
Mitgliedstaaten, insbesondere der Sicherheitsbehörden, ausgedehnt werden
sollte“, DER TAGESSPIEGEL vom 6. September 2013 „Innenminister Fried-
rich schlägt EU Online-Einreisesystem vor“). Möglich wäre etwa die biometri-
sche Datenbank Eurodac, das Visa-Informationssystem oder das Schengener In-
formationsystem (SIS II).
Im Herbst 2014 legte die Europäische Kommission Ergebnisse einer Machbar-
keitsstudie für das System „Intelligente Grenzen“ vor, die technische Konzepte
untersucht und bewertet hat (www.statewatch.org/news/2014/oct/eu-smart-
borders-report.pdf). Die dort genannten Möglichkeiten für die Verarbeitung bio-
metrischer Daten werden nun ab März 2015 in der Pilotstudie ausprobiert.
Zuständig ist die im Dezember 2012 in Estland eingerichtete Agentur für das
Betriebsmanagement von IT-Großsystemen (eu-LISA). Die Kosten der Studie

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werden mit 3,5 Mio. Euro angegeben. Getestet werden verschiedene Verfahren.
Immer wird das Gesichtsbild verarbeitet, das jedoch entweder mit vier, acht oder
allen zehn Fingerabdrücken kombiniert wird. Auch bei der Abnahme der dakty-
loskopischen Daten kommen verschiedene Geräte zur Anwendung. So soll zum
einen die an den Außengrenzen bereits existierende Technologie eingesetzt wer-
den. Versuche werden aber auch mit der „neuesten Generation von Fingerab-
druckscannern“ unternommen. Hierzu gehören tragbare Geräte, die sowohl mit
oder ohne direktem Kontakt der Finger funktionieren sollen. Auch die elektro-
nischen Kontrollgates an Flughäfen und die damit womöglich verkürzten War-
tezeiten werden einer Eignungsprüfung unterzogen. Ergebnisse der Pilotstudie
sollen im September 2015 vorliegen, im November 2015 werden diese nach
jetzigem Stand in einem Bericht veröffentlicht. Dann soll sich das Europäische
Parlament damit befassen, damit das System „Intelligente Grenzen“ zügig ein-
geführt werden kann. Das Ratsdokument nennt als Zeitpunkt hierfür „Mitte
2016“.
Bei dem System „Intelligente Grenzen“ handelt es sich, wie bei der Fluggast-
datensammlung EU-PNR, um eine Vorratsdatenspeicherung von Reisenden. Der
Plan, Polizeibehörden ebenfalls Zugriff zu gewähren, lässt auf eine Nutzung
zum Profiling (auch in Echtzeit) schließen. Aus Sicht der Fragesteller handelt es
sich dabei um eine Art alltäglicher Rasterfahndung.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche aktuelle Kostenschätzung für das gesamte „Maßnahmenpaket intelli-

gente Grenzen“ ist der Bundesregierung bekannt?
2. Welche Gebühren für eine Chipkarte oder einen Token mit dort hinterlegten

biometrischen Daten hält die Bundesregierung in einem Programm zur Be-
vorzugung von „vertrauenswürdigen Vielreisenden“ für realistisch?

3. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den Ergebnissen
einer im Oktober 2014 von der Europäischen Kommission vorgelegten
Machbarkeitsstudie zum „Maßnahmenpaket intelligente Grenzen“?

4. Für wie realistisch hält die Bundesregierung die bisherige Kostenkalkulation
in Bezug auf das EES, auf welche Summe beläuft sich diese derzeit (bitte
inhaltlich so differenziert wie möglich auflisten, EU- bzw. nationale Anteile
sowie einmalige Investitionen und laufende Kosten getrennt ausweisen und
zudem bitte im Zeitverlauf darstellen), und welche Kostenrisiken sieht die
Bundesregierung mittlerweile?

5. Inwiefern kam nach Kenntnis der Bundesregierung die Europäische Kom-
mission mittlerweile den Bitten von Mitgliedstaaten nach einer detaillierten
Darstellung der Kosten des „Maßnahmenpakets intelligente Grenzen“ und
ihrer Verteilung auf den EU-Haushalt nach, und welche Schlussfolgerungen
und Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dieser Schätzung?

6. Inwieweit ist für die Bundesregierung mittlerweile absehbar, ob Kosten und
Nutzen eines „Maßnahmenpakets intelligente Grenzen“ in einem angemesse-
nen Verhältnis stehen?

7. Mit welcher Begründung haben nach Kenntnis der Bundesregierung einzelne
Mitgliedstaaten im Rahmen der Verhandlungen auf EU-Ebene Zweifel am
Mehrwert des EES geäußert, wenn dieses nicht auch von Strafverfolgungsbe-
hörden genutzt werden könne, und wie ist die Position der Bundesregierung
hierzu (bitte ausführen)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4066
8. Inwiefern ist die Meinungsbildung der Bundesregierung zur Frage, ob das
im „Maßnahmenpaket intelligente Grenzen“ vorgesehene EES auch zur
Abwehr und Verfolgung „terroristischer und sonstiger schwerwiegender
Straftaten“ genutzt werden könnte, inzwischen abgeschlossen, bzw. welche
Überlegungen werden hierzu derzeit angestellt?

9. Inwieweit ist ein Zugang von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zum
„Maßnahmenpaket intelligente Grenzen“, das auf eine biometrische Erfas-
sung aller kurzfristig einreisenden Drittstaatsangehörigen hinausläuft, aus
Sicht der Bundesregierung mit den Vorgaben des Bundesverfassungs-
gerichts bzw. des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vorratsdaten-
speicherung und dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
sowie mit datenschutzrechtlichen Grundsätzen, wie der Zweckbindung, der
Datensparsamkeit und der Erforderlichkeit vereinbar?

10. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung diesbezüglich aus
der Machbarkeitsstudie der Europäischen Kommission?

11. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zu den in der Machbarkeits-
studie untersuchten technischen Konsequenzen des Zugangs von Polizeibe-
hörden zum EES und dem Schluss, „dass der Umfang beträchtlich wäre“,
was die Europäische Kommission unter anderem mit „Bedarf an Zugangs-
kontrollmechanismen für die Überprüfung der Identität und der Zugangs-
rechte der Bediensteten und an angemessenen technischen Garantien gegen
Missbrauch“ angibt (www.tinyurl.com/o75qrm7)?

12. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zu dem gegenwärtigen Vor-
schlag der Europäischen Kommission für das EES, das keinen Zugang für
Strafverfolgungsbehörden vorsieht, aber festlegt, „dass diese Frage zwei
Jahre nach Inbetriebnahme des Systems geprüft werden soll“?

13. Auf welche Weise könnten aus Sicht der Bundesregierung, wie von der
Europäischen Kommission gefordert, „von den Rechtsetzungsorganen
klare Regeln für den Datenzugang und die Datenverarbeitung durch Straf-
verfolgungsbehörden und wirksame Datenschutzgarantien vereinbart wer-
den“?

14. Inwiefern hat sich die Bundesregierung mittlerweile eine (abschließende)
Meinung zu einer Ausweitung des „Entry/Exit-Systems“ auch auf länger-
fristige Aufenthalte von Drittstaatsangehörigen gebildet, bzw. wie hat sie
sich in Diskussionen hierzu positioniert?

15. Mit welchen Auswirkungen auf die Wartezeiten bei Grenzkontrollen in-
folge des „Maßnahmenpakets intelligente Grenzen“ ist aus Sicht der Bun-
desregierung mittlerweile zu rechnen, und welche Schlussfolgerungen zieht
die Bundesregierung aus den Angaben der Machbarkeitsstudie?

16. Welche „außenpolitische Erwägungen“ spielen bei der Meinungsbildung
der Bundesregierung zur Frage, ob auch die bisher von der Visumpflicht
befreiten Drittstaatsangehörigen im Zuge der Errichtung des „Maßnahmen-
pakets intelligente Grenzen“ künftig biometrische Daten (Fingerabdrücke)
abgeben sollen, eine Rolle?

17. Inwiefern ist die Meinungsbildung der Bundesregierung hierzu inzwischen
abgeschlossen, bzw. wie hat sie sich in Diskussionen hierzu positioniert?

18. Inwiefern ist der geplante Umzug von Eurodac von Räumlichkeiten der
Europäischen Kommission in Luxemburg und Brüssel nach Strasbourg
mittlerweile wie vorgesehen am 21. Juni 2014 umgesetzt worden, bzw.
welche weiteren Schritte sind der Bundesregierung hierzu bekannt (Bun-
destagsdrucksache 18/1832)?

Drucksache 18/4066 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
19. Inwiefern ist die Meinungsbildung der Bundesregierung zur Frage, inwie-
fern eu-LISA weitere Datenbanken (insbesondere ein „Maßnahmenpaket
intelligente Grenzen“) verwalten könnte und um welche es sich dabei han-
deln könnte, inzwischen abgeschlossen (Bundestagsdrucksache 18/1832)?

20. Was ist der Bundesregierung zu Überlegungen oder Warnungen ausländi-
scher Sicherheitsbehörden bekannt, dass ihre verdeckt agierenden Agenten
oder Ermittler durch das „Maßnahmenpaket intelligente Grenzen“ wegen
dort verarbeiteter biometrischer Daten bei der Einreise in die EU auffliegen
könnten (www.wikileaks.org/cia-travel/press-release.html)?

21. Inwiefern haben US-Behörden nach Kenntnis der Bundesregierung dies be-
reits in bilateralen Gesprächen oder auf EU-Ebene thematisiert, und welche
Verabredungen wurden hierzu getroffen?

22. Auf welche Weise wird sich die Bundesregierung an Tests des Systems „In-
telligente Grenzen“ im Rahmen eines Pilotprojekts beteiligen (Ratsdok.
17060/14)?

23. Wann und wo sollen Tests in Deutschland stattfinden, und wen hat das Bun-
desministerium des Innern als Projektmanager benannt?

24. Welche Tests werden durchgeführt, und welche technischen Anlagen wel-
cher Hersteller werden hierfür genutzt bzw. installiert?

25. Welche Kosten entstehen für die Tests (bitte aufschlüsseln)?
26. Wie viele Reisende werden nach derzeitiger Schätzung in Deutschland am

Pilotprojekt teilnehmen?
27. Welche deutschen Firmen werden an den Tests beteiligt, und aufgrund wel-

cher „geltenden Vorschriften“ wurden diese ausgewählt (www.tinyurl.com/
o75qrm7)?

28. Welche EU-Agenturen oder weiteren Partner (auch Firmen) sind nach
Kenntnis der Bundesregierung am EU-weiten Pilotprojekt beteiligt, und
welche Beiträge werden von ihnen jeweils erbracht (bitte sofern bekannt,
nicht nur für eu-LISA, sondern auch nach den Mitgliedstaaten aufschlüs-
seln)?

29. Inwiefern wird die Bundesregierung gegenüber der Europäischen Kommis-
sion die Übernahme von Kosten für die Tests geltend machen, und welche
Schritte hat sie hierfür unternommen?

30. Sofern keine Kosten geltend gemacht werden, welche Gründe sind hierfür
maßgeblich?

31. Welchen Beitrag haben der Vizepräsident beim Bundeskriminalamt, Peter
Henzler, und M. W. vom Bundesministerium des Innern am 4. Februar 2015
als „nationale Experten“ vor dem EU-Parlament zur Notwendigkeit bzw.
Nichtnotwendigkeit einer EU-Vorratsdatenspeicherung von Passagierdaten
(EU-PNR) gehalten (bitte die Kernaussagen kurz erläutern)?

32. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zur zügigen Weiterverfolgung
des geplanten und nunmehr verzögerten „Roll out“ des Visa-Informations-
systems VIS in der Ukraine und in Russland (www.statewatch.org/news/
2015/feb/eu-council-vis-roll-out-final-compromise-5731-15.pdf)?

Berlin, den 17. Februar 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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