BT-Drucksache 18/3996

Polizeikontrollen im Zusammenhang der unerlaubten Einreise und Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland

Vom 11. Februar 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3996
18. Wahlperiode 11.02.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Kerstin Kassner, Petra Pau, Martina
Renner, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Polizeikontrollen im Zusammenhang der unerlaubten Einreise und
Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland

Die Europäische Kommission hat am 16. Oktober 2014 ein Vertragsverletzungs-
verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet, wegen unzulässi-
ger Binnengrenzkontrollen (Verstoß gegen Artikel 20 und Artikel 21a des
Grenzkodex, siehe taz.die tageszeitung vom 22. Dezember 2015 „Brüssel rüffelt
Grenzkontrollen“).
Die Abgeordnete Ulla Jelpke hatte im November 2012 die Europäische Kom-
mission in einem Brief zu einem solchen Schritt aufgefordert. Sie verwies dabei
auf das „Melki-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 22. Juni
2010, mit dem genauere gesetzliche Regelungen zur Begrenzung von stich-
punktartigen Binnengrenzkontrollen hinsichtlich ihrer Intensität und Häufigkeit
gefordert werden, um das Prinzip einer unkontrollierten Reisefreiheit innerhalb
der Europäischen Union (EU) auch in der Praxis sicherzustellen (vgl. hierzu
auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/11015). Solche Regelungen fehlen je-
doch im deutschen Recht, im Gegensatz etwa zu den Niederlanden, wo es effek-
tive quantitative Beschränkungen für solche Polizeikontrollen gibt (vgl. Urteil
des EuGH vom 19. Juli 2012, C-278/12 PPU). Die Europäische Kommission
teilte die vorgebrachten Bedenken und wandte sich an die deutschen Behörden;
eine Einigung konnte jedoch nicht erzielt werden. Aus der Antwort der Bundes-
regierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdruck-
sache 18/3654, Antwort zu Frage 22) ergibt sich im Groben die Begründung der
Kommission für die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens: „Die Euro-
päische Kommission hat rechtliche Bedenken gegen § 23 Absatz 1 Nummer 3
BPolG erhoben. Nach Meinung der Europäischen Kommission soll die Norm
hinsichtlich der Intensität und Häufigkeit von Kontrollen Beschränkungen vor-
geben.“ Auf Nachfragen im Innenausschuss des Deutschen Bundestages am
17. Dezember 2014 erklärte die Bundesregierung, dass sie in Verhandlungen mit
der Europäischen Kommission stehe und durch untergesetzliche Maßnahmen
Zweifel an der Vereinbarkeit deutschen Rechts mit EU-Recht begegnen wolle.
Einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf sieht sie nicht (Bundestagsdruck-
sache 17/11015, Antwort zu Frage 14a).
Trotz mehrfacher Nachfragen ist die Bundesregierung nicht bereit, dem Deut-
schen Bundestag das Einleitungsschreiben der Europäischen Kommission im
Wortlaut zur Verfügung zu stellen. Sie beruft sich dabei auf eine Lücke im Ge-
setz, das die Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Parla-
ment in Angelegenheiten der EU regelt (EuZBBG – Gesetz über die Zusammen-
arbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der

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Europäischen Union, hier §4 Absatz 6). Demnach sind die Abgeordneten über
Vertragsverletzungsverfahren in Bezug auf eine fehlerhafte Umsetzung von EU-
Richtlinien zu informieren. Die Bundesregierung zieht daraus den Schluss, dass
eine solche Informationspflicht in Bezug auf eine fehlerhafte Umsetzung von
Verordnungen (wie dem EU-Grenzkodex) nicht bestünde. Dabei handelt es sich
nach Ansicht der Fragestellerinnen und Fragesteller offenkundig um eine unge-
wollte Gesetzeslücke, denn das EuZBBG sieht im Übrigen eine umfassende Un-
terrichtungspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag
zu allen Vorgängen auf der EU-Ebene vor (§ 3 EuZBBG). Im Jahr 2012 gab es
in Deutschland 2,5 Millionen Personenkontrollen der Bundespolizei im grenz-
nahen Raum zur Verhinderung unerlaubter Einreisen auf der Grundlage des § 23
Absatz 1 Nummer 3 des Bundespolizeigesetzes (BPolG; vgl. Bundestagsdruck-
sache 17/14569, Frage 14). Gut 20 000 Mal wurde im Jahr 2012 eine unerlaubte
Einreise bzw. ein unerlaubter Aufenthalt festgestellt (ebd., zu Frage 15), auch in-
folge von Befragungen nach § 22 Absatz 1a BPolG bzw. nach Durchsuchungen
nach § 44 Absatz 2 BPolG.
Bei diesen Polizeikontrollen im grenznahen Raum geht es auch um die Bekämp-
fung grenzüberschreitender Kriminalität. Wesentliches Motiv ist auch die Be-
kämpfung von unerlaubten Grenzübertritten, die von Personen begangen wer-
den, die als Asylsuchende in die EU eingereist sind. Sie müssen nach der Dub-
lin-Verordnung im Land der Ersteinreise ihr Asylverfahren betreiben. Die Fahn-
dung nach unerlaubt Einreisenden steht in der Kritik, Praktiken des „racial
profiling“ bei Polizeikontrollen in Grenznähe zur Folge zu haben (vgl. Institut
für Menschenrechte, Studie „Racial Profiling – Menschenrechtswidrige Perso-
nenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz“).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Mit welcher Begründung verweigert die Bundesregierung den Abgeordneten
des Deutschen Bundestages eine Kenntnisnahme des Einleitungsschreibens
der Europäischen Kommission (siehe Vorbemerkung der Fragesteller)?

2. Ist die Bundesregierung inzwischen bereit, dem Deutschen Bundestag den
Wortlaut des Einleitungsschreibens der Europäischen Kommission zur Ver-
fügung zu stellen, wenn nein, welche weiteren Ausführungen zum Inhalt des
Schreibens und der rechtlichen und tatsächlichen Begründung lassen sich
machen, und wurde in dem Schreiben insbesondere auch die Gefahr eines
„racial profiling“ bei in ihrer Intensität und Häufigkeit nicht näher begrenzten
Kontrollen thematisiert?

3. Wie ist der aktuelle Stand des Vertragsverletzungsverfahrens, und welche
Schritte werden folgen (bitte ausführen)?

4. Wie soll der Vorgabe des EuGH im „Melki-Urteil“ nach gesetzlichen Rege-
lungen zur Häufigkeit und Intensität von Kontrollen nachgekommen werden,
wenn es die Bundesregierung laut Auskunft im Innenausschuss des Deut-
schen Bundestages (siehe Vorbemerkung der Fragesteller) dabei belassen
will, untergesetzliche Regelungen zu treffen?

5. Wie soll bei untergesetzlichen Regelungen eine parlamentarische oder öffent-
liche Kontrolle sichergestellt werden, angesichts des Umstands, dass sich die
Bundesregierung in der Vergangenheit trotz mehrfacher Nachfragen der Ab-
geordneten Ulla Jelpke (vgl. Bundestagsdrucksache 17/12646, Schriftliche
Frage 10, S. 6) geweigert hat, eine Weisung der Bundespolizeidirektion zu
Kontrollen bei Flügen aus Griechenland im Wortlaut zur Verfügung zu stel-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3996
len, obwohl angesichts der Presseberichterstattung über systematische Per-
sonenkontrollen bzw. Personenbefragungen (vgl. taz.die tageszeitung vom
18. September 2012 „Halten Sie ihren Pass bereit“) Zweifel daran be-
standen, ob die Auskünfte der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache
17/11015 zum Inhalt der Weisung zutreffend waren (bitte ausführen)?

6. In welchem Umfang hat die Bundespolizei im Jahr 2013 bzw. im Jahr 2014
(bitte differenziert darstellen) von § 22 Absatz 1a BPolG, § 23 Absatz 1
BPolG und § 44 Absatz 2 BPolG Gebrauch gemacht (bitte für die einzelnen
Bundespolizeidirektionen jeweils nach Grenzgebiet, Inland und Flughäfen
sowie nach Fortbewegungsmittel differenziert auflisten)?

7. In welchem Umfang wurden in den genannten Zeiträumen bei anlasslosen
Befragungen oder Kontrollen der Bundespolizei (bitte jeweils auch nach der
Rechtsgrundlage differenzieren) Verstöße welcher Art festgestellt, und wie
viele Feststellungen betrafen insbesondere die Tatbestände unerlaubter Auf-
enthalt, unerlaubte Einreise bzw. sonstige Verstöße gegen das Aufenthalts-
gesetz?

8. Wie verteilten sich jeweils Befragungen, Feststellungen zur Personenfahn-
dung, zur Sachfahndung, zu strafrechtlichen Delikten und von unerlaubter
Einreise und unerlaubtem Aufenthalt (bitte getrennt angeben) in den ge-
nannten Zeiträumen auf Grenzgebiet, Inland und Flughäfen?

9. Welches waren die zehn Hauptherkunftsländer bei Feststellungen von un-
erlaubter Einreise bzw. unerlaubtem Aufenthalt im Jahr 2013 und im Jahr
2014 durch die Bundespolizei (bitte nach Bundespolizeidirektion und Fort-
bewegungsmittel differenzieren)?

10. In wie vielen Fällen wurde insgesamt im Jahr 2013 bzw. im Jahr 2014 ein
Verdacht auf eine unerlaubte Einreise bzw. einen unerlaubten Aufenthalt
durch die Behörden von Bund und Ländern festgestellt (bitte nach den
Hauptherkunftsstaaten differenziert und für beide Jahre getrennt angeben)?

11. In welchem Umfang sind welche Strafen wegen unerlaubter Einreise bzw.
unerlaubten Aufenthalts gegen wie viele Personen (bitte auch nach den zehn
wichtigsten Staatsangehörigkeiten differenzieren) in den Jahren 2013 bzw.
2014 (bitte getrennt angeben) verhängt worden?

12. Wie erklärt die Bundesregierung, dass nach ihren Angaben im Durchfüh-
rungszeitraum der Europäischen Polizeioperation Mos Maiorum in der
Bundesrepublik Deutschland 2 664 Personen im Inland und 470 Personen
an den Außengrenzen ohne Aufenthaltstitel bzw. Einreiseerlaubnis festge-
stellt wurden (Bundestagsdrucksache 18/3654), nach den Angaben aus dem
Abschlussbericht Italiens aber 3 129 bzw. 509 Personen (Ratsdokument
5474/15)?
Zu welchen der Angaben auf Bundestagsdrucksache 18/3654 sind aufgrund
von Nachmeldungen etc. gegebenenfalls noch weitere Korrekturen ange-
zeigt?

13. Wie viele Einreiseverbote und Aufenthaltsverbote liegen derzeit gegen wie
viele Personen vor (bitte auch nach den zehn wichtigsten Staatsangehörig-
keiten und dem Jahr der Verfügung differenzieren), und was lässt sich
Genaueres über die Bereinigung des Ausländerzentralregisters in Bezug auf
rechtswidrige Einreiseverbote infolge der Rechtsprechung des EuGH

Drucksache 18/3996 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
(Urteil vom 19. September 2013 in der Sache Filev/Osmani) sagen (wie
ging die Bereinigung vor sich, wie lange hat sie gedauert, wie viele Daten-
sätze wurden überprüft bzw. bereinigt, welche Kosten sind entstanden, wie
viele Behörden bzw. Personal waren beteiligt usw.)?

Berlin, den 10. Februar 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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