BT-Drucksache 18/3904

Systematische Kontrollen an den EU-Außengrenzen ohne Änderung des Schengener Grenzkodex

Vom 30. Januar 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3904
18. Wahlperiode 30.01.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Andrej Hunko, Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, Christine
Buchholz, Sevim Dağdelen, Annette Groth, Ulla Jelpke, Niema Movassat,
Dr. Alexander S. Neu, Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak und der Fraktion
DIE LINKE.

Systematische Kontrollen an den EU-Außengrenzen ohne Änderung des
Schengener Grenzkodex

Nach den Anschlägen in Paris trafen sich am 11. Januar 2015 die Innenminister
von zehn Staaten der Europäischen Union in der französischen Hauptstadt und
berieten mit dem Innenkommissar der Europäischen Union über weitere Mög-
lichkeiten gegen „ausländische Kämpfer“. Zu den beschlossenen Maßnahmen
gehören mehr Kontrollen an den Außengrenzen der Europäischen Union, um
„ausländische Kämpfer“ bei der Aus- und Wiedereinreise an den Außengrenzen
feststellen zu können (Joint Statement vom 11. Januar 2015). Die verstärkten
Grenzkontrollen gehen auf die UN-Resolution 2178 vom September 2014 zu-
rück. Sie fordert von den 193 UN-Mitgliedstaaten, auf ihren Hoheitsgebieten die
Rekrutierung, den Transport, die Durchreise, Finanzierung, Organisierung und
Ausrüstung von „Terroristen“ oder „terrorbereiten Personen“ zu verhindern.
Personen, die innerhalb der Europäischen Union das Recht auf Freizügigkeit ge-
nießen, dürfen laut dem Schengener Grenzkodex beim Grenzübertritt nur spora-
disch und keinesfalls systematisch kontrolliert, durchsucht oder ihre Ausweis-
dokumente mit Datenbanken abgeglichen werden. Zulässig ist lediglich eine
„Mindestkontrolle“ zur Feststellung der Identität und eine Überprüfung der
Echtheit und Gültigkeit des vorgezeigten Reisedokuments. Vor Einführung sys-
tematischer Sachfahndungsabfragen von Reisedokumenten und nichtsystema-
tischer Personenfahndungsabfragen von Staatsangehörigen der Europäischen
Union an Außengrenzen der Europäischen Union müsste also der Schengener
Grenzkodex geändert werden. So steht es auch in der Erklärung der zehn in Paris
zusammengekommenen Innenminister („the rules of the Schengen Borders
Code should be amended in a timely fashion“, veröffentlicht vom Bundesminis-
terium des Innern am 11. Januar 2015).
Medienberichten zufolge haben Grenzbehörden aus Österreich und Deutschland
aber bereits damit begonnen, Einreisende aus „Risiko-Destinationen“ verstärkt
zu kontrollieren (Der Standard Online vom 12. Januar 2015). Die Rechtsgrund-
lage hierfür ist unklar. Die Bundesregierung hatte hierzu in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage erklärt, der Schengener Grenzkodex sehe vor, dass die „Kon-
trollintensität“ an den Außengrenzen schon jetzt „lageangepasst durch einen
Abgleich von Personen und Sachen mit Dateien erhöht werden“ könne (Bundes-
tagsdrucksache 18/3236). Gleichwohl wies das antwortende Bundesministerium
des Innern darauf hin, dass eine „Harmonisierung des Abgleichs von Personen
und Sachen mit Dateien bei Grenzkontrollen an den Außengrenzen der Schen-

Drucksache 18/3904 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
genstaaten auf EU-Ebene erörtert“ werde. Dort hatte die Ratsarbeitsgruppe
Grenzen die Möglichkeit ins Spiel gebracht, systematische Kontrollen als nicht-
systematische Kontrollen zu betrachten (www.statewatch.org/news/2015/jan/
eu-council-foreign-fighters-schengen-border-code-16880-14.pdf). Diese könn-
ten auf Basis einer „Risikoabschätzung“ oder zufällig erfolgen („can be carried
out on the basis of risk assessment or on a random basis“). Nur jene Personen
würden dann systematisch kontrolliert, die zuvor als „Risiko“ klassifiziert wür-
den. Als Beispiel gelten Personen, die aus „Konfliktgebieten“ zurückreisen. Die
Kontrollen müssten aber verhältnismäßig sein. Die Mitgliedstaaten müssten zu-
vor bestimmte Bedrohungen definieren und eine zeitliche Befristung festlegen.
Eine Einigung auf eine solche Definition ist den Fragestellern aber nicht be-
kannt.
Ähnlich hatten sich die Mitgliedstaaten bereits in Treffen geäußert, zu denen die
Europäische Kommission geladen hatte. Demnach sei eine weite Auslegung
nichtsystematischer Fahndungsabfragen möglich, ohne den Schengener Grenz-
kodex zu ändern (www.statewatch.org/news/2014/nov/eu-foreign-fighters-16002-
14.pdf). Allerdings sei hierfür eine gemeinsame Interpretation existierender Be-
stimmungen nötig („a common interpretation of the existing provisions was ne-
cessary“). Diese müsse im „Handbuch für Grenzschutzbeamte“ niedergelegt
werden. Die Existenz einer solchen neuen Festlegung ist den Fragestellern aber
nicht bekannt.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie genau sind systematische bzw. nichtsystematische Sachfahndungsabfra-

gen von Reisedokumenten und systematische bzw. nichtsystematische Per-
sonenfahndungsabfragen an den Außengrenzen der Europäischen Union aus
Sicht der Bundesregierung im Schengener Grenzkodex definiert bzw. auszu-
legen?

2. Was kann aus Sicht der Bundesregierung darunter faktisch verstanden wer-
den?

3. Auf welcher Rechtsgrundlage könnten aus Sicht der Bundesregierung schon
jetzt systematische Kontrollen von Staatsangehörigen der Europäischen
Union an Außengrenzen der Europäischen Union durchgeführt werden (bitte
die Fundstelle im Schengener Grenzkodex angeben)?

4. Welche Empfehlungen gibt die Europäische Kommission hinsichtlich der
Auslegung des Artikel 7 Absatz 2 im Schengener Grenzkodex für nichtsys-
tematische Kontrollen, und wie werden diese hinsichtlich ihres Stichproben-
charakters von der Bundesregierung bewertet?

5. Welche Datenbanken sollten aus Sicht der Bundesregierung für systemati-
sche Sachfahndungsabfragen von Reisedokumenten und nichtsystematische
Personenfahndungsabfragen an Außengrenzen im Rahmen von Personen-
und Sachfahndungsabfragen zulässig sein?

6. In welcher Hinsicht müsste der Schengener Grenzkodex aus Sicht der Bun-
desregierung geändert werden, um eine endgültige Rechtsgrundlage für aus-
geweitete systematische Sachfahndungsabfragen von Reisedokumenten und
nichtsystematische Personenfahndungsabfragen zum Aufspüren der Reise-
bewegungen „ausländischer Kämpfer“ zu schaffen?

7. Inwiefern ist es aus Sicht der Bundesregierung denkbar oder bereits möglich,
erweiterte systematische Sachfahndungsabfragen von Reisedokumenten und
nichtsystematische Personenfahndungsabfragen auch ohne Änderung des
Schengener Grenzkodex auszuführen, indem sich die Mitgliedstaaten einfach
auf dessen andere Auslegung einigen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3904
8. Wo müsste dies dann fixiert werden?
9. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zum Ratsdokument 16880/14

und den dort fixierten informellen Empfehlungen für einen gemeinsamen
Ansatz bzw. eine gemeinsame Auslegung in Bezug auf die Kontrolle von
Personen, die das Unionsrecht auf freien Personenverkehr genießen (Arti-
kel 7 Absatz 2 des Schengener Grenzkodex)?

10. Inwiefern ist es aus Sicht der Bundesregierung denkbar, systematische Sach-
fahndungsabfragen von Reisedokumenten und nichtsystematische Perso-
nenfahndungsabfragen lediglich durch eine Änderung des „Leitfadens für
Grenzschutzbeamte“ (auch als „Schengen-Handbuch“ bezeichnet) rechtlich
zu begründen?

11. Welche Bedingungen müssten hierfür eingehalten werden, und inwiefern
werden diese derzeit auf EU-Ebene beraten?

12. Inwiefern hält die Bundesregierung eine Prüfung zur Machbarkeit und zum
Nutzen erweiterter systematischer Sachfahndungsabfragen von Reisedoku-
menten und nichtsystematischer Personenfahndungsabfragen für erforder-
lich?

13. Wo, wie und von wem wird nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit
geprüft, ob erweiterte systematische Sachfahndungsabfragen von Reise-
dokumenten und nichtsystematische Personenfahndungsabfragen Rechts-
änderungen erforderlich machen?

14. Worin könnten aus Sicht der Bundesregierung auf EU-Ebene festgelegte
gemeinsame Risikoindikatoren bestehen, um erweiterte systematische
Sachfahndungsabfragen von Reisedokumenten und nichtsystematische
Personenfahndungsabfragen an den Außengrenzen der Europäischen Union
durchzuführen?
a) Welche Angaben zu Alter, Geschlecht, Herkunft, Religionszugehörig-

keit, Gepäck und Aussehen der Reisenden hält die Bundesregierung der-
zeit als Risikoindikatoren für geeignet?

b) Inwiefern könnten diese Risikofaktoren aus Sicht der Bundesregierung
auch „Reisegewohnheiten“ enthalten?

15. Auf welche Weise könnten die Risikoindikatoren aus Sicht der Bundes-
regierung in der zukünftigen Praxis auch über die Auswertung von Flug-
gastdaten (Passenger Name Records – PNR – oder Advance Passenger In-
formation) überprüft bzw. abgeglichen werden?

16. Inwiefern werden nach Kenntnis der Bundesregierung die gemeinsamen
Risikoindikatoren bereits auf EU-Ebene festgelegt, und inwiefern ergeben
sich hierbei Hindernisse?
a) Wer hat nach Kenntnis der Bundesregierung im Januar 2015 an Exper-

tentreffen zu gemeinsamen Risikoindikatoren teilgenommen, und wel-
che Vereinbarungen hinsichtlich einer gemeinsamen Liste wurden dort
getroffen?

b) Welche weiteren Ämter, Agenturen und Gremien der Europäischen
Union oder sonstigen Beteiligten arbeiten nach Kenntnis der Bundes-
regierung bei der Bestimmung der Risikoindikatoren zusammen?

c) Wann ist nach Kenntnis der Bundesregierung ein Konsens über den An-
satz bzw. die Auslegung zu erwarten?

d) Wann soll nach Kenntnis der Bundesregierung darüber beraten werden,
ob das Schengen-Handbuch zu ändern ist?

Drucksache 18/3904 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
17. Welche Angaben hat die Bundesregierung in einer Stellungnahme zu einem
bereits existierenden Entwurf einer Risikoindikatoren-Liste gemacht?

18. Auf welche Weise hat sich die Bundesregierung selbst seit dem Jahr 2013
dafür eingesetzt, das Schengen-Handbuch oder den Schengener Grenz-
kodex in Bezug auf nichtsystematische Personenkontrollen zu ändern?

19. Auf welchen Sitzungen von Ratsarbeitsgruppen der Europäischen Union
wurde dies nach Kenntnis der Bundesregierung in den Jahren 2014 und
2015 thematisiert?

20. Inwiefern nehmen Bundesbehörden schon jetzt systematische Kontrollen an
den deutschen Außengrenzen der Europäischen Union vor?
a) Wo und von wem werden diese Kontrollen vorgenommen?
b) Inwiefern erfolgen diese Kontrollen auf der Grundlage von Risikobewer-

tungen bzw. Risikoindikatoren, und worin bestehen diese?
c) Wann und von wem wurden diese Risikobewertungen bzw. Risikoindi-

katoren erstellt?
d) Sofern bereits Risikobewertungen bzw. Risikoindikatoren existieren,

welche Angaben machen diese konkret zu Alter, Geschlecht, Herkunft,
ethnischer Zugehörigkeit, Religionszugehörigkeit, Gepäck und Ausse-
hen der Reisenden?

e) Welche Datenbanken werden bei den Kontrollen im Regel- und Aus-
nahmefall abgefragt?

21. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, inwiefern auch das SIRENE-
Handbuch hinsichtlich des erwünschten Aufspürens „ausländischer Kämp-
fer“ geändert werden soll bzw. wurde?

22. Was ist der Bundesregierung aus Diskussionen in Ratsarbeitsgruppen da-
rüber bekannt, welche weiteren Staaten Änderungen im Passgesetz oder
anderen Ausweisgesetzen vornehmen, um „ausländische Kämpfer“ am Rei-
sen zu hindern, bzw. inwiefern handelt es sich dabei um ein europaweit ab-
gestimmtes Vorgehen?

23. Inwiefern und mit welchem Ergebnis hat die Bundesregierung vor der Än-
derung des Pass- bzw. Personalausweisgesetzes zur Einziehung von Aus-
weisdokumenten Überlegungen angestellt, ob sich die an der Ausreise ge-
hinderten Personen durch die Zwangsmaßnahme erst recht „radikalisieren“
und militante Aktionen im Inland statt im nichteuropäischen Ausland ver-
üben könnten?

24. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, ob und wann eine neue Ka-
tegorie für „ausländische Kämpfer“ oder „gesuchte Djihadisten“ im Schen-
gener Informationssystem (SIS II) eingerichtet werden soll?

25. Welche Kategorien existieren nach Kenntnis der Bundesregierung bereits
jetzt im SIS II?

26. Inwiefern müsste für eine neue Kategorie aus Sicht der Bundesregierung der
Ratsbeschluss der Europäischen Union zum SIS II und die nachfolgende
Verordnung geändert werden, und was ist der Bundesregierung über ent-
sprechende Anstrengungen bekannt?

27. Inwiefern könnte sich die Einrichtung einer solchen Kategorie aus Sicht der
Bundesregierung auch unterhalb der Schwelle von Rechtsänderungen ab-
spielen, und wie wäre dies konkret zu verstehen?

28. Wie viele Personen würden Bundesbehörden nach gegenwärtigem Stand in
eine neue Kategorie für „ausländische Kämpfer“ oder „gesuchte Djihadis-
ten“ eintragen bzw. haben sie bereits dort eingetragen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/3904
29. Welche Stelle wäre für eine Kategorie „ausländische Kämpfer“ oder „ge-
suchte Djihadisten“ hinsichtlich der Datenpflege und Datenlöschung zu-
ständig, und wo wird diese angesiedelt?

30. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, dass einige Mitgliedstaaten
„durch technische Probleme daran gehindert“ seien, die systematische
Überprüfung von Reisedokumenten durchzuführen (www.statewatch.org/
news/2014/nov/eu-foreign-fighters-16002-14.pdf), etwa weil deren Reise-
dokumente nicht über eine maschinenlesbare Zone verfügen, deshalb keine
Datenbankabfrage durchgeführt werden kann und es in der Folge zu Warte-
zeiten kommt?

31. Um welche Mitgliedstaaten handelt es sich nach Kenntnis der Bundesregie-
rung dabei?

32. Was ist der Bundesregierung über den aktuellen Stand der von Mexiko an-
gekündigten Strafzahlungen für Fluglinien bekannt, die vorab keine PNR-
Daten übermitteln (Bundestagsdrucksache 18/1441)?
a) Welche Summe soll die Strafzahlung nach derzeitigem Stand betragen,

und ab wann soll sie erhoben werden?
b) Wann haben welche Beauftragte der Europäischen Union hierzu mit wel-

chem Ergebnis mit der mexikanischen Regierung verhandelt?
c) Inwiefern hat sich auch die Bundesregierung in diese Gespräche einge-

bracht?
33. Was ist der Bundesregierung über Pläne bekannt, ein automatisiertes Sys-

tem zur Identifizierung mittels Fingerabdrücke („Automated Fingerprint
Identification System“ – AFIS) in das SIS II aufzunehmen?
a) Wie viele Fingerabdrücke sollten dabei verarbeitet werden?
b) Welchen Nutzen hätte ein solches System aus Sicht der Bundesregie-

rung, und wie hat sie sich hierzu positioniert?
c) Inwiefern würden sich aus Sicht der Bundesregierung mit einem AFIS

Synergieeffekte mit bereits vorhandenen daktyloskopischen Datenban-
ken ergeben?

d) Inwiefern würde ein AFIS aus Sicht der Bundesregierung eine Konkur-
renz zu bestehenden oder geplanten Systemen (etwa dem System „Intel-
ligente Grenzen“) darstellen?

34. Was soll nach Kenntnis der Bundesregierung nach dem Upgrade auf das
SIS II mit den technischen Gerätschaften des SIS I und des SISNET ge-
schehen, und wer ist für die Deinstallation, den Verkauf oder die Verschrot-
tung von Anlagen zuständig?

Berlin, den 29. Januar 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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