BT-Drucksache 18/3475

Beobachtung von Funktionsträgern und sonstigen Bürgern der DDR durch westdeutsche Nachrichtendienste

Vom 4. Dezember 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3475
18. Wahlperiode 04.12.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, Dr. André Hahn,
Ulla Jelpke, Kerstin Kassner, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Frank Tempel,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Beobachtung von Funktionsträgern und sonstigen Bürgern der DDR
durch westdeutsche Nachrichtendienste

Die Geschichte des Kalten Krieges und mit ihr die Geschichte der deutsch-
deutschen Beziehungen zwischen 1949 und dem 3. Oktober 1990 ist auch eine
Geschichte der gegenseitigen geheimdienstlichen Beobachtung und Über-
wachungen. Das ausufernde und exzessive Überwachungsinteresse des Ministe-
riums für Staatssicherheit (MfS) der Deutschen Demokratischen Republik
(DDR), das sich vor allem gegen seine eigenen Bürgerinnen und Bürger richtete,
aber auch das Überwachungsinteresse der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA)
gegen Bürgerinnen und Bürger und politische und sonstige Führungsgruppen
westlicher Staaten, ist durch die Öffnung der Archive der Geheimdienste der
DDR weitgehend aufgeklärt. Anders sieht es dagegen mit Antworten zu Fragen
aus, mit welchen Mitteln und mit welcher Begründung die Geheimdienste der
Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und dem 3. Oktober 1990 Men-
schen und Einrichtungen in der DDR beobachtet und überwacht haben.
Bereits die Organisation Gehlen, der Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes
(BND), verfügte 1953 für seine Informationsbeschaffung über zwei getrennte,
aber miteinander verwobene Apparate: „Die militärische und wirtschaftliche
Aufklärung gegen die DDR wurde von der Dienststelle 50 D koordiniert, welche
die politische Spionage der Dienststelle 40 organisatorisch unterstützte. Beide
Apparate griffen auf ein Agentennetz zurück, das von etwa einem Dutzend Au-
ßenstellen unterhalten wurde.“ (Bodo Hechelhammer (Hg.), bearbeitet von
Ronny Heidenreich, Dokumente der „Organisation Gehlen“ zum Volksaufstand
am 17. Juni 1953, Berlin 2013 – MFGBND 6).
Im Beschaffungsauftrag des BND hatte neben der UdSSR nur die DDR fast
durchgehend die Priorität 1 (laut offizieller Definition: „Höchstes Interesse. Ab-
solut vorrangiger Ansatz von Kapazität und Mitteln.“, vgl. u. a. Erich Schmidt-
Eenboom: Schnüffler ohne Nase. Der BND – die unheimliche Macht im Staate.
Düsseldorf (u.) 1993, S. 55). Diese Priorität wird nicht zuletzt auch in der Struk-
tur der Abteilung 1 „Operative Aufklärung“ sichtbar: Allein drei Referate der
Unterabteilung 12 „Sowjetblock“ waren für die Arbeit mit Agenten gegen die
DDR zuständig, davon zwei Referate für Militärspionage. (vgl. ebd., S. 74 ff.).
In den für den Zeitraum Oktober 1955 bis Oktober 1989 durch das zuständige
MfS-Referat IX/1 erstellten monatlichen Berichten für die Vorbereitung von
Strafverfahren gegen mutmaßliche West-Spione in der DDR werden insgesamt
1 382 durch das MfS überführte tatsächliche oder vermeintliche West-Spione
benannt (vgl. Paul Maddrell: Im Fadenkreuz der Stasi: Westliche Spionage in

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der DDR. Die Akten der Hauptabteilung IX, in: Vierteljahreshefte für Zeit-
geschichte, Band 61, Heft 2, S. 141 bis 171, 4/2013). Während der britische His-
toriker Paul Maddrell also etwa 1 400 Zuträger westlicher Geheimdienste zählt,
kamen bereits vor einigen Jahren die deutschen Historiker Armin Wagner und
Matthias Uhl anhand von freigegebenen BND-Akten allein für den Bereich der
gegen die Nationale Volksarmee gerichteten westdeutschen Spionage zu einer
konservativ geschätzten Gesamtzahl von etwa 10 000 Personen (vgl. Armin
Wagner/Matthias Uhl: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage
in der DDR. Berlin 2007).
Erst am 5. Februar 1990 gab der Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung
die Einstellung der „G-10-Maßnahmen“ gegen Privatpersonen mit DDR-Kon-
takten bekannt. Am 31. März 1990 wurde das MfS aufgelöst. Der frühere DDR-
Innenminister Peter-Michael Distel trat jedoch noch im September 1990 mit der
Behauptung an die Öffentlichkeit, „daß noch immer Agenten des Bundesnach-
richtendienstes in Ostberliner Ministerien unentdeckt sitzen.“ (zit. nach ebd.,
S. 81).
Nach eigenen Aussagen gegenüber den Fragestellern wurde der frühere Vor-
sitzende des Ministerrats der DDR, Hans Modrow, in der Umbruchphase der
DDR vom damaligen Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl auf das Thema der Über-
wachung der Kommunikation des Bundeskanzlers vonseiten der DDR ange-
sprochen, die daraufhin auch eingestellt worden sei.
Hans Modrow war vom 13. November 1989 bis 12. April 1990 der vorletzte
Vorsitzende des Ministerrates der DDR. Später war er Abgeordneter im Bundes-
tag (1990 bis 1994) und im Europaparlament (1999 bis 2004). Er war Ehren-
vorsitzender der PDS und ist jetzt Vorsitzender des Ältestenrates der Partei DIE
LINKE.
Laut einem Schreiben vom damaligen Bundesminister des Innern, Hans-Peter
Friedrich, vom 13. März 2014 wurden von 1965 bis 2012 über Hans Modrow
durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Informationen erhoben. Erst
„mit Umstellung der Beobachtungskriterien des BfV betreffend die Partei
‚DIE LINKE.‘ und deren Mitglieder Ende des Jahres 2012 wurde diese Er-
hebung eingestellt.“ Da die gesammelten Informationen als zeitgeschichtlich
bedeutsam eingestuft wurden, müssten sie dementsprechend ans Bundesarchiv
(BArch) abgegeben werden. Die Daten seien gesperrt worden und dürften daher
nicht mehr durch das BfV genutzt oder vernichtet werden. Ein Übergabeverfah-
ren an das BArch sei eingeleitet worden.
Für eine Aufklärung der Geschichte des Kalten Krieges und der gegenseitigen
geheimdienstlichen Beobachtung und Überwachung der beiden deutschen Staa-
ten wäre es wichtig, mehr über die Tätigkeiten westdeutscher Geheimdienste in
diesem Zusammenhang zu erfahren. Es handelt sich um ein abgeschlossenes
Kapitel deutscher, europäischer und internationaler Geschichte, eine stärkere
Beleuchtung auch der Rolle der westdeutschen Geheimdienste in dieser Ge-
schichte sollte also möglich sein.
Die Fragesteller räumen der Bundesregierung im Interesse einer umfassenden
Beantwortung der Fragen eine mögliche Fristverlängerung ein.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Von wann bis wann wurde Hans Modrow von welchem westdeutschen Nach-

richtendienst beobachtet bzw. Informationen über ihn erhoben (bitte nach
Jahren und Diensten und Art der Erfassung aufschlüsseln), und was war der
Anlass für die jeweilige nachrichtendienstliche Beobachtung?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3475
2. Wurden nachrichtendienstliche Mittel zur Beobachtung und Informations-
erhebung der Person Hans Modrow eingesetzt, wann wurden diese Mittel
eingesetzt, um welche nachrichtendienstlichen Mittel handelte es sich dabei,
von welchem Nachrichtendienst wurden sie eingesetzt, und wer hat diese
Maßnahmen jeweils angeordnet, veranlasst oder genehmigt (bitte nach Jah-
ren und Diensten aufschlüsseln)?

3. Wie viele personenbezogene Vorgänge gegen Bürgerinnen und Bürger der
DDR bzw. der sowjetischen Besatzungszone gab es vonseiten der westdeut-
schen Nachrichtendienste (Organisation Gehlen 1946 bis 1956, BfV ab 1950,
BND und Militärischer Abschirmdienst – MAD ab 1956) im Zeitraum von
1946 bis zum 3. Oktober 1990 insgesamt, und welche nachrichtendienst-
lichen Mittel wurden dabei eingesetzt (bitte nach Jahren, Anzahl der perso-
nenbezogenen Vorgänge und jeweils eingesetzten nachrichtendienstlichen
Mitteln – mindestens basierend auf den Jahresberichten von BND, BfV und
MAD von 1956 bis 1991 aufschlüsseln)?

4. Wie viele der in der Frage 3 genannten Vorgänge wurden jeweils vom BfV,
BND, MAD oder einer ihrer Vorläuferdienste durchgeführt?

5. Nach welchen Kriterien (Voraussetzungen, Gründe und Ziele) wurde eine
Beobachtung und Informationserhebung gegenüber der politischen Führung
der DDR durch westdeutsche Nachrichtendienste veranlasst, und zu welchen
Veränderungen kam es hier im Zeitraum von 1949 bis zum 3. Oktober 1990?
a) Wurden die jeweiligen Mitglieder und Kandidaten des Politbüros der

DDR beobachtet, bzw. nach welchen Kriterien wurden Mitglieder und
Kandidaten des Politbüros beobachtet?

b) Wurden die jeweiligen Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees
(ZK) der SED beobachtet, bzw. nach welchen Kriterien wurden Mitglie-
der und Kandidaten des ZK beobachtet?

c) Wurden die jeweiligen SED-Kreisleitungen der DDR beobachtet, bzw.
nach welchen Kriterien wurden SED-Kreisleitungen beobachtet?

d) Wurden die jeweiligen SED-Bezirksleitungen der DDR beobachtet, bzw.
nach welchen Kriterien wurden SED-Bezirksleitungen beobachtet?

e) Wurden die jeweiligen Mitglieder der Volkskammer der DDR beobachtet,
bzw. nach welchen Kriterien wurden Mitglieder der Volkskammer beob-
achtet?

6. Gab es zeitweise oder für den gesamten Zeitraum bis zum 3. Oktober 1990
eine Schwelle in der politischen Hierarchie der DDR, ab der eine Beobach-
tung seitens westdeutscher Nachrichtendienste quasi automatisch einsetzte,
und wo lag gegebenenfalls diese Schwelle?

7. Gab es eine Arbeitsteilung westdeutscher Nachrichtendienste bezüglich der
Beobachtung bestimmter Zielpersonen, z. B. im Hinblick auf ihre Tätigkeit
in der DDR oder ihre Tätigkeit im Bereich der Auslandskontakte der DDR,
und wie sah eine solche Arbeitsteilung gegebenenfalls aus?

8. Welche Massenorganisationen und Parteien der DDR neben der SED wurden
zwischen 1949 und dem 3. Oktober 1990 von westdeutschen Nachrichten-
diensten in welcher Form beobachtet (bitte nach Organisationen und Zeit-
raum der Beobachtung aufgliedern)?

9. Wurden Funktionäre von Massenorganisationen und Parteien der DDR neben
der SED beobachtet, nach welchen Kriterien erfolgte eine Beobachtung, und
gab es eine bestimmte (wenn ja, welche) hierarchische Schwelle, ab der
Funktionäre solcher Massenorganisationen und Parteien beobachtet wurden
(bitte nach Massenorganisationen, Parteien, jeweiligen Funktionären bzw.
Funktionen aufschlüsseln)?

Drucksache 18/3475 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
10. Gab es zwischen 1949 und dem 3. Oktober 1990 Beobachtungen und Infor-
mationserhebungen durch westdeutsche Nachrichtendienste im Bereich von
a) Betrieben der DDR,
b) der Wissenschaft der DDR,
c) den Medien der DDR,
d) den Kirchen der DDR,
e) den Kultureinrichtungen der DDR,
f) den Wissenschaftseinrichtungen der DDR,
und nach welchen Kriterien wurden Personen bzw. Organisationen zur Be-
obachtung ausgewählt?

11. Wie viele Personen wurden in den in Frage 10 unter den Buchstaben a bis f
genannten Bereichen zwischen 1949 und dem 3. Oktober 1990 durch west-
deutsche Nachrichtendienste beobachtet (bitte nach Bereichen aufschlüs-
seln)?

12. Treffen nach Kenntnis der Bundesregierung die Annahmen von Wagner/Uhl
zur militärischen Spionage des BND gegen die Nationale Volksarmee sowie
sowjetische Truppen in der DDR zu (bitte begründen)?

13. Wurden nach dem 9. November 1989 auch Mitglieder von Bürgerrechts-
gruppen und neuer, unabhängiger Parteien in der DDR von westdeutschen
Nachrichtendiensten beobachtet, und wenn ja, um welche Gruppen und wel-
chen Zeitraum handelt es sich hierbei, auf welcher Bewertung beruhte deren
Beobachtung, und wer ordnete diese an?

14. Wurden Mitglieder des „Runden Tisches“ in der DDR durch westdeutsche
Nachrichtendienste beobachtet, und wenn ja, um welche Mitglieder han-
delte es sich hierbei, in welchem Zeitraum fand die Beobachtung statt, auf
welcher Bewertung dieser Mitglieder beruhte sie, und wer ordnete diese an?

15. Wurde Hans Modrow ab November 1989 als Vorsitzender des Ministerrates
der DDR von westdeutschen Nachrichtendiensten beobachtet?
Wenn ja, welcher Nachrichtendienst beobachtete Hans Modrow mit wel-
chen Mitteln, welche Gefahr ging von Hans Modrow aus, und was war der
Anlass für seine Beobachtung?

16. Wurde Lothar de Maizière während seiner Amtszeit als letzter Minister-
präsident der DDR vom 12. April bis 2. Oktober 1990 von westdeutschen
Nachrichtendiensten beobachtet?
Wenn ja, welcher Nachrichtendienst beobachtete Lothar de Maizière mit
welchen Mitteln, welche Gefahr ging von Lothar de Maizière aus, und was
war der Anlass für seine Beobachtung?

17. Hat die Bundesregierung Kenntnisse über ein Treffen von Hans Modrow
und den damaligen Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl am 3. Februar 1990 in
Davos, bei dem Dr. Helmut Kohl Hans Modrow um ein Ende seiner
Kommunikationsüberwachung durch Nachrichtendienste der DDR gebeten
haben soll, und gibt es zu diesem Treffen eine Aktennotiz?

18. Welcher westdeutsche Nachrichtendienst oder welche andere Sicherheits-
behörde der Bundesrepublik Deutschland hat die Kommunikationsüber-
wachung vom damaligen Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl wann entdeckt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/3475
19. Hat nach Kenntnissen der Bundesregierung die Kommunikationsüber-
wachung von Dr. Helmut Kohl durch die Nachrichtendienste der DDR nach
diesem Treffen in Davos aufgehört, und welcher westdeutsche Nachrichten-
dienst oder welche andere Sicherheitsbehörde hat das Ende der Überwa-
chung geprüft und bestätigt?

20. Hat sich im Gegenzug an der Beobachtung und Überwachung von Hans
Modrow durch westdeutsche Nachrichtendienste nach dem Treffen in Da-
vos etwas geändert, und wenn ja, zu welchen Änderungen ist es gekommen?

21. In welcher Form und mit welchen Mitteln wurde Hans Modrow während
seiner Tätigkeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag im Zeitraum von
1990 bis 1994 durch welche westdeutschen Nachrichtendienste beobachtet?

22. In welcher Form und mit welchen Mitteln wurde Hans Modrow während
seiner Tätigkeit als Abgeordneter im Europäischen Parlament im Zeitraum
von 1999 bis 2004 durch welche westdeutschen Nachrichtendienste be-
obachtet?

23. Wie viele Funktionsträger oder sonstige Bewohner der DDR waren nach
Kenntnis der Bundesregierung von den „G-10-Maßnahmen“ gegen west-
deutsche Privatpersonen mit DDR-Kontakten betroffen?

24. Trifft nach Kenntnis der Bundesregierung die Aussage des damaligen DDR-
Innenministers Peter Michael Distel zu, dass sich noch im September 1990
„Agenten des Bundesnachrichtendienstes in Ostberliner Ministerien“ be-
fanden, und wenn ja, um wie viele Personen in welchen Funktionen han-
delte es sich dabei?

25. Welche Aktenbestände mit Informationen zur Beobachtung von Funktions-
trägern und sonstigen Bewohnern der DDR durch westdeutsche Nachrich-
tendienste existieren in den entsprechenden Bundesministerien, Bundes-
behörden und Bundesarchiven (z. B. BArch, BfV, BND, Auswärtiges Amt,
Bundeskanzleramt, Stasiunterlagenbehörde), und welchen Umfang haben
diese Dokumente (bitte nach Aufbewahrungsort und Umfang in laufenden
Metern aufschlüsseln)?

26. Wann ist nach Kenntnis der Bundesregierung jeweils wo und unter welchen
Voraussetzungen Akteneinsicht möglich?

Berlin, den 4. Dezember 2014

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anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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