BT-Drucksache 18/3470

Menschenrechte und politische Situation in Nigeria

Vom 3. Dezember 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3470
18. Wahlperiode 03.12.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Tom Koenigs, Luise Amtsberg, Omid Nouripour, Uwe Kekeritz
und der Fraktion der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechte und politische Situation in Nigeria

Seit Anfang des Jahres 2014 haben die Gewaltakte durch die Terrorgruppe Boko
Haram im Norden Nigerias wieder stark zugenommen. Allein in den ersten
sechs Monaten dieses Jahres kamen laut Human Rights Watch 2 053 Menschen
durch Kampfhandlungen und Attentate ums Leben. In mehreren Staaten im
Nordosten Nigerias wurde im Mai 2013 der Ausnahmezustand ausgerufen und
seitdem nicht mehr aufgehoben. Die 276 Mädchen, die im April 2014 entführt
wurden, bleiben weiterhin verschwunden. Boko Haram hat ihre Macht in den
nördlichen Regionen des Landes konsolidiert; ihr Anführer Abubakar Shekau
rief in einem Video am 24. August 2014 ein Kalifat aus. Regelmäßig verübt
Boko Haram trotz des am 17. Oktober 2014 verkündeten Waffenstillstands wei-
tere Anschläge und Entführungen. Ungeklärt scheint nach wie vor, wie Boko
Haram sich finanziert, wer ihre Unterstützerinnen und Unterstützer sind und wie
ihre strategischen Ziele aussehen.
Der Konflikt hat auch regionale Auswirkungen, insbesondere auf die Nachbar-
staaten Niger und Kamerun. Die beiden Staaten haben allein in diesem Jahr
mehr als 25 000 Flüchtlinge aus Nigeria aufgenommen, zusätzlich zu den
50 000 Flüchtlingen, die seit April 2013 an der nigerischen Grenze Zuflucht ge-
sucht haben. Zudem werden sie vermehrt zum Aktionsgebiet der Terrororganisa-
tion, die dort auch Kämpferinnen und Kämpfer rekrutiert. Der United Nations
High Commissioner for Refugees (UNHCR) und Partnerorganisationen haben
für die Versorgung der 75 000 nigerianischen Flüchtlinge in Kamerun, Tschad
und Niger auf einen dringenden Finanzbedarf von 34 Mio. US-Dollar hingewie-
sen (UNHCR Briefing Note, www.unhcr.org/54180ff39.html). Die Aufständi-
schen von Boko Haram haben mittlerweile die Kontrolle über mehrere Grenz-
städte und Grenzorte übernommen und von dort aus wiederholt Angriffe auf den
Norden Kameruns verübt. Aufgrund dieser Lage im Grenzgebiet ist es äußerst
schwierig und gefährlich für Flüchtlinge, nach Kamerun zu gelangen. Auch der
UNHCR ist nicht in der Lage, Flüchtlinge aus den unsicheren Grenzgebieten in
das ca. 120 Kilometer von der Grenze in Kamerun befindliche Minawao-Camp
zu bringen (UNHCR-Pressemitteilung, 31. Oktober 2014). Die Krise hat außer-
dem zur Vertreibung von 650 000 Menschen innerhalb Nigerias geführt.
Die Terrorakte von Boko Haram wurden von der nigerianischen Regierung bis-
her vor allem militärisch bekämpft, trotz der Ankündigung eines flankierenden
„soft approach“ durch den Nationalen Sicherheitsberater Mohammed Sambo
Dasuki im März 2014. Dabei wird immer wieder von Menschenrechtsverletzun-
gen seitens der nigerianischen Sicherheitskräfte berichtet, darunter extralegale
Tötungen, Folter und Verschwindenlassen. Laut Menschenrechtsorganisationen
werden unter Terrorismusverdacht stehende Personen regelmäßig ohne Ge-

Drucksache 18/3470 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
richtsverfahren und unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten,
misshandelt und in manchen Fällen sogar getötet. Ein Bericht von Amnesty In-
ternational von September 2014 beschreibt die routinemäßige Folter durch nige-
rianische Sicherheitskräfte. Die Gefängnisse sind überbelegt, das Justizwesen
überlastet, Angeklagte verbringen manchmal Jahre in Untersuchungshaft. Der
EU-Menschenrechtsbericht 2013 zu der Lage in Nigeria betont die Notwendig-
keit, das Justiz- und Sicherheitssystem zu reformieren und den Fokus auf Be-
kämpfung von Folter, Misshandlungen, extralegalen Tötungen, Straflosigkeit,
Gewalt gegen Kinder und Frauen sowie auf die Bekämpfung der Todesstrafe zu
legen.
Nigeria ist einer der Partner der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in
Afrika. Schwerpunkte sind u. a. Armutsbekämpfung, nachhaltige Wirtschafts-
entwicklung und Energiepolitik. Im Rahmen einer fokussierten thematischen
Zusammenarbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ) kooperiert die Bundesregierung mit der nigerianischen
Regierung unter anderem in Form eines bilateralen Programms zur Aus- und
Fortbildung von Sicherheitskräften für Missionen der Vereinten Nationen und
zur Terrorismusbekämpfung.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie bewertet die Bundesregierung die menschenrechtliche Situation in

Nigeria, insbesondere im Hinblick auf die Praxis der Todesstrafe und extra-
legalen Tötungen, Folterungen in Gefängnissen und Einschränkungen von
Presse- und Meinungsfreiheit?

2. Wie reagiert die Entwicklungszusammenarbeit auf die derzeitige Lage im
Land?
Gedenkt die Bundesregierung ihre Schwerpunkte in der Entwicklungs-
zusammenarbeit auf eine Stärkung des Justizsystems und die Förderung
demokratischer Partizipation, insbesondere im Hinblick auf die Stärkung
von Frauenrechten, auszuweiten?

3. Wie hoch sind die Barmittelzusagen der Bundesregierung für die Entwick-
lungszusammenarbeit mit Nigeria für das Jahr 2015?

4. Inwiefern werden menschenrechtliche Aspekte in die Kooperationspro-
gramme des BMZ im Wirtschafts- und Energiesektor einbezogen?

5. Inwiefern engagiert sich die Bundesregierung für eine Stärkung des nige-
rianischen Bildungswesens, insbesondere im Norden des Landes?

6. Mit welchen Maßnahmen unterstützt die Bundesregierung die Arbeit der
nigerianischen Menschenrechtskommission?

7. Inwiefern engagiert sich die Bundesregierung für eine Reform des Justiz-
sektors, insbesondere im Hinblick auf die Achtung der Menschenrechte?

8. Gibt es bilaterale Vereinbarungen zum Schutz von Menschenrechten?
Welche Zusagen hat die nigerianische Regierung gegenüber der Bundes-
regierung zum Schutz der Menschenrechte gemacht?

9. In welcher Form plant die Bundesregierung, Nigeria beim Kampf gegen
Boko Haram, wie vom Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter
Steinmeier, während seines Besuchs im Oktober 2014 angekündigt, zu un-
terstützen?

10. Welche Hilfsmaßnahmen sollen dabei den Opfern von Boko Haram zugute-
kommen, insbesondere den Dörfern der im April 2014 entführten Mädchen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3470
11. In welcher Weise soll – wie von Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter
Steinmeier angekündigt – die Zusammenarbeit mit Nigeria im Sicherheits-
und Polizeisektor ausgebaut werden?
a) Welche Polizei- und Armeeeinheiten werden ausgebildet bzw. beraten?

Wo?
b) Welche Maßnahmen bei der Ausbildung sind für das Jahr 2015 geplant?

12. Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um zu vermeiden, dass
die mit deutscher Unterstützung ausgebildeten Sicherheitskräfte im Rahmen
der Terrorismusbekämpfung menschenrechtswidrige Handlungen begehen?

13. Welche Ausbildungsmaßnahmen im Bereich Menschenrechtsbildung der
Sicherheitskräfte wurden bereits mit deutscher Unterstützung durchgeführt?

14. Inwiefern setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass Angehörige der
nigerianischen Streitkräfte, die Menschenrechtsverletzungen begangen ha-
ben, dafür juristisch zur Rechenschaft gezogen werden?

15. Wie bewertet die Bundesregierung die regionale Gefahr, die von Boko
Haram ausgeht?
a) Ist die Bundesregierung in internationale Bemühungen zur verbesserten

Grenzsicherung in der Region involviert?
b) Welche Maßnahmen ergeben sich aus den Vereinbarungen, die die

binationale Kommission während des Besuches von Bundesaußenminis-
ter Dr. Frank-Walter Steinmeier am 21. Oktober 2014 in Abuja bezüglich
einer intensivierten Zusammenarbeit in den Bereichen Forensik und
Grenzsicherung traf?

c) Welche Rollen spielt Menschenrechtsbildung dabei?
16. Hat die derzeitige Lage im Land Auswirkungen auf die deutsch-nigeriani-

sche Rüstungskooperation?
17. Inwiefern thematisiert die Bundesregierung in bilateralen Gesprächen mit

der nigerianischen Regierung die Notwendigkeit, Konfliktursachen, wie
soziale Ungleichheit, ein sozial diskriminierendes Bildungssystem, Benach-
teiligung des Nordens und Korruption, zu bekämpfen und eine politische
Lösung des Konflikts anzustreben?
Wie schätzt die Bundesregierung die Umsetzung des von Sambo Dasuki im
März 2014 angekündigten „soft approach“ ein?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung die Ausrufung eines „Kalifats“ durch den
Anführer von Boko Haram?
a) Wie bewertet die Bundesregierung Berichte über Verbindungen Boko

Harams mit anderen Terrorgruppen, wie IS und Al-Shabab?
b) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Finanzierung von

Boko Haram?
19. Wie wirken sich nach Einschätzung der Bundesregierung die Vorbereitun-

gen für die im Februar 2015 anstehenden Wahlen auf die Menschenrechts-
lage aus?

20. Welche Auswirkungen hat nach Einschätzung der Bundesregierung das am
1. Januar 2014 in Kraft getretene Gesetz, das gleichgeschlechtliche Bezie-
hungen verbietet?

Drucksache 18/3470 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
21. Hat die Bundesregierung im Hinblick auf die Menschenrechtslage und
Flucht vor der Gewalt von Boko Haram in Nigeria ihre asyl- und abschie-
bungsrelevante Lageeinschätzung verändert?
a) Wenn ja, inwiefern?
b) Wenn nein, mit welcher Begründung?

22. Wird die Bundesregierung angesichts der sich immer stärker ausbreitenden
Flüchtlingskrise in Nigeria, gegenüber den Bundesländern einen Abschie-
bestopp nach § 60a AufenthG anregen, und wenn nein, mit welcher Begrün-
dung?

23. Plant die Bundesregierung die Unterstützung für den UNHCR und Partner-
organisationen – wie am 16. September 2014 gefordert – zu erhöhen, um die
Flüchtlinge zu versorgen, die in die Nachbarländer Kamerun, Tschad und
Niger geflohen sind?
a) Wenn ja, in welcher finanziellen Höhe?
b) Wenn nein, mit welcher Begründung?

24. Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der Flucht nigeriani-
scher Flüchtlinge in die Nachbarländer Nigerias Kamerun, Tschad und Ni-
ger auf diese Länder, und welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung
in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, um sie gezielt zu unterstüt-
zen, insbesondere bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen?

25. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Sicherheitslage im
Grenzgebiet zwischen Nigeria und Kamerun, und welche Maßnahmen wer-
den im internationalen Rahmen nach Kenntnis der Bundesregierung disku-
tiert und ergriffen, um die Flüchtlinge im Grenzgebiet zu schützen und
Kamerun gegen die Angriffe von Boko Haram zu unterstützen?

26. Hat die Bundesregierung sich im Vorfeld des Beschlusses des Strategischen
Ausschusses Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen (SCIFA) am 13. und
14. November 2014 gegen die Einbeziehung Nigerias in das EU-Pilot-
projekt einer gemeinsamer Rückführungspolitik eingesetzt, und wie be-
urteilt sie die Umsetzung dieses Projekts mit Nigeria angesichts der dortigen
Flüchtlingskrise, insbesondere aus menschenrechtlicher Perspektive?

Berlin, den 2. Dezember 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.