BT-Drucksache 18/3243

Drohender Staatszerfall im Jemen

Vom 14. November 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3243
18. Wahlperiode 14.11.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang
Gehrcke, Annette Groth, Andrej Hunko, Niema Movassat und der Fraktion
DIE LINKE.

Drohender Staatszerfall im Jemen

Seit über 15 Jahren herrscht in dem auf der Arabischen Halbinsel gelegenen
Jemen Gewalt und Bürgerkrieg. Das Land gilt mittlerweile als eines der ärmsten
arabischen Länder. Nachdem im Jahr 1998 das Land durch immer wiederkeh-
rende Terroranschläge von al-Kaida-nahen Gruppen erschüttert wurde, gipfelten
die politischen Konflikte um die zaidistisch (schiitisch) geprägte Minderheit der
Huthis im Norden des Jemen ab 2004 auch in Gewalt. Außerdem versucht seit
dem Jahr 2009 der bis 1990 als unabhängiger Staat existierende Südjemen, sich
gewaltsam wieder vom Mutterland abzuspalten.
Hintergrund des voranschreitenden Staatszerfalls im Jemen sind vor allem die
desaströsen Folgen der „Hilfsprogramme“ des Internationalen Währungsfonds
(IWF). Im Jahr 1995 kollabierte nach mehreren ökonomischen Schocks durch
den Golfkrieg in Irak und Kuweit und einen Bürgerkrieg 1994 die jemenitische
Wirtschaft, und die Zentralregierung in Sanaa nahm ein Programm des IWF an.
In der ersten Phase des vom IWF diktierten Plans vom März bis Oktober 1995
stiegen die Ölpreise für die einfache Bevölkerung um 80 Prozent und die Strom-
preise um 60 Prozent. In der zweiten Phase vom Januar 1996 bis Oktober 1997
wurden die Staatsausgaben gesenkt, die staatliche Kontrolle der Wirtschaft ein-
geschränkt, tausende Staatsbedienstete entlassen, die Subventionen für Weizen
und Weizenmehl gestrichen und ein Privatisierungsprogramm gestartet (Nora
Ann Colton, „Yemen: A Collapsed Economy“, Middle East Journal, Jg. 64,
2010, Nr. 3, S. 410 bis 426, hier: S. 418). Die Wirtschaftskrise mündete somit in
eine sich immer weiter ausbreitende Armut.
Durch die katastrophalen Folgen dieses IWF-Programms wurden viele Men-
schen in die Verzweiflung getrieben. Tausende Menschen schlossen sich in
allen Landesteilen verschiedensten bewaffneten Gruppen an. Der Gruppe
„al-Kaida auf der arabischen Halbinsel“ im Jemen sollen sich beispielsweise
mittlerweile 1 000 Kämpfer angeschlossen haben (www.telegraph.co.uk/news/
worldnews/al-qaeda/10893889/Al-Qaeda-map-Isis-Boko-Haram-and-other-
affiliates-strongholds-across-Africa-and-Asia.html). Die Anführer der Bewegung
„Gläubige Jugend“ (der Huthi-Bewegung) behaupten, 100 000 Kämpfer mo-
bilisieren zu können (www.yemenpost.net/Detail123456789.aspx?ID=3&
SubID=4393&MainCat=3). Die Größe der südjemenitischen Separatistenbe-
wegung ist schwer einzuschätzen. Die verschiedenen Gewaltkonflikte haben
bisher laut Schätzungen insgesamt fast 10 000 Menschen das Leben gekostet.
Im Jahr 2007 forderte der nordjemenitische Aufständische, Yahya al-Huthi, der
als einflussreich geltende Bruder des Huthi-Aufstandsführers, Abdul-Malik
al-Huthi (www.criticalthreats.org/yemen/profile-al-houthi-movement#_edn45),

Drucksache 18/3243 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
dass die deutsche Bundesregierung Verhandlungen zwischen den verfeindeten
Bürgerkriegsparteien in seinem Herkunftsland einleiten sollte. „Die Deutschen
wären gute Vermittler, sie haben enge Beziehungen zum Jemen“, sagte Yahya
al-Huthi damals der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ, 6. Mai 2007).
Die engen Beziehungen zwischen beiden Ländern führten jedoch bisher zu kei-
ner Perspektive für die breite Masse der Bevölkerung im Jemen, sondern bestan-
den in der militärischen Ausstattungshilfe und der Präsenz einer Beratergruppe
der Bundeswehr, der möglichen Duldung von Drohnenangriffen der USA im
Jemen unter Nutzung von Einrichtungen in Deutschland und die Beteiligung an
der informellen Staatengruppe „Freunde des Jemen“ gemeinsam mit den USA,
Saudi-Arabien und anderen Akteuren (www.gov.uk/government/news/friends-
of-yemen-q-a), die im Jemen eigene Interessen verfolgen und nach Auffassung
der Fragesteller teilweise völkerrechtswidrig militärisch im Jemen aktiv sind.
Offensichtlich und wenig überraschend haben diese äußeren Einflussnahmen
auf die Kräfteverhältnisse vor Ort und die kontinuierliche Verletzung der jeme-
nitischen Souveränität den Staatszerfall nicht aufgehalten, sondern beschleunigt.
Nachdem die jemenitische Zentralregierung dieses Jahr die Subventionen für
Öl zusammenstrich, kam es zu einer neuen von der Huthi-Bewegung an-
geführten Protestwelle. Zuletzt haben Huthi-Rebellen mit al-Hudaida eine der
wichtigen Hafenstädte des Jemen sowie darüber hinaus auch Teile der Haupt-
stadt eingenommen. Angesichts dieses Drucks trat der Übergangsminister-
präsident Mohammed Salem Basindwa zurück (www.heise.de/tp/artikel/43/
43061/1.html). Die Huthi-Bewegung entwickelte sich laut Beobachtern von
„einer Gruppe der religiösen Erweckung zu einer Bewegung, die zu einem
Drittel aus einer politischen Partei besteht, und zu zwei Drittel aus einer
schwer bewaffneten Miliz“ (www.foreignpolicy.com/articles/2014/10/10/
from_outcasts_to_kingmakers_yemen_houthi).
Mit Ali Salim al-Beidh hielt sich einer der Anführer der südjemenitischen
Separatistenbewegung für längere Zeit im deutschen Exil auf und agitierte
von der Bundesrepublik Deutschland aus für die Unabhängigkeit des Süd-
jemen (www.criticalthreats.org/yemen/yemens-southern-challenge-background-
rising-threat-secessionism). Ob er im Kontakt mit der Bundesregierung stand,
ist der Öffentlichkeit nicht bekannt.
Neben der Agitation aus dem Exil kamen in den vergangenen 24 Monaten Schritte
ganz anderer Art im Südjemen direkt zu den Problemen des Jemen hinzu. Seit
dem Beginn des Jahres 2013 stiegen die Angriffe der säkularen und religiösen
Separatisten im Südjemen qualitativ und quantitativ an (www.jamestown.org/
single/?tx_ttnews%5Bswords%5D=8fd5893941d69d0be3f378576261ae3e&tx_
ttnews%5Bany_of_the_words%5D=Yemen&tx_ttnews%5Btt_news%5D=
42049&tx_ttnews%5BbackPid%5D=7&cHash=764b02e249b78ac8b9860c1e6
ea51727#.VEZRmvnudsI). Separatisten im Südjemen erklärten zuletzt den
30. November 2014 als Stichtag, zu welchem die Nordjemeniten den Süden des
Landes verlassen haben müssen und riefen zu einem Streik für die Unabhängig-
keit auf (www.aawsat.net/2014/10/article55337592).
Seit der Nahrungsmittelkrise im Jahr 2008 weiteten sich außerdem landesweit die
sozialen Proteste im Land immer weiter aus (necsi.edu/research/social/yemen/).
In den Jahren 2005 bis 2011 stiegen die gewaltsamen Proteste gegen die ver-
fehlte Sozialpolitik der jemenitischen Regierung immer weiter an (necsi.edu/
research/social/yemen/Yemen_Conflict.pdf). Bereits vor fünf Jahren galten
40 Prozent der jemenitischen Bevölkerung als unterernährt; außerdem nahm
damals das Land den 153. Rang beim Reichtum aller Staaten gemessen vom
Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (VN) ein (www.irinnews.org/
report/77965/yemen-soaring-food-prices-force-more-people-below-poverty-
line-wfp). Die Lage dürfte sich seitdem kaum verbessert haben.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3243
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie beurteilt die Bundesregierung die gegenwärtige Lage im Jemen?

a) Wie viele unterschiedliche innerstaatliche Konflikte und konkurrierende
Gruppierungen gibt es nach Erkenntnissen der Bundesregierung aktuell
im Jemen?

b) Wie viele Tote und Verletzte (zivil und militärisch bzw. paramilitärisch)
haben nach Kenntnis der Bundesregierung die verschiedenen Konflikte
im Jemen von 1999 bis 2014 gekostet (bitte nach Konflikt, zivil und
militärisch bzw. paramilitärisch auflisten)?

2. In welchem Rahmen haben die gewalttätigen Konflikte in den verschiede-
nen Regionen des Jemen die Arbeit des Bundesministeriums für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie der Deutschen Ge-
sellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH behindert?

3. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus den gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der „Hilfspro-
gramme“ des IWF für den Jemen?
a) Wie haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Auslands-

schulden des Jemen von 1994 bis 2014 entwickelt?
b) Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Armutsrate im

Jemen seit Beginn der IWF-„Hilfsprogramme“ entwickelt?
c) Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung dazu, wie sich diese

wirtschaftliche Situation auf die soziale Struktur sowie die gesellschaft-
lichen und politischen Konflikte im Jemen auswirkte?

4. Bestehen oder bestanden Gesprächskontakte der Bundesregierung bzw.
nachgeordneter Stellen mit Yahya al-Huthi?

5. Welche Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregierung
über das Eindringen saudi-arabischer Truppen in den Nordjemen in den
Jahren von 2009 (www.atimes.com/atimes/Middle_East/KK11Ak01.html)
bis heute?

6. Welche Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregierung
über die Entsendung von marokkanischen und jordanischen Truppen in
die saudi-arabisch-jemenitische Grenzregion im Sommer dieses Jahres
(www.elimparcial.es/noticia/53058/)?
Welche anderen ausländischen Streitkräfte waren nach Kenntnis der
Bundesregierung seit dem Jahr 2009 im saudi-arabisch-jemenitischen
Grenzgebiet stationiert oder wurden dort in irgendeiner Form aktiv, ohne
dauerhaft dort stationiert zu sein?

7. Von wann bis wann hielten sich Berater der Bundeswehr in den Jahren 1994
bis 2014 im Jemen auf, und welche Bewaffnung trugen die Bundeswehr-
angehörigen dabei mit sich?

8. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über ein Interesse der E.ON
Energie Deutschland GmbH an einem Einstieg in den jemenitischen Gas-
markt (www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56844)?

9. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die angebliche iranische
Unterstützung für die nordjemenitische Huthi-Bewegung (www.nytimes.
com/2012/03/15/world/middleeast/aiding-yemen-rebels-iran-seeks-wider-
mideast-role.html?pagewanted=all&_r=1&)?
a) Welche Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregie-

rung über den angeblichen Aufenthalt iranischer Pasdaran (Revolutions-
wächter) im Jemen?

Drucksache 18/3243 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
b) Welche Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregie-
rung über angebliche iranische Waffenlieferungen an die Huthi-Bewe-
gung im Jemen?

c) Welche Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregie-
rung über den angeblichen Aufenthalt von Angehörigen der schiitisch-
libanesischen Hisbollah-Miliz im Jemen?

10. Welche Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregierung
über die angebliche Unterstützung von „al-Kaida auf der arabischen Halb-
insel“ durch Saudi-Arabien (www.hintergrund.de/201410173286/politik/
welt/brennpunkt-nahost-huthi-rebellen-erobern-immer-mehr-staedte-im-
jemen.html)?

11. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Zahl der Anhänger
und die Anführer der südjemenitischen Separatistenbewegungen?

12. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die angebliche ausländi-
sche Unterstützung der südjemenitischen Separatisten (www.yemenpost.net/
Detail123456789.aspx?ID=3&SubID=6348)?

13. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die beiden südjemeni-
tisch-separatistischen Aktivisten, Anwar Ismail und Khaled al-Junaidi, die
Anfang September 2014 verschwunden sind (www.amnesty.org/en/library/
asset/MDE31/009/2014/en/e8f21a8c-3b5d-4ed8-87d8-dc6632d02dbe/
mde310092014en.html)?

14. Bestehen oder bestanden Gesprächskontakte der Bundesregierung bzw.
nachgeordneter Stellen mit Ali Salim al-Beidh?

15. Zu welchen Konsequenzen führte nach Kenntnis der Bundesregierung die
offizielle Untersuchung des Beschusses einer Trauergesellschaft im Südjemen
durch Panzer der 33. Armeebrigade im Dezember 2013 (www.jamestown.
org/single/?tx_ttnews%5Bswords%5D=8fd5893941d69d0be3f378576261ae
3e&tx_ttnews%5Bany_of_the_words%5D=Yemen&tx_ttnews%5Btt_
news%5D=42049&tx_ttnews%5BbackPid%5D=7&cHash=764b02e249b78
ac8b9860c1e6ea51727#.VEZRmvnudsI)?

16. Teilt die Bundesregierung weiterhin die von der Gesellschaft für Außen-
wirtschaft und Standortmarketing mbH mehrfach zum Ausdruck gebrachte
Einschätzung, wonach „[die] Länder der Arabischen Halbinsel […] ein her-
vorragendes Absatzgebiet für Sicherheitstechnik und -dienstleistungen“
darstellen (Bundestagsdrucksache 17/5667)?

17. Gegen welche der oppositionellen Gruppen richteten und richten sich nach
Kenntnis der Bundesregierung die Drohnenangriffe der USA im Jemen?

18. Aufgrund welcher Kriterien erfolgt eine derartige Zuordnung zu einer be-
stimmten Gruppe, und anhand welcher Kriterien erfolgt nach Kenntnis der
Bundesregierung die Auswahl der konkreten Zielpersonen?

19. Welche staatlichen Organe des Jemen haben wann und in welcher Form und
auf welcher Rechtsgrundlage den Drohnenangriffen der USA auf dem
Territorium des Jemen bzw. gegen jemenitische Staatsbürger nach Kenntnis
der Bundesregierung zugestimmt?

20. Der Zustimmung welcher staatlichen Organe bedürfte nach Kenntnis der
Bundesregierung eine (völker-)rechtskonforme Durchführung von Angrif-
fen der USA im bezeichneten Sinn, und auf welcher Rechtsgrundlage und
in welcher Form müsste diese Zustimmung erteilt werden?

21. Welche Auswirkungen haben die Drohnenangriffe der USA nach Kenntnis
der Bundesregierung auf die politische Situation im Jemen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/3243
22. Welche Auswirkungen haben nach Kenntnis der Bundesregierung die
Drohnenangriffe der USA auf das soziale Gefüge und die physische und
psychische Konstitution der Bevölkerungsgruppen in den betroffenen Ge-
bieten?

Berlin, den 13. November 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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