BT-Drucksache 18/2974

Türkische Hisbollah

Vom 22. Oktober 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2974
18. Wahlperiode 22.10.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, Sevim Dağdelen, Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko, Kerstin
Kassner und der Fraktion DIE LINKE.

Türkische Hisbollah

Im Oktober 2014 wurden in der Osttürkei rund 40 Menschen im Zusammenhang
mit Massenprotesten gegen den Angriff der Terrororganisation „Islamischer
Staat“ (IS) auf die kurdische Stadt Kobani (Ain al Arab) im Norden Syriens
getötet. Neben Polizei und Armee eröffneten auch Anhänger der illegalen sun-
nitischen Organisation Hisbollah und der ihr nahestehenden Partei Hüda Par das
Feuer auf Demonstranten. Ein Großteil der Getöteten starb demnach bei Angrif-
fen dieser offen mit dem IS sympathisierenden Organisationen bzw. bei nachfol-
genden Auseinandersetzungen von jugendlichen Anhängern der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) mit den Islamisten, insbesondere in Diyarbakir. Hüda-Par-
Anhänger sollen PKK-Anhänger verschleppt, gefoltert und dann der Polizei zur
Festnahme übergeben haben (www.welt.de/politik/ausland/article133054865/
Im-Suedosten-der-Tuerkei-droht-ein-neuer-Buergerkrieg.html; www.civaka-azad.
org/tuerkische-hizbullah-und-andere-mafioese-strukturen-kontrabanden-der-
heutigen-zeit/). In Adana wurde zudem ein Mitarbeiter der kurdischsprachigen
Tageszeitung „Azadiya Welat“ offenbar gezielt erschossen; Kollegen und Poli-
tiker der links-kurdischen Oppositionspartei HDP vermuten IS-Sympathisanten
aus dem Hisbollah-Umfeld als Täter (www.jungewelt.de/medien/kurdischer-
journalist-ermordet).
Die Hisbollah in der Türkei, die nichts mit der gleichnamigen schiitischen Partei
im Libanon zu tun hat, war in den 1990er-Jahren für hunderte oder sogar tau-
sende Morde, vor allem an kurdischen Zivilistinnen und Zivilisten aus dem Um-
feld der kurdischen Befreiungsbewegung, verantwortlich. Sie agierte dabei of-
fenbar unter dem Schutz staatlicher Sicherheitsorgane, die in der islamistischen
Organisation ein willkommenes Gegengewicht zu der linksgerichteten PKK
sahen. Als nach der Gefangennahme des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan
die gewaltsamen Auseinandersetzungen in den kurdischen Landesteilen zurück-
gingen und zugleich die Hisbollah durch die Entführung und Erpressung von
Geschäftsleuten zunehmend unkontrollierbar wurde, leiteten türkische Sicher-
heitskräfte eine landesweite Verfolgung der nun als terroristisch eingestuften
Organisation ein. Hisbollah-Führer Hüseyin Velioglu wurde bei einem Feuer-
gefecht mit der Polizei getötet, andere Führungsmitglieder sowie 900 mutmaß-
liche Aktivisten verhaftet und in Massenprozessen zu Haftstrafen verurteilt. Im
Zusammenhang mit der damaligen vorübergehenden Zerschlagung der Orga-
nisation wurden mehrere Massengräber mit Opfern der Hisbollah entdeckt
(www.civaka-azad.org/tuerkische-hizbullah-und-andere-mafioese-strukturen-
kontrabanden-der-heutigen-zeit/).

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„Eine Anzahl von Hisbollah-Mitgliedern konnte sich ihrer Verhaftung im Jahre
2000 durch die Flucht nach Europa bzw. in die Nachbarstaaten der Türkei ent-
ziehen. Nach dem Jahr 2000 baute die Hisbollah in verschiedenen europäischen
Staaten (Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien, Belgien, Niederlande und
Frankreich) Personennetzwerke sowie Schattenstrukturen erneut auf“ (Bundes-
tagsdrucksache 17/4963). Bereits am 9. Januar 2008 hatte die türkische Tages-
zeitung „Hürriyet“ unter Berufung auf die türkische Generaldirektion für Sicher-
heit gemeldet, dass sich die zentralen Hisbollah-Führer Isa Altsoy, Mehemt
Cicek, Mehemt Ali Doyar, Metin Tekgöcen, Kemal Kizar, Ali Demir und Nimet
Byka in Deutschland bzw. anderen europäischen Ländern aufhalten sollen. Einige
von ihnen sollen sogar die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben.
Anfang des Jahres 2010 wurden aufgrund einer Justizreform in der Türkei, die
die Dauer der Untersuchungshaft auf zehn Jahre beschränkte, rund 20 zum Teil
führende Mitglieder der Hisbollah, die erstinstanzlich bereits 1999 wegen Mor-
des an 188 Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren, frei. Als der
Oberste Gerichtshof zwei Wochen später die lebenslänglichen Haftstrafen bestä-
tigte, waren bis auf zwei alle anderen Freigelassenen abgetaucht, so dass
Oppositionspolitiker die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung
(AKP) der Kollaboration mit der Hisbollah beschuldigte. Die Hisbollah hatte
sich nach Einschätzung der Bundesregierung nach ihrer vorübergehenden Zer-
schlagung im Jahr 2000 „restrukturiert“ und einen Strategiewechsel hin zu „Be-
mühungen im sozialen Bereich“ durch karitative Tätigkeiten und einer Intensi-
vierung ihrer Propagandaaktivitäten zur Erreichung ihres Endzieles der „Errich-
tung eines islamischen Gottesstaates auf türkischem Staatsgebiet“ eingeleitet
(Bundestagsdrucksache 17/4963).
Im Dezember 2012 gründete der ehemalige Anwalt von Hisbollah-Mitgliedern
und früherer Vorsitzender des 2010 von türkischen Behörden wegen Hisbollah-
Nähe verbotenen Vereins Mustazaf Der, Mehmet Hüseyin Yilmaz, die Partei der
freien Sache (Hüda Par), die als legale Frontorganisation der Hisbollah gilt. Im
Kurdischen bedeutet Hüda Par, ebenso wie das arabische Wort Hisbollah,
„Partei Allahs“. Die Partei vertritt eine prokurdische Agenda und tritt für die
Herrschaft der Scharia in der Türkei ein. Die jüngsten Angriffe auf Anti-IS-
Demonstrationen erfolgten zum Teil durch Hüda-Par-Funktionäre und aus Büro-
räumen der Partei heraus (www.zeit.de/politik/ausland/2014-10/kurden-proteste-
tuerkei-pkk-hueda-par).
„Nicht auszuschließen bleibt dabei, dass die TH [türkische Hisbollah] zukünftig
die Option der Gewaltanwendung wieder in Betracht zieht.“ In so einem Fall
gehe „von ihr ein beträchtliches Bedrohungspotential aus, da die TH auf aus der
Haft entlassene ‚alte Aktivisten‘ zurückgreifen kann und über straffe Organisa-
tionsstrukturen verfügt“, warnte die Bundesregierung (Bundestagsdrucksache
17/4963).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche generellen Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die sunniti-

sche Organisation Hisbollah in der Türkei?
2. Inwieweit trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die Hisbollah

in den 1990er-Jahren mit Duldung oder Unterstützung des türkischen Staates
gegen Anhängerinnen und Anhänger der kurdischen Befreiungsbewegung
operieren konnte?

3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Wiederaufbau der
Hisbollah nach ihrer vorübergehenden Zerschlagung in den Jahren 1999 bzw.
2000?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2974
4. Über welchen Einfluss und welche Stärke verfügt die Hisbollah einschließ-
lich ihrer legalen Frontorganisationen heute nach Einschätzung der Bundes-
regierung in der Türkei?
a) Wie viele Mitglieder gehören der Hisbollah an?
b) Über welche legalen Vorfeld- und Frontorganisationen verfügt die Hisbol-

lah?
c) In welchen Provinzen und Städten liegen die regionalen Schwerpunkte der

Hisbollah und ihrer legalen Vorfeldstrukturen?
d) Welche Aktivitäten der Hisbollah in der Türkei sind der Bundesregierung

bekannt?
e) Welche Aufmärsche der Hisbollah bzw. ihrer legalen Vorfeldorganisatio-

nen während der letzten fünf Jahre sind der Bundesregierung bekannt,
wann, und wo sowie zu welchem Anlass fanden diese statt, und wie viele
Personen beteiligten sich jeweils daran?

5. Welches Verhältnis zur Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer
und religiöser Ziele haben die Hisbollah und ihre legalen Vorfeldstrukturen
nach Kenntnis der Bundesregierung?
a) Inwieweit und in welchen Fällen waren Anhänger der Hisbollah und ihrer

Vorfeldstrukturen nach dem Jahr 2000 an Gewalttaten beteiligt?
b) Inwiefern sind der Bundesregierung Äußerungen von Hisbollah-Funktio-

nären oder ihren Medien bekannt, in denen zu Gewalt aufgerufen oder Ge-
walt gebilligt wird?

c) Welche möglichen Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, dass
Hisbollah-Anhänger über Waffen verfügen?

6. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über eine nach Kenntnis der
Fragesteller vonseiten der links-kurdischen Oppositionsfraktion HDP be-
hauptete Kooperation der AKP und staatlicher Institutionen mit der illegalen
Hisbollah und den ihr nahestehenden Vereinigungen?

7. Inwieweit besteht nach Kenntnis der Bundesregierung eine organisatorische,
personelle oder ideologische Verbindung zwischen der Partei Hüda Par und
der Hisbollah?
a) Welche Programmatik vertritt die Hüda Par?
b) Wie viele Mitglieder hat die Hüda Par nach Schätzungen der Bundesregie-

rung?
c) Wo liegen die regionalen und lokalen Schwerpunkte der Hüda Par?
d) Inwieweit und mit welchem Ergebnis und welchen regionalen oder loka-

len Schwerpunkten beteiligte sich die Hüda Par bislang an Wahlen?
e) In welchem Verhältnis steht die Hüda Part jeweils zur türkischen Regie-

rungspartei AKP sowie zu den prokurdischen Parteien BDP/DBP und
HDP?

f) Inwieweit bestehen – etwa über die deutsche Botschaft in Ankara – Kon-
takte zwischen der Bundesregierung und der Hüda Par?

8. Wie entwickelte sich nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Jahr 2000
das Verhältnis zwischen der PKK und der Hisbollah?
a) Welche Äußerungen vonseiten der PKK bezüglich ihres Verhältnisses zur

Hisbollah sind der Bundesregierung bekannt?
b) Welche Äußerungen von Seiten der Hisbollah bezüglich ihres Verhältnis-

ses zur PKK sind der Bundesregierung bekannt?

Drucksache 18/2974 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
c) Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis von gewaltsamen Ausein-
andersetzungen zwischen Hisbollah und PKK?
Von welcher Seite gingen die Gewalttaten aus, und wie reagierte die je-
weils andere Organisation darauf?

9. In welchem politischen, ideologischen und organisatorischen Verhältnis ste-
hen nach Kenntnis der Bundesregierung die Hisbollah und die Hüda Par
zum IS im Irak und in Syrien?
a) Welche zustimmenden oder ablehnenden Äußerungen von Hisbollah-

und Hüda-Par-Funktionären oder Medien dieser Organisationen bezüg-
lich des IS sind der Bundesregierung bekannt?

b) Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse darüber, ob sich Anhän-
ger der Hisbollah oder Hüda Par dem IS angeschlossen haben?

10. In welchem politischen, ideologischen und organisatorischen Verhältnis ste-
hen nach Kenntnis der Bundesregierung Hisbollah und Hüda Par zur inter-
nationalen Moslembruderschaft?

11. Inwieweit sieht die Bundesregierung in den Aktivitäten der Hisbollah heute
eine Gefahr für den Bestand und das friedliche Zusammenleben der Men-
schen in der Türkei?

12. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Mitglieder und Aktivi-
täten der Hisbollah in der Bundesrepublik Deutschland?
a) Wie viele Mitglieder oder Unterstützerinnen bzw. Unterstützer der His-

bollah haben nach Kenntnis der Bundesregierung politisches Asyl in der
Bundesrepublik Deutschland beantragt oder erhalten?

b) Wie viele Mitglieder und Unterstützer der Hisbollah halten sich nach den
Erkenntnissen der Bundesregierung derzeit im Bundesgebiet auf?

c) Inwieweit existieren innerhalb der Bundesrepublik Deutschland Vereine,
Institutionen oder sonstige Organisationsstrukturen, die der Hisbollah
zugerechnet werden?

d) Mit welchen Publikationen ist die Hisbollah in der Bundesrepublik
Deutschland in Erscheinung getreten?

e) Inwieweit sind Hisbollah-Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland
durch Spendensammlungen zu welchem Zweck in Erscheinung getre-
ten?

f) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über ein Engagement von
Mitgliedern der Hisbollah in Ausländerbeiräten und kommunalen Vertre-
tungen?

g) Welche Moscheevereine in welchen Städten werden der Hisbollah zuge-
rechnet oder gelten als von ihr beeinflusst?

h) In welchen sonstigen politischen oder religiösen Gremien in der Bundes-
republik Deutschland sind Mitglieder der Hisbollah aktiv?

i) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Kontakte von His-
bollah-Mitgliedern zu anderen islamischen Verbänden in der Bundes-
republik Deutschland?

j) Welche sonstigen verfassungsschutzrelevanten Erkenntnisse zu Aktivi-
täten der Hisbollah in Deutschland hat die Bundesregierung?

13. Halten sich die von der Zeitung „Hürriyet“ am 2. Januar 2008 genannten
mutmaßlichen Hisbollah-Führer Isa Altsoy, Mehemt Cicek, Mehemt Ali
Doyar, Metin Tekgöcen, Kemal Kizar, Ali Demir und Nimet Byka und mög-
liche weitere Führungskader der Organisation nach Kenntnis der Bundes-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/2974
regierung derzeit in der Bundesrepublik Deutschland, auf, und wenn ja, mit
welchem Aufenthaltstitel?

14. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über einen möglichen Wie-
deraufbau und eine Steuerung der Hisbollah durch in Deutschland lebende
Führungskader?

15. Wie viele von der Türkei mit internationalem Haftbefehl gesuchte mutmaß-
liche Hisbollah-Mitglieder halten sich nach Kenntnis der Bundesregierung
in Deutschland auf, wie viele diesbezügliche Auslieferungsersuchen gab es
bislang seit dem Jahr 2000, in wie vielen Fällen wurde diesen Ersuchen
stattgegeben, und in welchen Fällen, und mit welcher Begründung wurde
eine Auslieferung abgelehnt?

16. Beurteilt die Bundesregierung die Hisbollah als „terroristische Vereinigung
im Ausland“ gemäß des § 129b des Strafgesetzbuches, und wenn ja, in-
wieweit gab es diesbezügliche Ermittlungsverfahren, und mit welchen Er-
gebnissen?

17. Inwieweit bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung Kontakte zwischen
Hisbollah-Anhängern in der Bundesrepublik Deutschland und dem salafis-
tischen Milieu?
a) Welcher Art sind diese Kontakte?
b) Beteiligten sich nach Kenntnis der Bundesregierung Anhänger der His-

bollah an Übergriffen auf kurdische oder jesidische Kulturvereine oder
Auseinandersetzungen mit Demonstrantinnen und Demonstranten gegen
den IS?

18. Inwieweit bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung Kontakte zwischen
der Hisbollah und den Mitgliedern der rechtsextremen türkischen Partei der
Nationalistischen Bewegung, den sog. Grauen Wölfen, in der Bundesrepu-
blik Deutschland?

19. Inwieweit sieht die Bundesregierung in den Aktivitäten von Hisbollah-An-
hängern in der Bundesrepublik Deutschland eine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit und das friedliche Zusammenleben der Menschen?

Berlin, den 22. Oktober 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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