BT-Drucksache 18/25

Entscheidung des UN-Antirassismus-Ausschusses im Fall Thilo Sarrazin

Vom 30. Oktober 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 18/25
18. Wahlperiode 30.10.2013
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Azize Tank, Jan Korte, Nicole Gohlke,
Annette Groth, Heike Hänsel, Ulla Jelpke, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE.

Entscheidung des UN-Antirassismus-Ausschusses im Fall Thilo Sarrazin

In der Fragestunde des Deutschen Bundestages vom 24. April 2013 wollte die
Abgeordnete Sevim Dağdelen wissen, welche konkreten Schlussfolgerungen
die Bundesregierung aus der Entscheidung des UN-Antirassismus-Ausschusses
(CERD) vom 4. April 2013 (CERD/C/ 82/D/48/2010) zieht, wonach Deutschland
im Falle Thilo Sarrazins seine Bevölkerung nicht ausreichend vor rassistischen
Äußerungen geschützt habe, etwa in Bezug auf die Gesetzeslage, die Strafver-
folgung, die Schulung der Richterschaft und von Strafverfolgungsbehörden, ein
breiteres Verständnis von Rassismus u. a., und inwieweit sich die Bundesregie-
rung mit den Bundesländern abspreche, um zu wirksamen Maßnahmen zu kom-
men, die in der Länderkompetenz liegen. Darauf antwortete die Bundesregie-
rung, sie nähme die Verpflichtungen aus dem Übereinkommen sehr ernst (Ple-
narprotokoll 17/236, Anlage 31) und sie würde daher die Entscheidung des Aus-
schusses sorgfältig prüfen, was angesichts der Komplexität der zugrunde
liegenden Fragen noch einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Dabei würde
auch die vom Ausschuss aufgeworfene Frage eine Rolle spielen, ob Änderungs-
bedarf im deutschen Strafrecht im Hinblick auf eine strafrechtliche Sanktionie-
rung von rassistischen Äußerungen besteht. Zudem würde die Bundesregierung
selbstverständlich die Entscheidung in die deutsche Sprache übersetzen, veröf-
fentlichen und die Information aller zuständigen Stellen und Behörden – auch in
den Ländern – sicherstellen.
Hintergrund der CERD-Rüge war eine Strafanzeige des Türkischen Bundes in
Berlin-Brandenburg e. V. (TBB) wegen Beleidigung und Volksverhetzung, der
aufgrund des Interviews des Bundesbankers und ehemaligen Finanzsenators
Thilo Sarrazin in der Zeitschrift „Lettre International“ im Herbst 2009 bei der
Berliner Staatsanwaltschaft gestellt wurde. Im Jahr 2009 wurde das Verfahren
von der Berliner Staatsanwaltschaft eingestellt. Die Begründung für die Einstel-
lung war, dass seine Äußerungen nicht einer Aufstachelung zum Rassenhass
gleichkamen und nicht den öffentlichen Frieden stören konnten sowie außerdem
von der Meinungsfreiheit gedeckt seien.
In seiner Pressemitteilung zur CERD-Rüge erklärt das Deutsche Institut für
Menschenrechte e. V.: „Der Ausschuss hat keinen Zweifel daran gelassen, dass
die Aussagen Sarrazins in dem Interview rassistisch waren. Überdies hätten sie
nach der Anti-Rassismus-Konvention auch sanktioniert werden müssen. Der
Ausschuss ist insbesondere zu der Auffassung gelangt, dass die Aussagen
Sarrazins rassistisches Gedankengut beinhalten, die den Betroffenen ihren
Achtungsanspruch als Menschen absprechen und ihnen in verallgemeinernder
Weise negative Eigenschaften zuschreiben.
Die Entscheidung des Ausschusses hat über den Einzelfall hinaus Bedeutung:
Gesetzeslage und Praxis im Bereich der Strafverfolgung von rassistischen

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Äußerungen sind im Lichte der Entscheidung auf den Prüfstand zu stellen, um
die von solchen Äußerungen unmittelbar Betroffenen wirksam zu schützen und
die Menschenwürde als Grundlage unseres Gemeinwesens zu verteidigen.“
(www.institut-fuer-menschenrechte.de).
In einer Verbalnote an den CERD stellt die Bundesregierung Änderungen der
Gesetzgebung gegen Rassismus in Aussicht (www.migazin.de). „Die Bundes-
regierung prüft aktuell die deutsche Gesetzgebung zur Strafbarkeit rassistischer
Äußerungen im Lichte der Äußerungen des Ausschusses“, heißt es darin nach
Presseinformationen vom 13. Juli 2013. Zudem sei die Berliner Staatsanwalt-
schaft gebeten worden, „jede Möglichkeit zu prüfen, die Entscheidung zur Ver-
fahrenseinstellung zu überdenken“ (www.tagesspiegel.de).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie beurteilt die Bundesregierung die Rüge Deutschlands durch den Anti-

Rassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen (CERD) vom April 2013 we-
gen der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Thilo Sarrazin wegen
Volksverletzung und Beleidigung und die darin enthaltene Feststellung,
Deutschland habe mit der Einstellung des Verfahrens gegen das UN-Überein-
kommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung verstoßen?

2. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Kritik des CERD, die Bevölkerung
Deutschlands werde nicht ausreichend vor rassistischen Äußerungen ge-
schützt, da Deutschland seinen menschenrechtlichen Schutzpflichten aus der
Antirassismus-Konvention nicht nachgekommen ist?

3. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung von Dr. Hendrik
Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte e. V. (DIMR), der den
Umgang der Justiz als typisch für den Umgang mit dem Thema Rassismus
bezeichnet und ausführt: „Wenn sich Äußerungen gegen eine große Anzahl
von Personen richten, wird regelmäßig davon ausgegangen, dass es ihnen an
Intensität fehlt, um beleidigenden Charakter zu haben. Dann spielt es auch
keine Rolle mehr, ob Äußerungen rassistisch sind“, und welche Schlussfol-
gerungen zieht sie hieraus (www.tagesspiegel.de)?

4. Hat die Bundesregierung dem CERD die innerhalb von 90 Tagen angefor-
derte Stellungnahme zu der Rüge übermittelt?
Wenn ja, wie lautet diese, und wurde sie dem TBB als Beschwerdeführer
übermittelt?
Wenn nein, warum nicht?
Wann gedenkt die Bundesregierung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung
nachzukommen?

5. Inwieweit teilt die Bundesregierung angesichts der Tatsache, dass Rassismus
gerade nicht allein ein Problem von Neonazis bzw. der extremen Rechten ist,
die Kritik von Dr. Hendrik Cremer vom DIMR, dass „bisher meist nur Perso-
nen wegen rassistischer Äußerungen verurteilt [wurden], die eindeutig dem
rechtsextremen Umfeld angehörten. Der Rassismus aus der Mitte der Gesell-
schaft wird unter Umständen nicht als solcher gesehen“ (www. tagesspiegel.
de), und welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

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6. Plant die Bundesregierung vor dem Hintergrund der CERD-Rüge Verände-
rungen in der Tatbestandsbeschreibung der Straftaten Volksverhetzung nach
§ 130 bzw. Beleidigung nach § 185 des Strafgesetzbuches (StGB), damit in
Zukunft den Empfehlungen des UN-Antirassismus-Ausschusses entspro-
chen und jegliche rassistische Äußerung strafrechtlich verfolgt werden
können, nachdem die Staatsanwaltschaft auch die Strafanzeigen wegen der
weiteren, nach Auffassung der Fragesteller umfassenden rassistischen
Äußerungen Thilo Sarrazins in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“
nicht verfolgt hat und in dem Fall sogar die Berliner Generalstaatsanwalt-
schaft, das Kammergericht und das Bundesverfassungsgericht diese Ent-
scheidung bestätigt haben?

7. Welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung im Zuge ihrer
sorgfältigen Prüfung, die sie laut Antwort auf die Mündliche Frage der Ab-
geordneten Sevim Dağdelen (Plenarprotokoll 17/236) vornehmen wollte,
beispielsweise bezüglich der auch vom Ausschuss aufgeworfenen Frage, ob
Änderungsbedarf im deutschen Strafrecht im Hinblick auf die strafrecht-
liche Sanktionierung von rassistischen Äußerungen besteht?

8. Inwieweit ist die Bundesregierung ihrer Pflicht zur Veröffentlichung der
Entscheidung des UN-Antirassismus-Ausschusses vom 4. April 2013 nach-
gekommen?
Ist eine Übersetzung erfolgt, und unter welcher Webadresse ist diese öffent-
lich nachlesbar?

9. Durch welche konkreten Maßnahmen ist die Bundesregierung der Empfeh-
lung des CERD gefolgt und hat die Entscheidung des Ausschusses breit be-
kannt gegeben, auch unter Staatsanwälten und Justizorganen?

10. An welche zuständigen Stellen hat die Bundesregierung, wie sie mitteilte,
„den Ländern die Entscheidung zur Verbreitung übermittelt“?

11. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung getroffen, um, nach der Wei-
terleitung der Entscheidung des CERD an die Länder, eine aktive Ausein-
andersetzung durch Staatsanwaltschaft und Richterschaft zu gewährleisten
und die Justiz für zeitgenössische Formen des Rassismus zu sensibilisieren?

12. Wurde das Forum gegen Rassismus in den Prozess der Umsetzung der Emp-
fehlungen des CERD einbezogen?
Wenn nicht, warum nicht?

13. Wann hat das Forum gegen Rassismus, das im Jahr 1998 im Zuge des
„Europäischen Jahres gegen Rassismus“ (im Jahr 1997) als Gesprächs-
forum zwischen staatlichen Stellen, wie der Bundesregierung und Nicht-
regierungsorganisationen (NGO), ins Leben gerufen wurde, in den letzten
drei Jahren mit welcher Tagesordnung getagt (bitte nach konkretem Datum
mit entsprechender Tagesordnung auflisten)?

14. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Fragesteller, dass die Rüge
an der Behandlung rassistischer Äußerungen durch die Strafjustiz in
Deutschland aber auch der Bundesregierung Veranlassung dazu bieten
müsste, in öffentlichen Stellungnahmen keine Äußerungen zu machen, die
als rassistische Diskriminierung von Zuwanderern oder Flüchtlingen im
Sinne des CERD verstanden werden können?

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15. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Fragesteller, dass die Äuße-
rungen des Bundesministers des Innern, Dr. Hans-Peter Friedrich, zum an-
geblichen „Missbrauch des Freizügigkeitsrechts“ und die Vorhersage, dass
die Migration aus Bulgarien und Rumänen „für unsere Sozialsysteme völlig
unbeherrschbar [wird] wenn sich überall in Europa Menschen auf den Weg
nach Deutschland machen, weil es hier höhere Sozialleistungen gibt“
(www.rp-online.de), dazu angetan ist, weitere Vorurteile gegen Einwande-
rinnen und Einwanderer zu erzeugen (bitte begründen)?

16. Welche Konsequenzen bzw. Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung
aus den in Frage 15 zitierten Äußerungen des Bundesinnenministers vor
dem Hintergrund, dass laut Rheinisch-Westfälischem Institut für Wirt-
schaftsforschung e. V. 80 Prozent der Menschen, die seit Beginn der Mit-
gliedschaft in der Europäischen Union im Jahr 2007 aus Bulgarien und
Rumänien nach Deutschland gekommen sind, einer Erwerbsarbeit nachge-
hen – davon 22 Prozent als Hochqualifizierte und 46 Prozent als Qualifi-
zierte – (www.berlin-institut.org) und die Arbeitslosigkeit unter Bulgaren
und Rumänen mit 9,6 Prozent deutlich niedriger ausfällt als unter allen Aus-
ländern (16,4 Prozent), also lediglich 0,4 Prozent aller Arbeitslosen aus-
macht (Bundestagsdrucksache 17/13322)?

17. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung bezüglich der in
Frage 15 wiedergegebenen Einschätzung von Bundesinnenminister
Dr. Hans-Peter Friedrich vor dem Hintergrund ihrer Antwort auf die Kleine
Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/13322, in der sie einräumen musste,
dass es sich bei der Migration aus Rumänien und Bulgarien nicht in erster
Linie um sogenannte Armutsmigration handelt?

18. Inwieweit ist die Bundesregierung nach wie vor der in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage (Bundestagsdrucksache 17/9531) zu Frage 4 geäußerten
Auffassung bezogen auf die Ermittlungen zur Mordserie des „National-
sozialistischen Untergrundes“ (NSU), „die ermittelnden Landespolizeien
[hätten] damals keine wirklich belastbaren Hinweise, die auf Taten einer
rechtsextremen Gruppierung hindeuteten“, mit der sie die Aussage von
Stefan Hebel, politischer Autor der „Frankfurter Rundschau“, wonach
„Polizisten, die dem türkischen Opfer mehr misstrauen als den Tätern;
Behörden, die von ‚Döner-Morden‘ reden und die Spuren nach rechts igno-
rieren; Politiker, die (wie vor ein paar Jahren Bundeskanzlerin Dr. Angela
Merkel) von ‚Flüchtlingsbekämpfung‘ reden […] jenseits aller schönen
Worte von Integration und friedlichem Zusammenleben dem rechten Rand
das Material für seine verlogene Legitimation“ liefern, für nicht zutreffend
hielt?

Berlin, den 30. Oktober 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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