BT-Drucksache 18/2435

Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Tunesien

Vom 28. August 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2435
18. Wahlperiode 28.08.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Frank Tempel
und der Fraktion DIE LINKE.

Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Tunesien

Infolge des Bürgerkriegs in Libyen ab Februar 2011 und der Bombardierungen
durch das Militär der NATO-Staaten flohen Arbeitsmigrantinnen und Arbeits-
migranten aus den Staaten südlich der Sahara sowie Flüchtlinge aus diesen Staa-
ten, die zumeist auf ihrer Flucht in die Europäische Union (EU) in Libyen ge-
strandet waren. Ein Teil dieser Gruppe, zeitweise bis zu 6 000 Menschen, fanden
Aufnahme im Lager Choucha in der Nähe des tunesischen Ortes Ben Guerdane.
Das Lager wurde durch die UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR geführt.
Die UNHCR führte dort auch Verfahren zur Anerkennung als Flüchtling nach
der Genfer Flüchtlingskonvention durch und bemühte sich um eine Umsiedlung
(resettlement) der anerkannten Flüchtlinge in Aufnahmestaaten in Europa und
Nordamerika.
Für internationale Schlagzeilen sorgte das Camp, als dort im Mai 2011 vier Men-
schen bei einem Brand der Zelte starben. Der Brand stand im Zusammenhang
mit pogromartigen Angriffen aus der lokalen Bevölkerung auf das Camp. Das
tunesische Militär schützte das Camp nicht, sondern beteiligte sich an den An-
griffen auf seine Bewohner.
Das Camp sollte schließlich geschlossen werden, nachdem Ende 2011 keine
Flüchtlinge mehr in das Resettlement-Programm aufgenommen wurden. Dies
wurde von Campbewohnerinnen und Campbewohnern und ihren zivilgesell-
schaftlichen Unterstützerinnen und Unterstützern kritisiert, weil neben aner-
kannten Flüchtlingen auch weiterhin eine Reihe von Menschen dort lebten, die
zwar kein Anerkennungsverfahren durchlaufen hatten oder abgelehnt worden
waren, die aber nicht in ihre Herkunftsstaaten zurückkehren konnten oder woll-
ten. Als begleitende Maßnahme zur Schließung des Camps wurde deshalb unter
Beteiligung der UNHCR und der Hilfswerke „Islamic Relief“ und des Roten
Halbmondes ein Programm der „Lokalen Integration“ in Ben Guerdane,
Medenine und Zarzis aufgelegt. Dieses Programm hat drei Bestandteile: die
Implementierung eines gesetzlichen Flüchtlingsschutzes in Tunesien gemäß der
Genfer Flüchtlingskonvention, die Vermittlung der Flüchtlinge in Arbeit und die
Förderung von Akzeptanz für Flüchtlinge in der Mehrheitsgesellschaft, die von
rassistischen Ressentiments gegen „schwarze“ Afrikaner geprägt ist. Mit dem
Programm endeten auch die Bemühungen der UNHCR um ein Resettlement der
Choucha-Flüchtlinge, an dem sich auch die Bundesrepublik Deutschland im
Jahr 2012 beteiligt hatte.
Nach der Darstellung eines Berichts von Mitgliedern des Netzwerks „Afrique-
Europe-Interact“, die im Januar dieses Jahres eine Recherchereise nach Tune-
sien unternommen haben, ist die „lokale Integration“ weitgehend gescheitert
(www.afrique-europe-interact.net/index.php?article_id=1140&clang=0). Zum

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damaligen Zeitpunkt befanden sich mindestens 200 Menschen, darunter ein gro-
ßer Teil „verletzlicher Personen“ (Frauen, Kinder, alte und kranke Menschen),
in dem Camp, das ohne jegliche Versorgung ist. Viele der Choucha-Flüchtlinge,
v. a. jüngere Männer zur Arbeitssuche, pendeln zudem zwischen Camp und den
naheliegenden Städten. Auf dem Gelände sei in naher Zukunft im Rahmen eines
Abkommens zwischen Tunesien und Libyen eine „free trade zone“ geplant.
Spätestens wenn dieser Plan umgesetzt werde, solle Choucha geräumt werden.
Unter den Campinsassen seien etwa hundert anerkannte Flüchtlinge und ebenso
viele abgelehnte, darüber hinaus Migrantinnen und Migranten und Schutz-
suchende, die nach einem gescheiterten Überfahrtsversuch nach Italien in Tune-
sien gestrandet seien. Trotz der drohenden Räumung des Campgeländes und der
ohnehin extrem schwierigen Lebensbedingungen in der Wüste kehrten immer
mehr der ehemaligen Choucha-Bewohnerinnen und Choucha-Bewohner dorthin
zurück. Als Hauptgründe schildert der Bericht das Scheitern der Bemühungen
innerhalb der „Lokalen Integration“, die Flüchtlinge und Migrantinnen und
Migranten in eine existenzsichernde Beschäftigung oder Selbständigkeit zu ver-
mitteln, den deutlichen Anstieg der Miet- und sonstigen Lebenshaltungskosten,
die mit den Beihilfen von 120 Dinar/Monat nicht zu bewältigen seien, vor allem
aber die zunehmende Angst vor rassistischen Angriffen und dem fehlenden
Schutz durch die Polizei. Keiner der Personen, auf die das Programm ziele, habe
bislang eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für Tunesien erhalten. Im Ergeb-
nis dieser Entwicklungen wird die Befürchtung geäußert, dass die betroffenen
Menschen in den nächsten Monaten versuchen werden, die lebensgefährliche
Fahrt über das Mittelmeer Richtung Italien zu versuchen.
Den Fragestellern liegt ein aktueller Bericht vor, nach dem die tunesische Küs-
tenwache Boote mit Flüchtlingen und Migranten, die in Richtung Italien abge-
legt haben, abfange und nach Tunesien (Zarzis) zurückbringe. Von dort würden
sie nach Medenine in die Obhut des Tunesischen Roten Kreuzes gebracht und
aufgeteilt: Menschen aus Herkunftsländern wie Syrien, Palästina oder Somalia
kämen in eine Unterkunft des Roten Kreuzes und der UNHCR, sie könnten dort
einen Antrag auf Feststellung ihrer Flüchtlingseigenschaft stellen. Ihnen werde
dann die Möglichkeit geboten, in Tunesien am Programm der „Lokalen Integra-
tion“ teilzunehmen. Menschen, die aus als „sicher“ eingestuften Ländern
kämen, wie beispielsweise Ghana oder Nigeria, würden in einer anderen Unter-
kunft untergebracht. Sie erhielten weder humanitäre Hilfe noch real die Mög-
lichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Im Rahmen entsprechender Programme
der International Organisation on Migration (IOM, eine UN-Agentur) könnten
sie sich bei ihrer Rückkehr in ihre Herkunftsländer unterstützen lassen. Unter
denjenigen, die auf See abgefangen würden, befänden sich auch Personen aus
dem Camp Choucha; einer von ihnen sei für zwei Monate als „illegaler Migrant“
in einem Gefängnis in Quardia.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele der von der UNHCR registrierten Flüchtlinge sind seit dem Jahr

2011 im Rahmen eines Resettlements in die Bundesrepublik Deutschland
aufgenommen worden, und sind für das Jahr 2014 noch weitere Aufnahmen
geplant?
Wenn ja, wie viele und nach welchen Kriterien?
Wenn nein, warum nicht?

2. Inwieweit wurden die im Rahmen des Resettlements aufgenommenen Flücht-
linge zu ihren Erfahrungen und Eindrücken in Choucha und Tunesien befragt,
und inwieweit gingen die Ergebnisse dieser Befragungen in die Einschätzung
zur asylrelevanten Lage in Tunesien ein?

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3. In welcher Form beteiligt sich die Bundesregierung an der Durchführung
des eingangs beschriebenen Programms zur „Lokalen Integration“, welche
Evaluationen, Auswertungen, Berichte etc. sind ihr dazu bekannt, und
welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht sie gegebenenfalls
daraus?

4. Welche weiteren Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind nach Kennt-
nis der Bundesregierung mit finanziellen Beiträgen an dem Programm zur
„Lokalen Integration“ beteiligt?

5. Wie lange wird das Programm zur „Lokalen Integration“ noch durch die
UNHCR finanziert, und bis wann läuft die Unterstützung durch die Bundes-
regierung?

6. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung zur finanziellen Unterstützung
der ehemaligen Bewohner des Camps Choucha nach seiner offiziellen
Schließung (einmalige und regelmäßige Zahlungen, Zahl der Leistungs-
empfänger etc.)?

7. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung zum Umfang, zur Inanspruch-
nahme und zum Erfolg der unterschiedlichen Maßnahmen des Programms,
die die selbständige Existenzsicherung der Programmteilnehmer zum Ziel
haben?

8. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung zu den Umständen, unter denen
die ehemaligen Bewohner des Camps Choucha in Tunesien ihren Lebens-
unterhalt bestreiten, insbesondere zu den rechtlichen Rahmenbedingungen
und zu den typischen Tätigkeitsfeldern und Verdienstmöglichkeiten (bitte
zum Vergleich den durchschnittlichen Verdienst in Tunesien angeben)?

9. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung von den Bemühungen innerhalb
des Programms zur „Lokalen Integration“, mit Durchführung von Sensibi-
lisierungsmaßnahmen in der tunesischen Bevölkerung und insbesondere
beim Lehr- und Krankenhauspersonal für einen würdigen und nichtrassis-
tischen Umgang mit den subsaharischen Flüchtlingen und Migranten zu
werben?

10. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung zum Problem rassistischer Über-
griffe auf Flüchtlinge und Migranten in Tunesien und zu Vorwürfen, die
Polizei schütze sie nicht vor solchen Angriffen und greife auch bei anderen
strafrechtlich relevanten Vorfällen (Lohnprellerei, Beleidigung etc.) nicht
ein, so dass die Betroffenen sich außerhalb ihrer eigenen Comunity unge-
schützt fühlen?

11. Ist das UNHCR-Programm zur „Lokalen Integration“ in Süd-Tunesien Teil
des Regionalen Schutzprogramms (regional protection programme, RPP)
der EU in Ägypten, Libyen und Tunesien, und wie sind ggf. Institutionen
der Europäischen Union mit diesem Programm verbunden?

12. Welche weiteren Bestandteile hat das Regionale Schutzprogramm der EU in
Ägypten, Libyen und Tunesien (unterstützte Projekte und Programme, Ziel-
gruppen etc.) nach Kenntnis der Bundesregierung, und an welchen ist sie
beteiligt?

13. Welche Projekte existieren in Bezug auf Tunesien im Rahmen des Gesamt-
ansatzes zu Migration und Mobilität (GAMM) der EU und im Rahmen der
„Task Force Mediterranean“, und an welchen dieser Projekte und Maßnah-
men ist die Bundesrepublik Deutschland in welcher Form beteiligt?

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14. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zur Zahl syrischer Flücht-
linge in Ägypten, Libyen und Tunesien (bitte jeweils einzeln angeben), und
welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung, inwieweit Libyen und
Tunesien von syrischen Flüchtlingen lediglich als Transitstaaten für eine
Flucht in die EU genutzt werden, die Flüchtlinge dann aber wegen fehlender
(legaler) Weiterreisemöglichkeiten dort Opfer krimineller Schleuserbanden
werden?

15. Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen oder sind in
Planung, um insbesondere syrischen Flüchtlingen auf dem Transit durch
Libyen oder Tunesien eine ungefährliche Einreise in die EU zu ermöglichen
oder sie vor Ort zu unterstützen?

16. Welche Maßnahmen sind der Bundesregierung bekannt, mit denen italie-
nischen Stellen in Kooperation mit tunesischen Stellen versuchen, die Aus-
fahrt von Flüchtlingsbooten aus tunesischen Gewässern zu verhindern?

17. Was ist der Bundesregierung über den Umgang der tunesischen Behörden
mit Flüchtlingen und Migranten bekannt, die beim Versuch der Ausfahrt aus
tunesischen Gewässern abgefangen wurden?

18. Wie ist der Zugang zu internationalem Schutz in Tunesien bislang geregelt,
und welche Änderungen sind diesbezüglich angekündigt?

19. Wie ist der Umgang mit Migranten, denen eine illegale Einreise bzw. ein
illegaler Aufenthalt vorgeworfen wird, und inwieweit werden in den gesetz-
lichen Regelungen und in der Praxis der Behörden Asylsuchende von frei-
heitsbeschränkenden Maßnahmen wegen Verstößen gegen Einreise- und
Aufenthaltsregelungen ausgenommen?

Berlin, den 28. August 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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