BT-Drucksache 18/2242

Die lageorientierte Sonderorganisation des Bundesamtes für Verfassungsschutz bei der Aufklärung von behördeninternen Erkenntnissen über den NSU seit November 2011

Vom 30. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2242
18. Wahlperiode 30.07.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Petra Pau, Martina Renner, Sevim Dağdelen, Ulla Jelpke,
Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Die lageorientierte Sonderorganisation des Bundesamtes für Verfassungsschutz
bei der Aufklärung von behördeninternen Erkenntnissen über den NSU seit
November 2011

Am 5. Juli 2012 wurde der Zeuge mit dem Pseudonym Lothar Lingen, Referats-
leiter im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), im NSU-Untersuchungsaus-
schuss (NSU: Nationalsozialistische Untergrund) des Deutschen Bundestages
befragt. Lothar Lingen gehörte zu den Beamten und Mitarbeitern des BfV die
Akten über V-Leute des BfV, am 11. November 2011 im großen Stil schreddern
und vernichten ließen. Es wurden vor allem die Akten geschreddert, in denen die
Erkenntnisse von V-Leuten aus dem Bereich des militanten Rechtsextremismus
und des Rechtsterrorismus enthalten waren. Genauer gesagt, Akten von jenen
V-Leuten, die sich in dem Umfeld bewegten, in dem der NSU und sein breiter
Unterstützerkreis aktiv war: die militante Nazi-„Musik“-Szene um „Blood and
Honour“ und zum Terrorismus tendierende rechtsextreme Gruppierungen. Diese
umfangreiche Vernichtung der Akten wurde in der Zentrale des BfV eine Woche
nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt durchgeführt und ganze
vier Tage nachdem sich Beate Zschäpe den Ermittlungsbehörden gestellt hatte.
In seiner Befragung vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen
Bundestages wies Lothar Lingen aber auch auf einen weiteren Sachverhalt hin:
Er war Mitglied einer lageorientierten Sonderorganisation (LoS) des BfV, die
unmittelbar nach der Entdeckung des NSU gebildet wurde. Die LoS hatte den
Auftrag, der Amtsleitung des BfV umfassend zusammenzutragen, welche
Kenntnisse das BfV über das Trio hatte. Dieser Prüfauftrag wurde dann zweimal
erweitert, als bekannt wurde, dass der Unterstützerkreis des NSU wesentlich
breiter war, als das in den Medien und der Öffentlichkeit zunächst angenommen
wurde. Zur Bewältigung der Aktenrecherche über den militanten Rechtsextre-
mismus und Rechtsterrorismus wurden 70 bis 90 Mitarbeiter des BfV in dieser
LoS zeitweise organisiert und laut Lothar Lingen war das „Amt auf Monate im
Prinzip lahmgelegt“ (24. Sitzung am 5. Juli 2012, Protokoll des 2. Untersu-
chungsausschusses des Deutschen Bundestages in der 17. Wahlperiode, S. 29).
Am Ende des monatelangen Prozesses der Aktenrecherche, der am 8. November
2011 gegen 15 Uhr begann, also zwei Stunden nachdem sich Beate Zschäpe bei
der Polizei in Jena gestellt hatte, stand folgendes Ergebnis, das die Autoren
Stefan Aust und Dirk Laabs in ihrem Buch „Heimatschutz – Der Staat und die
Mordserie des NSU“ wie folgt beschreiben: „Im Bundesamt wurden nicht nur
Akten der eigenen V-Männer auf Anweisung von Lothar Lingen vernichtet.
Sorgsam suchte man auch nach dem November 2011 über Monate nach weiteren
Akten, um sie zu vernichten, darunter vor allem auch Dokumente mit Bezügen
zu drei Männern: Thomas Starke, Jan Werner, Carsten Szczepanski. Starke war

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V-Mann des Berliner LKA. Szczepanski Spitzel des Landesamtes für Verfas-
sungsschutz Brandenburg. Werner stand unter dem Verdacht, dem NSU Waffen
besorgt zu haben. Und Starke war lange eng mit Uwe Mundlos und Beate
Zschäpe befreundet. Die letzte Akte vernichtete man offiziell am 4. Juli 2012.
Bis dahin hatte man allein im Bundesamt 310 Akten geschreddert, mithin Tau-
sende von Dokumenten.“ (Stefan Aust, Dirk Laabs, Heimatschutz – Der Staat
und die Mordserie des NSU, München 2014, S. 18 bis 19).
Ein weiterer hochangesiedelter Vertreter des BfV, Sebastian Egerton, tätig im
Referat Berichts- und Analysewesen, sagte im NSU-Untersuchungsausschuss
des Deutschen Bundestages aus, dass er gleichfalls in der LoS des BfV nach der
Entdeckung des NSU tätig war. In seiner Befragung am 13. Mai 2013 sagte
Sebastian Egerton aus, dass er in dem „halbem Jahr, von November 2011 bis
Mitte 2012 […] an die Hundert Sprechzettel“ für die Amtsleitung des BfV – und
damit an die Bundesregierung – geschrieben hatte. Und weiter stellte er fest:
„[…] die Chronologie stammt in der Ursprungsfassung aus meiner Feder.“
(70. Sitzung am 13. Mai 2013, Protokoll des 2. Untersuchungsausschusses des
Deutschen Bundestages in der 17. Wahlperiode, S. 50). Gemeint ist damit die
Chronologie des Bundesamtes über die Tätigkeit des BfV und der beteiligten
Landesämter für Verfassungsschutz (LfV) seit dem Abtauchen des Trios in den
Untergrund. Diese Chronologie wurde zu einer Richtschnur für die öffentlichen
Äußerungen der Bundesregierung zum NSU und zu ihrem praktischen Umgang
mit der Affäre. In dieser Chronologie wurde festgeschrieben, dass weder das
BfV noch ein LfV V-Leute in der unmittelbaren Nähe des Trios untergebracht
hatten und dass auch niemand aus dem Trio selber V-Person des Verfassungs-
schutzes gewesen ist.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wann genau wurde die LoS des BfV nach der Entdeckung des NSU einge-

richtet, und wann genau wurde die LoS aufgelöst?
2. Was waren die genauen Aufträge und Aufgaben der LoS, und wie wurden

diese Aufträge und Aufgaben schriftlich niedergelegt?
3. Wer genau hat die Entscheidung über die Einrichtung dieser besonderen LoS

getroffenen?
4. Welche Rolle hat das Bundesministerium des Innern (BMI) bei der Einrich-

tung dieser LoS eingenommen, und welche Personen aus dem BMI waren an
der Planung und Umsetzung beteiligt?

5. Sollte das BMI nicht bei der Planung und Umsetzung der LoS beteiligt gewe-
sen sein, wann wurde das BMI über die Einrichtung und die Aufgaben der
LoS erstmals in Kenntnis gesetzt?

6. Welche Rolle hat das Bundeskanzleramt bei der Einrichtung dieser LoS ein-
genommen, und welche Personen aus dem Bundeskanzleramt waren an der
Planung und Umsetzung beteiligt?

7. Sollte das Bundeskanzleramt nicht bei der Planung und Umsetzung der LoS
beteiligt gewesen sein, wann wurde das Bundeskanzleramt über die Einrich-
tung und die Aufgaben der LoS erstmals in Kenntnis gesetzt?

8. Wie viele Personen haben an der Arbeit dieser LoS teilgenommen (bitte ge-
nau nach Monaten und Referaten auflisten)?

9. Wie war die Arbeit der LoS strukturiert?
Gab es eine Art leitendes Gremium, und wenn ja, aus wie vielen Personen be-
stand es, und wie wurde die Arbeit dieses Gremiums dokumentiert und pro-
tokolliert?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2242
10. Gab es unterschiedliche Arbeitsgruppen in dieser LoS, und wenn ja,
a) wie viele Arbeitsgruppen gab es,
b) wie viele Mitarbeiter hatten diese einzelnen Arbeitsgruppen,
c) welche genauen Aufgaben hatten diese einzelnen Arbeitsgruppen,
d) wie wurde die Arbeit dieser einzelnen Arbeitsgruppen protokolliert und

dokumentiert?
11. Wie hat das leitende Gremium diese Arbeit der LoS als Ganzes koordiniert,

abgestimmt und kontrolliert?
12. Wie viele Personen aus der LoS waren nach Kenntnis der Bundesregierung

am Schreddern von Akten und Löschen von Daten zum NSU und deren
Umfeld beteiligt?

13. Wie passt es nach Kenntnis der Bundesregierung zusammen, dass Mitarbei-
ter der LoS Akten zum Komplex NSU und dessen Umfeld vernichtet haben,
während andere Mitarbeiter aus dieser LoS die Berichte zum NSU und
dessen Umfeld schreiben mussten, die geschredderten Akten folglich in die
Berichterstattung nicht mehr einbeziehen konnten?

14. Wie viele Vermerke, Sprechzettel und andere Dokumente wurden aus der
Arbeit der LoS für die Amtsleitung entwickelt?

15. Welche inhaltlichen Ergebnisse konnte die LoS der Amtsleitung aus ihrer
monatelangen Arbeit zum Komplex NSU liefern?

16. Wurde das Parlamentarische Kontrollgremium über die Einsetzung und Ar-
beit der LoS unterrichtet, und wenn nein, warum nicht?

17. Welche Dokumente, die aus der Arbeit der LoS entstanden sind, wurden
dem Parlamentarischen Kontrollgremium übermittelt?

18. Warum wurde der 2. Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode des
Deutschen Bundestages über die Einsetzung und Arbeit der LoS nicht un-
terrichtet?

19. Welche Dokumente, die aus der Arbeit der LoS entstanden sind, wurden
dem 2. Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode des Deutschen Bun-
destages durch die Bundesregierung nicht übermittelt?

20. Wurde die normale Arbeit des BfV von November 2011 bis Sommer 2012
durch die Arbeit der LoS beeinträchtigt, und wenn ja, in welchen Referaten,
und in welchem Umfang ist das geschehen?

21. Wie bewertet die Bundesregierung insgesamt die Arbeit der LoS im Zusam-
menhang mit der Aufarbeitung der Verbrechen des NSU und seines Um-
felds?

Berlin, den 30. Juli 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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