BT-Drucksache 18/2157

Ausweisungen im Jahr 2013 und Entwurf zur Reform des Ausweisungsrechts

Vom 16. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2157
18. Wahlperiode 16.07.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Martina Renner, Dr. Petra Sitte,
Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Ausweisungen im Jahr 2013 und Entwurf zur Reform des Ausweisungsrechts

Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat im Mai 2014 einen Referenten-
entwurf „zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“
vorgelegt. Im Zentrum des Entwurfs stehe „die Neuausrichtung des Aus-
weisungsrechts sowie der Abbau rechtlicher Vollzugshindernisse in der Aufent-
haltsbeendigung“. Bereits während der vergangenen Legislaturperiode hatte das
BMI einen Referentenentwurf vorgelegt, der zahlreiche Verschärfungen im Aus-
weisungsrecht insbesondere gegenüber mutmaßlichen Extremisten und Straf-
tätern und für einen Großteil der Ausweisungstatbestände eine „Hochstufung“
innerhalb des dreistufigen Systems von Ermessens-, Regel- und zwingender
Ausweisung vorsah. Damit sollte es rechtlich einfacher werden, Ausweisungen
zu erlassen, indem den Ausweisungstatbeständen qua Gesetz jeweils ein höheres
Gewicht gegenüber den schutzwürdigen Belangen der Betroffenen gegeben
werden soll.
Problematisch dabei bleibt die schematische Prüfung der Ausweisungsvoraus-
setzungen, wohingegen die nationale und die europäische Rechtsprechung eine
individuelle Prüfung und Abwägung fordern. Dem will die Bundesregierung mit
ihrem Entwurf nun entsprechen, indem das alte dreistufige System durch die
Definition einerseits von „öffentlichen Ausweisungsinteressen“ und anderer-
seits „privaten Bleibeinteressen“ der Betroffenen ersetzt wird. Die Interessen
werden jeweils als „schwer wiegend“ oder „besonders schwer wiegend“ defi-
niert, das „private Bleibeinteresse“ kann auch zu einem „weniger schwer wie-
genden“ herabgestuft werden, wenn beispielsweise wegen länger anhaltender
Arbeitslosigkeit ein „Integrationsdefizit“ angenommen wird. Bei „besonders
schwerwiegenden Ausweisungsinteressen“ soll „in der Regel“ eine Ausweisung
angeordnet werden, auch wenn diesem ein „besonders schwer wiegendes Blei-
beinteresse“ entgegensteht. Der Deutsche Anwaltverein e. V. (DAV) bezweifelt
deshalb in einer Stellungnahme an das BMI und den Innenausschuss des Deut-
schen Bundestages, dass der Gesetzentwurf tatsächlich der höchstrichterlichen
Rechtsprechung gerecht wird, die eine „schematisierende Anwendung als mit
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar“ beurteilt hat. Der Ge-
setzentwurf verfolge ganz im Gegensatz das Ziel, Ausweisungen leichter hand-
habbar zu machen, indem eine umfassende ergebnisoffene Abwägung im Ein-
zelfall eben nicht ermöglicht werde. Die Schematisierung von „Interessenge-
wichten“ verhindere aber gerade eine umfassende Abwägung. Der DAV kriti-
siert zudem die Herabwürdigung der Beachtung von Menschenrechten und
völkerrechtlichen Verpflichtungen zum „Privatinteresse“ der Betroffenen. Der
Förderverein PRO ASYL e. V. kritisierte in einer Stellungnahme an das BMI
ebenfalls das Fehlen eines „öffentlichen Interesses am Verbleib“. Die Durchset-
zung von Menschenrechten sei ein solches öffentliches Interesse, beispielsweise

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der Schutz des Kindeswohls. Auch der UN-Flüchtlingskommissar legt in seiner
Stellungnahme an das BMI nahe, dass für Asylberechtigte und anerkannte
Flüchtlinge ein öffentliches Bleibeinteresse bestehen könnte, weil sie sich aus
einer völkerrechtlichen Verpflichtung ergibt, äußert aber insgesamt Bedenken an
der Unterteilung von „privatem Bleibeinteresse“ und „öffentlichem Auswei-
sungsinteresse“. Gerade in Bezug auf anerkannte Flüchtlinge sei es „fragwür-
dig“, ihr Bleibeinteresse als „privat“ zu werten.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember 2013)

im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Ausweisungsver-
fügung ergangen ist (bitte Ausweisungen der Jahre 2012, 2011 und 2010 ge-
sondert angeben)?

2. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember 2013)
im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Ausweisungsver-
fügung ergangen ist, differenziert nach Geschlecht?

3. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember 2013)
im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Ausweisungsver-
fügung ergangen ist, differenziert nach Alter (in den Schritten 0 bis 13 Jahre,
14 bis 17 Jahre, 18 bis 21 Jahre, 22 bis 26 Jahre, 27 bis 35 Jahre, 36 bis
60 Jahre, 60 Jahre und älter)?

4. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember 2013)
im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Ausweisungsver-
fügung ergangen ist, differenziert nach Bundesländern (bitte für Ausweisun-
gen der Jahre 2010 und 2011 eine gesonderte Auflistung nach Bundesländern
machen)?

5. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember 2013)
im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Ausweisungsver-
fügung ergangen ist, differenziert nach den 15 wichtigsten Herkunftsstaaten
(bitte für Ausweisungen des Jahres 2011 eine gesonderte Auflistung ma-
chen)?

6. Über welchen Aufenthaltsstatus verfügten Ausländerinnen und Ausländer
laut Ausländerzentralregister (mit Stand 31. Dezember 2013), gegen die eine
noch nicht wirksame Ausweisungsverfügung ergangen ist?

7. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember 2013)
im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Ausweisungsver-
fügung ergangen ist, differenziert nach befristet und unbefristet, und wie
viele dieser Ausweisungen erfolgten in den Jahren 2010, 2011 und 2012?

8. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer, gegen die eine Ausweisungsver-
fügung ergangen ist, sind (mit Stand 31. Dezember 2013) im Ausländerzen-
tralregister als „aufhältig“ bzw. „nicht aufhältig“ gespeichert (bitte bei den
noch aufhältigen Personen nach Bundesländern, den 15 häufigsten Her-
kunftsstaaten und dem Jahr der Ausweisung differenzieren)?
Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember 2013)
im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Ausweisungsver-
fügung ergangen ist, differenziert nach „noch nicht vollziehbar“, „sofort voll-
ziehbar“ und „unanfechtbar“, und wie viele dieser Ausweisungen erfolgten in
den Jahren 2010, 2011 und 2012?

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9. Wie viele der Ausländerinnen und Ausländer, gegen die eine Ausweisungs-
verfügung erging,
a) reisten freiwillig aus,
b) wurden abgeschoben,
c) konnten aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben

werden (bitte Gründe benennen und bitte mit Stand 31. Dezember 2013
für Ausweisungen im Jahr 2012 und 2013 angeben)?

10. Welche Erkenntnisse oder Einschätzungen liegen der Bundesregierung zu
der Frage vor, gegen wie viele Ausländerinnen und Ausländer auf der
Grundlage von § 54 Absatz 5, 5a, 6 und 7 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) und § 55 Absatz 2 Satz 1 Nr. 9 bis 11 AufenthG seit Geltung der
Regelungen eine Ausweisungsverfügung ergangen ist, und wie viele hier-
von rechtskräftig wurden?

11. In wie vielen Fällen hat die Arbeitsgruppe „Statusrechtliche Begleitmaß-
nahmen“ (AG Status) im vergangenen Jahr eine Überwachungsanordnung
nach § 54a AufenthG empfohlen, in wie vielen Fällen wurde dieser Emp-
fehlung nach Kenntnis der Bundesregierung Folge geleistet, und wie viele
Überwachungsanordnungen gab es insgesamt (bitte nach Jahren und Her-
kunftsstaaten der Betroffenen aufschlüsseln)?

12. In wie vielen Fällen hat die AG Status im vergangenen Jahr eine Abschie-
bungsanordnung ohne vorherige Ausweisung nach § 58a AufenthG emp-
fohlen, in wie vielen Fällen wurde dieser Empfehlung nach Kenntnis der
Bundesregierung Folge geleistet, und wie viele Abschiebungsanordnungen
gab es insgesamt (bitte nach Jahren und Herkunftsstaaten der Betroffenen
aufschlüsseln)?

13. In wie vielen Fällen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) im vergangenen Jahr auf Empfehlung der AG Status ein Wider-
rufs- bzw. Rücknahmeverfahren gegen eine Asyl- oder Flüchtlingsanerken-
nung eingeleitet (bitte nach Jahren, Staatsangehörigkeit der Betroffenen und
Ausgang des Verfahrens aufschlüsseln)?

14. Wie weit sind Bemühungen von Bund und Ländern mittlerweile gediehen,
für die knapp eine halbe Million als unbefristet erlassenen Einreiseverbote
ein „Bereinigungsverfahren“ (s. Bundestagsdrucksache 18/249, Frage 10)
durchzuführen?

15. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Kritik vom DAV und PRO ASYL e. V., der Referentenentwurf zur
Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung miss-
achte die vom Bundesverfassungsgericht und vom Europäischen Gerichts-
hof für Menschenrechte geforderte Prüfung im Einzelfall ohne Schematisie-
rung?

16. Inwieweit hält die Bundesregierung die geforderte Verhältnismäßigkeit und
Abwägung im Einzelfall überhaupt für vereinbar mit dem zentralen Ziel des
Gesetzentwurfs, das Ausweisungsrecht „handhabbar“ zu machen, was üb-
licherweise auf eine Vereinfachung rechtlicher Vorschriften hinausläuft?

17. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der vom DAV, PRO ASYL e. V. und dem Flüchtlingshilfswerk der Ver-
einten Nationen (UNHCR) geforderten Aufnahme eines „öffentlichen Blei-
beinteresses“, um menschenrechtliche Anforderungen angemessen berück-
sichtigen zu können?

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18. Wie begründet die Bundesregierung, dass menschen- und völkerrechtliche
Gründe für einen Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich
des „privaten Bleibeinteresses“ weder als „schwer wiegend“ noch als „be-
sonders schwer wiegend“ genannt werden?

19. Inwieweit ist die Aufzählung von „Bleibeinteressen“ in § 55 des Referen-
tenentwurfs als abschließend zu verstehen?
Falls sie als abschließend zu verstehen ist, welche Möglichkeiten bleiben
den Ausländerbehörden dann, weitere günstige Tatsachen für betroffene
Ausländerinnen und Ausländer in ihre Abwägung einzubeziehen?

20. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem Hinweis des DAV, der derzeitige Entwurf lasse nur einen rechtmä-
ßigen Aufenthalt als relevant für das „Bleibeinteresse“ gelten, obwohl nach
der einschlägigen Rechtsprechung auch der „geduldete“ Aufenthalt im Rah-
men des Artikels 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK –
Schutz des Privatlebens) berücksichtigungsfähig sei?

21. Wie begründet die Bundesregierung darüber hinaus, dass der Schutz des
Privatlebens aus Artikel 8 EMRK nach Auffassung der Fragesteller gar
keinen Eingang in den Referentenentwurf gefunden hat, auch indem in § 53
Absatz 1 des Referentenentwurfs lediglich „schutzwürdige Bindungen“ be-
rücksichtigt werden, und nicht einfach „Bindungen“ in der Bundesrepublik
Deutschland jeder Art?

22. Kann die Bundesregierung die vom PRO ASYL e. V. geäußerte Befürchtung
entkräften, dass durch die Verschärfung der Regelungen zu Einreise- und
Aufenthaltsverboten und die gleichzeitige Neufassung von § 25 Absatz 5
AufenthG (Streichen der Unschädlichkeit eines bestehenden Einreisever-
bots für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an Geduldete) zehntau-
sende Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 5 AufenthG
diese bei der nächsten Verlängerung verlieren könnten (bitte begründen)?

23. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der vom PRO ASYL e. V. und dem UNHCR geäußerten Befürchtung, die
Ausweitung der Einreise- und Aufenthaltsverbote auf alle Ausländerinnen
und Ausländer, die ihrer Ausreisepflicht nicht fristgerecht genügt haben,
und die vorgeschlagene Formulierung des § 25b des Referentenentwurfs
(Bleiberechtsregelung) könnten dazu führen, dass diese Bleiberechtsrege-
lung de facto leerläuft, weil Geduldete regelmäßig einer Ausreisepflicht
nicht nachgekommen sind?

24. Wieso finden sich im Referentenentwurf unter dem Punkt „Erfüllungsauf-
wand der Verwaltung“ keine Äußerungen zum möglicherweise gestiegenen
Erfüllungsaufwand von Ausländer- und insbesondere Polizeibehörden, die
der neu gefasste § 56 AufenthG (Überwachung ausgewiesener Ausländer)
durch die Ausdehnung der zu überwachenden ausgewiesenen Ausländer mit
sich bringen wird, insbesondere durch eine gestiegene Zahl von Residenz-
pflichtigen, Meldeauflagen bei der Polizei, Durchsetzung von Kontaktsper-
ren etc.?

25. Woraus leitet sich hingegen die Prognose des BMI im genannten Abschnitt
des Referentenentwurfs ab, eine geringerer Erfüllungsaufwand ergebe sich
durch die erleichterte und beschleunigte Aufenthaltsbeendigung „u. a,
durch Einsparung von Sozialleistungen“, und auf welche konkreten Er-
kenntnisse stützt sich die Prognose?

26. Welche Positionen der Länder zur Überwachung (nicht rechtskräftig) aus-
gewiesener Ausländerinnen und Ausländer sind der Bundesregierung be-
kannt?

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27. Welche Fälle sind der Bundesregierung bekannt, in denen ausgewiesene
Ausländer über einen längeren Zeitraum die erlassenen Überwachungs-
maßnahmen durch Rechtsschutzverfahren gegen die zugrundeliegende
Ausweisungsverfügung abwenden konnten, und diese fehlende Über-
wachung die Begehung von Straftaten, unentdeckte Ausreisen etc. ermög-
licht hat?

28. Mit wie vielen neuen Fällen von Überwachungsanordnungen ist nach
Ansicht der Bundesregierung (etwa auf Basis der Erkenntnisse aus der
AG Status) nach Inkrafttreten des Gesetzes zu rechnen?

Berlin, den 16. Juli 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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