BT-Drucksache 18/2028

Aufarbeitung der Berufsverbote und Aufhebung des KPD-Verbots

Vom 2. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2028
18. Wahlperiode 02.07.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Kerstin Kassner, Petra Pau, Kersten Steinke,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Aufarbeitung der Berufsverbote und Aufhebung des KPD-Verbots

Im Niedersächsischen Landtag wurde von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN ein Antrag mit dem Titel „Radikalenerlass – ein unrühm-
liches Kapitel der Geschichte Niedersachsens – endlich Kommission zur Aufar-
beitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen einrichten“
wieder aufgegriffen und erneut eingebracht. In dem Antrag heißt es zu den Fol-
gen des Radikalenerlasses, „[s]ystemkritische und missliebige Organisationen
und Personen wurden an den Rand der Legalität gedrängt, die Ausübung von
Grundrechten wie die Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit
wurde behindert, bedroht und bestraft. […] Statt Zivilcourage und politisches
Engagement zu fördern, wurde Duckmäusertum erzeugt und Einschüchterung
praktiziert.“ Die Landesregierung wird aufgefordert, „[e]ine Kommission zur
Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen und
der Möglichkeiten ihrer politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung ein-
zurichten“. Vorgeschlagen werden sollen auch Formen der öffentlichen Darstel-
lung der Rechercheergebnisse. In dieser Kommission sollen neben [Vertreterin-
nen und Vertretern des Landes] auch Betroffene, Vertreterinnen und Vertreter
von Gewerkschaften und Initiativen beteiligt werden.“ (Niedersächsischer
Landtag, Drucksache 17/1491).
Im Jahr 2012 war der damals noch gemeinsam mit der nicht mehr im Landtag
vertretenen Fraktion DIE LINKE. eingebrachte Antrag von der damaligen CDU/
FDP-Mehrheit abgelehnt worden. In der Debatte am 15. Mai 2014 signalisierten
nun auch Abgeordnete dieser jetzt in der Opposition stehenden Fraktionen ihre
Bereitschaft zur Aufarbeitung. So stellte der Redner der Fraktion der FDP Jan
Christoph Oetjen fest, „dass mit dem Radikalenerlass Unrecht geschehen ist“
und gegenüber den Betroffenen „Bedauern“ zum Ausdruck gebracht werden
solle. Die Abgeordnete der Fraktion der CDU Angelika Jahns sprach mögliche
„materielle Entschädigung“ an und betonte, dass Niedersachsen „als erstes Land
einen Beitrag“ zur Aufarbeitung leisten könne (Niedersächsischer Landtag, Ste-
nographischer Bericht, 35. Sitzung, vom 15. Mai 2014).
Der Antrag wurde fraktionsübergreifend beschlossen und an den Ausschuss für
Inneres und Sport zur Beratung verwiesen. Von langjährigen Berufsverbotenen
Betroffene, die der Landtagsdebatte als Besucher beiwohnten, bezeichneten den
Antrag „bereits jetzt als impulsgebendes Dokument […] das sicherlich auch
außerhalb der Grenzen des Bundeslandes Beachtung finden wird“. Handlungs-
bedarf sehen die Betroffenen insbesondere auf der Bundesebene, da sich bislang
sämtliche Bundestagsmehrheiten und Bundesregierungen „nach Einführung der
Berufsverbote vor ihrer Verantwortung für die verfassungswidrigen Maßnah-
men und für das Fortbestehen der Diskriminierung gedrückt“ haben. Dabei geht

Drucksache 18/2028 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
es nicht nur um eine moralische und politische Rehabilitierung, sondern auch
um eine „Behebung des angerichteten Schadens in finanzieller Hinsicht“, da
Renten- und Pensionskürzungen eine „lebenslange Abstrafung für die Betroffe-
nen“ bedeuteten (www.scharf-links.de/41.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D
=44958&tx_ttnews%5BbackPid%5D=7&cHash=aaa2062a41).
In der Bundesrepublik Deutschland wurden nach Einführung des so genannten
Radikalenerlasses durch eine Ministerpräsidentenkonferenz unter dem Vorsitz
des Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD) am 28. Januar 1972 rund 3,5 Millionen
Bewerberinnen und Bewerber bzw. Anwärterinnen und Anwärter für den öffent-
lichen Dienst vom Verfassungsschutz auf ihre politische Zuverlässigkeit durch-
leuchtet. Es erfolgten nach Angaben der Bundesregierung vor der Internationalen
Arbeitsorganisation (ILO), die 1987 die Berufsverbotspraxis verurteilt hatte,
11 000 offizielle Berufsverbote, 2 200 Disziplinarverfahren, 1 250 Ablehnun-
gen von Bewerbungen und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst. Der
Bund stellte nach massiver in- und ausländischer Kritik im Jahr 1979 die Regel-
anfragen beim Verfassungsschutz ein, die Bundesländer folgten bis 1991. Willy
Brandt bezeichnete den Radikalenerlass später als einen „Irrtum“ und erklärte es
zum „demokratisch-rechtsstaatlichen Gebot“, die „negativen Folgen des einstigen
Ministerpräsidentenbeschlusses zu bereinigen“ (www.ag-friedensforschung.de/
themen/Kalterkrieg/berufsverbot.html).
Bis heute kann eine Bedarfsanfrage beim Verfassungsschutz erfolgen, wenn
Zweifel darüber bestehen, ob ein Bewerber oder eine Bewerberin für den öffent-
lichen Dienst jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintre-
ten wird. Am 26. September 1995 entschied der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) in Straßburg im Fall Dorothea Vogt, dass der Radika-
lenerlass gegen die Menschenrechte der Meinungs- und Koalitionsfreiheit sowie
das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe. Bislang stellte sich die Bun-
desregierung allerdings auf den Standpunkt, dass dies nur einen nicht ohne wei-
teres zu verallgemeinernden Einzelfall beträfe und daher keine Veranlassung
bestünde, allgemeine Konsequenzen aus dem Urteil des EGMR vom 26. Sep-
tember 1995 im Fall Dorothea Vogt zu ziehen (Bundestagsdrucksachen 13/3853,
16/6210, 17/8667).
Bereits das vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 1956 erlassene Verbot der
Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) hatte zum Teil erhebliche persön-
liche und berufliche Konsequenzen nicht nur gegen die zum Verbotszeitpunkt
6 000 bis 7 000 Parteimitglieder sondern auch gegen mutmaßliche Sympathi-
santinnen und Sympathisanten. Aufgrund des KPD-Verbots erfolgten zwischen
125 000 und 200 000 Ermittlungsverfahren und 7 000 bis 10 000 Verurteilun-
gen. Auch ohne eine Verurteilung konnte bereits der Verdacht einer strafbaren
Handlung zu einer Kündigung führen. Zudem sind Fälle bekannt, in denen der
Verfassungsschutz bei einer Neueinstellung auf die frühere politische Betäti-
gung eines ehemaligen KPD-Mitgliedes hinwies und so eine Kündigung provo-
zierte (Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der
Bundesrepublik, Frankfurt/Main, 1978). Am 19. Mai 2014 übergaben der Vor-
sitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifa-
schistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Heinrich Fink und Peter Dürrbeck,
Mitglied im Sprecherkreis der Initiativgruppe für die Rehabilitierung der Opfer
des Kalten Krieges, dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundstages über
3 000 Unterschriften für die Aufhebung des Verbotsurteils von 1956. Die VVN-
BdA und die Initiativgruppe erklärten, das KPD-Verbot sei ein mit der Demo-
kratie unvereinbares Relikt des Kalten Krieges, das sich gegen Antifaschistin-
nen und Antifaschisten richte (www.jungewelt.de/2014/06-04/058.php).

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2028
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwieweit bewertetet die Bundesregierung im Rückblick den Radikalenerlass

als ein angemessenes Mittel zum Schutze der freiheitlichen demokratischen
Grundordnung?
a) Inwieweit teilt die Bundesregierung heute die Auffassung des früheren

Bundeskanzlers Willy Brandt, wonach der im Jahr 1972 unter seiner
Kanzlerschaft erlassene Radikalenerlass ein „Irrtum“ gewesen sei (bitte
begründen)?

b) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass infolge des Radikalen-
erlasses den Betroffenen durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote,
langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen und Arbeitslosigkeit
vielfältiges Leid widerfahren ist?

c) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass durch den Radikalenerlass
und die Berufsverbote systemkritische und missliebige Organisationen
und Personen an den Rand der Legalität gedrängt und in der Ausübung
von Grundrechten behindert, bedroht und bestraft wurden, und wenn ja,
wie bewertet sie dies rückwirkend?

d) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass durch Radikalenerlass und
Berufsverbote vielfach Duckmäusertum erzeugt und Einschüchterung
praktiziert wurden, anstatt Zivilcourage und politisches Engagement zu
fördern, und wenn ja, wie beurteilt sie rückblickend diese Auswirkungen?

2. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass eine vollständige politische,
gesellschaftliche und sozialrechtliche Rehabilitierung der von Berufsverbo-
ten Betroffenen noch aussteht?
a) Wenn ja, in welcher Form sollte nach Ansicht der Bundesregierung eine

solche Rehabilitierung stattfinden?
Inwiefern erwägt sie diesbezüglich eigene Initiativen?

b) Wenn nein, wann und in welcher Form fand eine Rehabilitierung der
Opfer von Berufsverboten bereits statt?

3. Welche finanziellen Nachteile sind den von Berufsverboten Betroffenen nach
Kenntnis der Bundesregierung entstanden, und inwieweit wurden bislang
Schadenersatz und weitergehende Ausgleichsleistungen für berufliche Be-
nachteiligungen (z. B. bei der Rentenversicherung) gewährt?

4. Befürwortet die Bundesregierung eine Initiative zur Streichung oder Über-
arbeitung der am 17. Januar 1979 neugefassten Grundsätze für die Prüfung
der Verfassungstreue, und wenn ja, in welcher Form?

5. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über den Inhalt des Antrags „Ra-
dikalenerlass – ein unrühmliches Kapitel der Geschichte Niedersachsens –
endlich Kommission zur Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverbo-
ten betroffenen Personen einrichten“ sowie die diesbezügliche Debatte im
Niedersächsischen Landtag vom 14. Mai 2014?

6. Gab es nach Kenntnis der Bundesregierung derartige Anträge zu dieser The-
matik und mit dieser Zielsetzung auch in anderen Bundesländern, wenn ja, in
welchen, und inwieweit wurden diese Anträge von den Landesparlamenten
beschlossen oder abgelehnt?

7. Hält es die Bundesregierung für möglich, analog zur Initiative im Nieder-
sächsischen Landtag, auf Bundesebene Schritte zur Aufarbeitung des Radi-
kalenerlasses und der Berufsverbote einzuleiten?
a) Wenn ja, in welcher Form?
b) Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 18/2028 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
8. Hält die Bundesregierung eine auf Bundesebene einzurichtende, wissen-
schaftlich arbeitende Kommission für geeignet, um die Schicksale der von
Berufsverboten betroffenen Menschen aufzuarbeiten, und wenn ja, inwie-
weit würde sie sich für die Einrichtung einer solchen Kommission einset-
zen?

9. In welcher Form wird die Thematik der Berufsverbote in Materialien zur
politischen Bildung des Bundes und – nach Kenntnis der Bundesregierung –
der Länder aufbereitet (bitte entsprechende Schriften, Websites und Mate-
rialien benennen)?

10. Inwieweit erachtet die Bundesregierung das im Jahr 1956 vom Bundesver-
fassungsgericht verfügte Verbot der KPD weiterhin für notwendig?

11. Hält die Bundesregierung die im Jahr 1956 vom Bundesverfassungsgericht
genannten Gründe für ein Verbot der KPD weiterhin für gültig?
a) Wenn ja, mit welcher Begründung?
b) Wenn nein, welche dieser Gründe sind heute obsolet?

12. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass heute von der KPD oder mög-
lichen Nachfolgeorganisationen eine Gefahr für die freiheitliche demokrati-
sche Grundordnung ausgeht oder in Zukunft ausgehen kann, die ein Festhal-
ten am KPD-Verbot weiterhin rechtfertigt?

13. Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich nach Kenntnis der Bundes-
regierung heute noch aus dem Fortbestehen des KPD-Verbots?

14. Welche juristischen und politischen Möglichkeiten zur Aufhebung des
KPD-Verbots bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung?

15. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass infolge des KPD-Verbots Un-
recht geschehen ist, und wenn ja, welche Möglichkeiten der Rehabilitierung
und Wiedergutmachung für diese Opfer des Kalten Krieges sieht sie?

16. In welchen Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestand oder besteht
nach Kenntnis der Bundesregierung ein mit dem KPD-Verbot vergleichba-
res Verbot einer kommunistischen Partei (bitte angeben, unter welcher Re-
gierung, durch welche Behörde oder welche staatliche Institution, seit
wann, mit welcher Dauer und mit welcher Begründung diese Verbote ver-
hängt wurden)?

Berlin, den 30. Juni 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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