BT-Drucksache 18/1969

Artikel 36 der Istanbul-Konvention umsetzen - Bestehende Strafbarkeitslücken bei sexueller Gewalt und Vergewaltigung schließen

Vom 2. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1969
18. Wahlperiode 02.07.2014

Antrag
der Abgeordneten Ulle Schauws, Katja Keul, Katja Dörner, Renate Künast,
Dr. Franziska Brantner, Doris Wagner, Beate Walter-Rosenheimer, Kai Gehring,
Maria Klein-Schmeink, Tabea Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Kordula
Schulz-Asche, Dr. Harald Terpe, Claudia Roth (Augsburg) und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Artikel 36 der Istanbul-Konvention umsetzen – Bestehende Strafbarkeitslücken
bei sexueller Gewalt und Vergewaltigung schließen

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Am 11. Mai 2011 hat die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen des
Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusli-
cher Gewalt (Istanbul-Konvention) unterzeichnet. Darin werden die Vertragsstaa-
ten in Artikel 36 verpflichtet, alle Formen vorsätzlich nicht einverständlicher sexu-
eller Handlungen unter Strafe zu stellen.

Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung muss schon dann geschützt wer-
den, wenn das Opfer keinen sexuellen Kontakt will und mit Worten widerspricht.
Es muss nicht die Bereitschaft nachweisen, dieses Rechtsgut aktiv zu verteidigen.
Im Rahmen der Ratifikation der Europaratskonvention müssen die Tatbestände
gegen die sexuelle Selbstbestimmung geändert und ein Normgefüge formuliert
werden, das auf der Tatbestandsebene alle Formen nicht einverständlicher Sexual-
akte umfasst.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzesentwurf zur Ratifizierung des Übereinkommens des Europarates
zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher
Gewalt (Istanbul-Konvention), mit dem Ziel insbesondere der Umsetzung von
Artikel 36 der Istanbul-Konvention, vorzulegen;
sicherzustellen, dass die Länder in regelmäßigen Abständen statistische Daten
über Fälle von allen in den Geltungsbereich des Übereinkommens fallenden
Formen von Gewalt sammeln; die Forschung zu fördern, um ihre eigentlichen
Ursachen und ihre Auswirkungen, ihr Vorkommen und die Aburteilungsquote
sowie die Wirksamkeit der zur Durchführung dieses Übereinkommens getroff-
enen Maßnahmen zu untersuchen und diese öffentlich zugänglich zu machen.

Berlin, den 1. Juli 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion
Drucksache 18/1969 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Begründung

Die derzeitige Gesetzeslage im deutschen Strafrecht entspricht nicht den Anforderungen der unterzeichneten
Konvention und muss daher zur Ratifizierung entsprechend abgeändert werden. Bisher gilt als sexuelle Nöti-
gung/Vergewaltigung nach § 177 des Strafgesetzbuches (StGB), wenn der Täter oder die Täterin das Opfer
durch Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben oder unter Ausnutzung einer Lage,
in der das Opfer der Einwirkung des Täters oder der Täterin schutzlos ausgeliefert ist, nötigt, sexuelle Hand-
lungen des Täters, der Täterin oder eines Dritten an sich zu dulden oder an diesen vorzunehmen. Tathandlun-
gen, die mit Eindringen in den Körper des Opfers verbunden sind (Vergewaltigung) oder durch mehrere Per-
sonen gemeinschaftlich begangen werden, werden als besonders schwerer Fall der sexuellen Nötigung quali-
fiziert (§ 177 Absatz 2 StGB). Es muss also ein den sexuellen Handlungen entgegenstehender Wille mit
Zwang gebrochen werden. Ein Fehlen einer freien Zustimmung zu verschiedenen sexualisierten Handlungen
bzw. deren Duldung, wenn dabei kein Zwang ausgeübt wird, um den Willen des Opfers zu brechen, führt
nicht zu einer Verurteilung nach §177 StGB. Damit werden Fälle nicht geahndet, in denen das Opfer mit
Worten widerspricht, vom Täter oder der Täterin überrascht wird, aus Angst erstarrt ist und sich nicht wehrt,
körperlichen Widerstand als aussichtslos erachtet oder befürchtet, sich dadurch weitere gravierende Verlet-
zungen zuzuziehen. In einer Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes werden verschiedene Praxis-
beispiele aufgeführt, in denen es nicht zu Verurteilungen nach §177 StGB gekommen ist, bei denen aber das
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung deutlich verletzt wurde (Deutscher Juristinnenbund: Stellungnahme zur
grundsätzlichen Notwendigkeit einer Anpassung des Sexualstrafrechts (insbesondere § 177 StGB) an die
Vorgaben der Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und
häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) von 2011, 9.5.2014, www.djb.de).

Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung, d. h. die Freiheit der Person, über Zeitpunkt, Form und Part-
ner bzw. Partnerin sexueller Betätigung selbst zu entscheiden, muss umfassend geschützt werden. Dieses
Rechtsgut muss nach derzeitiger Rechtslage aktiv verteidigt werden. Diese Auffassung führt in der Praxis
auch zu einem eingeschränkten Rechtsschutz von Menschen mit Beeinträchtigung. Das Rechtsgut der sexuel-
len Selbstbestimmung wird damit nicht voraussetzungslos geschützt, sondern um den Tatbestand der Verge-
waltigung überhaupt zu erfüllen, sind Gewalt, qualifizierte Drohung oder schutzlose Lage erforderlich – wäh-
rend beispielsweise die Anwendung von Gewalt bei anderen Delikten deutlich strafverschärfend wirkt.

Nur ein geringer Anteil der Fälle von sexualisierter Gewalt wird überhaupt angezeigt (so z. B. BMFSFJ
(Hg): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland (2005)). Nach der Polizeilichen
Kriminalstatistik des Bundesministeriums des Innern wurden in Deutschland im Jahr 2012 8 031 Fälle einer
sexuellen Nötigung/Vergewaltigung nach § 177 StGB angezeigt. Sexuelle Gewalt wird zu 95 bis 99 Prozent
von Männern ausgeübt (BMFSFJ, Gender-Datenreport (2005), S. 610).

Die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener ist weder nach aktueller Rechtslage noch entsprechend interna-
tionalen Vorgaben umfassend geschützt.

Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Umsetzung europäischer Vorga-
ben zum Sexualstrafrecht (Stand April 2014) des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz
erklärt, die Istanbul-Konvention umzusetzen. Darin fehlen allerdings Regelungen zur Umsetzung von Artikel
36 im Hinblick auf die Strafbarkeit nicht einverständlicher sexueller Handlungen. Ebenso fehlt eine nicht-
diskriminierende Reform von § 179 StGB, um den geringeren Strafrahmen bei Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung von Behinderten und anderen widerstandsunfähigen Personen mit Beeinträchtigungen
anzupassen. Hierzu fordert auch die UN-Behindertenrechtskonvention Anpassungen.

Neben der Istanbul-Konvention bestimmen auch die Artikel 3 und 8 der Europäischen Menschenrechtskon-
vention die Vertragsstaaten, eine effektive Strafverfolgung von Sexualstraftaten sicherzustellen. Nach Auf-
fassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) wurde zwar früher in vielen Staaten
Gewalt und Gegenwehr für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung vorausgesetzt, dies habe sich aber in
den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Jetzt ist bei Sexualdelikten die Strafbarkeit an die fehlende freie
Zustimmung des Opfers gebunden (EGMR-Urteil vom 4.12.2003, M.C. versus Bulgaria (Nr. 153). Auch die
Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women (CEDAW) verpflichtet, nicht
einverständliche sexualisierte Übergriffe adäquat zu verfolgen; dies ist spätestens seit 1992 mit der Veröf-
fentlichung der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19 durch den CEDAW-Ausschuss unzweifelhaft (zu den völ-
kerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland siehe auch Rabe/von Normann, S. 14 ff.).

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