BT-Drucksache 18/1622

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zu den Ergebnissen des Informellen Abendessens der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten am 27. Mai 2014 in Brüssel sowie zum G7-Gipfel am 4./5. Juni 2014 in Brüssel

Vom 4. Juni 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1622
18. Wahlperiode 04.06.2014

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz,
evi Da delen, Dr. Diether Deh , Annette Groth, eike nsel, nge
Höger, Andrej Hunko, Katrin Kunert, Stefan Liebich, Niema Movassat,
Dr. Alexander S. Neu, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

zu den Ergebnissen des Informellen Abendessens der Staats- und
Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten am 27. Mai 2014 in
Brüssel sowie zum G7-Gipfel am 4./5. Juni 2014 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Europäische Union (EU) befindet sich in einer schweren und umfassenden
Krise. Dabei erwies sich die bis heute andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise als
ein „Katalysator“, der strukturelle Defizite der EU-Integration hervortreten ließ:
Die einseitig auf Wettbewerbsfähigkeit, Liberalisierung, Deregulierung und Priva-
tisierung ausgerichtete EU-Binnenmarktpolitik sowie die verfehlte Politik der Kri-
senbekämpfung aus Ausgabenkürzungen und marktliberalen Reformen haben die
Wirtschaftskrise bis heute nicht überwinden können: Die ökonomische Erholung
mit seitens der EU-Kommission prognostizierten Wachstumsraten von 1,2 Prozent
in der Eurozone sowie 1,5 Prozent in der EU bleibt auch für 2014 schwach und
durch Risiken gefährdet. Vor allem in den südlichen Euroländern wächst nach
Jahren der Rezession die Wirtschaft nur äußerst langsam. Zudem steigen dort die
Schuldenquoten weiter an oder verharren auf hohem Niveau – wie auch in anderen
Ländern in Euroraum und EU.
Die Politik der Krisenbekämpfung, insbesondere die Austeritätspolitik, die den
„Krisenländern“ der Eurozone von der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF
diktiert wurde, führte darüber hinaus zu einer umfassenden sozialen Krise. Diese
findet unter anderem in hoher Arbeitslosigkeit, rasant zunehmender sozialer Un-
gleichheit innerhalb und zwischen den EU-Mitgliedstaaten, steigenden Armutsquo-
ten und zunehmend ausgehöhlten Sozialsystemen ihren Ausdruck. Rund 125 Milli-
onen Menschen – ein Viertel der EU-Bevölkerung – leben heute in Armut oder
sind armutsgefährdet.
In der Krise verschärfte sich zudem das strukturelle Demokratiedefizit der EU: Die
demokratisch nicht legitimierte Troika setzt die Kürzungspolitik auch gegen Wi-
derstände von Regierungen und Parlamenten durch. Zudem werden in zentralen
Politikbereichen wie beispielsweise im Rahmen der verstärkten Haushaltsüberwa-

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chung den Mitgliedstaaten und ihren Parlamenten politische Handlungs- und Ge-
staltungsspielräume entzogen und Kompetenzen an die EU-Kommission übertra-
gen, ohne dass auf EU-Ebene demokratische Kontrollmechanismen bestehen.
Die Politik der EU (und ihrer Mitgliedstaaten, vor allem Deutschlands) hat so zu
einer sich zuspitzenden Legitimationskrise europäischer Politik und der EU-
Institutionen sowie zu einer wachsenden Vertrauenskrise bei den Bürgerinnen und
Bürgern in den europäischen Integrationsprozess geführt: Während das Europapar-
lament (EP) als politischer Akteur (teils zu Unrecht) kaum wahrgenommen wird,
steht die EU-Kommission, bzw. steht „Brüssel“, für zunehmend intransparente und
bürokratische „Regulierungswut“, die immer größeren Einfluss auf das Leben der
Menschen ausübt. Die EU wird von einer wachsenden Zahl ihrer Bürgerinnen und
Bürger als Bedrohung sozialstaatlicher und demokratischer Errungenschaften
wahrgenommen, die mit dem eigenen Nationalstaat in Verbindung gebracht wer-
den. Hiervon haben in den vergangenen Jahren in vielen Ländern nationalistische,
rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen und Parteien profitiert, die mit
antieuropäischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Parolen politisches Kapital
aus der Krise zu schlagen versuchen.
Die Ergebnisse der Wahlen zum Europaparlament am 25. Mai 2014 haben diese
Entwicklung bestätigt: Die erneut geringe Wahlbeteiligung von 43 Prozent im EU-
Durchschnitt (bei großen Abweichungen in den Ländern) ist ein deutlicher Hinweis
darauf, dass dem EP von einer Mehrheit der Wahlberechtigten aufgrund seiner
eingeschränkten Gestaltungskompetenzen eine nur geringe Bedeutung beigemes-
sen wird. In vielen Ländern wurde die Wahl als Protestwahl auch gegen die jewei-
lige nationale Regierung genutzt. Teilweise deutliche Stimmeinbußen mussten die
traditionell „EU-freundlichen“ Parteien aus dem bürgerlich-konservativen und
liberalen Spektrum sowie sozialdemokratische Parteien hinnehmen, die für ihre
grundsätzliche Unterstützung der aktuellen EU-Politik und des marktliberal ausge-
richteten EU-Integrationsprozesses abgestraft wurden.
Insgesamt bestätigte sich in den Wahlen zum EP ein von vielen Beobachtern er-
warteter Rechtsruck: Gegenüber dem Wahlergebnis von 2009 verzeichnete das in
sich durchaus heterogene Spektrum von rechtspopulistischen, rechtsextremen und
offen (neo)faschistischen Parteien deutliche Stimmengewinne. Die berechtigte
Unzufriedenheit mit der neoliberalen EU-Politik konnten diese Parteien in eine
generelle Ablehnung in der EU ummünzen. Besorgnis erregend ist, dass in einigen
Ländern Parteien aus diesem Spektrum sogar zur stärksten politischen Kraft auf-
stiegen: In Großbritannien erzielte die rechtspopulistische United Kingdom Inde-
pendence Party (UKIP) mit 27,5 Prozent der Stimmen eine Rekordergebnis ebenso
wie der rechtsextreme Front National (FN) in Frankreich, der mit 25 Prozent eben-
falls stärkste Partei wurde. Auch in Dänemark wurde mit der Dänischen Volkspar-
tei (DF) eine rechtsextreme Partei mit knapp 27 Prozent stärkste Kraft. Deutliche
Zuwächse konnten unter anderem die rechtsextremen Parteien aus Österreich
(FPÖ) und Schweden (Schwedendemokraten), die rechtspopulistische Alternative
für Deutschland (AfD) und sogar offen neofaschistische Parteien wie „Goldene
Morgenröte“ (Griechenland) verzeichnen. Die Jobbik-Partei aus Ungarn stabilisier-
te sich auf hohem Niveau (14,7 Prozent) – neben der nationalkonservativen und
offen antieuropäischen Regierungspartei FIDESZ. Auch die NPD wird einen Ab-
geordneten ins EP entsenden können.
Zwischen den Parteien der äußeren Rechten bestehen durchaus wichtige Unter-
schiede: ideologische Differenzen und abweichende strategische Ausrichtungen.
Die rechtsextremen Parteien FN und DF zum Beispiel moderierten seit einigen
Jahren ihre Rhetorik, um auch Proteststimmen und Wähler aus dem bürgerlichen
Lager anzusprechen und sich auf Dauer als rechte und „akzeptierte Alternative“ zu
den bürgerlichen Parteien zu etablieren und – auf EU-Ebene und primär in ihren
Herkunftsländern – die politische Agenda nach rechts zu verschieben. Bei aller
Unterschiedlichkeit eint diese Parteien ihre grundsätzliche Ablehnung nicht nur der

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/1622

EU, sondern auch der europäischen Integration, ihre restriktive Haltung beim
Thema Migration – auch innerhalb der EU – sowie in unterschiedlich scharfer
Ausprägung die Propagierung demokratiefeindlicher Positionen. Die Forderungen
nach „weniger EU“, nach einem Stopp oder der Rücknahme europäischer Integra-
tionsschritte (bis hin zum Austritt aus der EU) übersetzen sich dabei in ein „Mehr“
an Nationalismus und nationalstaatlicher Abgrenzung. Es werden einfache Lösun-
gen für komplexe Probleme angeboten – durch nationale, ethnische, sogar rassi-
sche Homogenität von Gesellschaften sollen kollektive Probleme gelöst werden.
Augenfällig ist dabei, dass von diesen Parteien zwar die sozialen und sozio-
ökonomischen Dimensionen der Krise in der EU benannt und für die Mobilisierung
sozial-chauvinistischer Stimmungen instrumentalisiert werden, zugleich aber eine
wirtschaftsliberale Programmatik vertreten wird.
In vielen Ländern haben bürgerlich-konservative Parteien in den vergangenen Jah-
ren – auch im aktuellen Wahlkampf zum EP – (Teil-)Forderungen der rechtspopu-
listischen Agenden – vor allem aber nicht nur in Bezug zu migrations- und sozial-
politischen Themen (z. B. die vermeintliche Überlastung nationaler Sozialsysteme
durch scheinbare „Masseneinwanderung“) übernommen. Rechtspopulismus und –
Extremismus sind zu einer ernsten Bedrohung der Demokratie in Europa gewor-
den.
Gemäß dem Vertrag von Lissabon schlägt der Europäische Rat nach Beratungen
mit qualifizierter Mehrheit dem EP einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten
der EU-Kommission vor. Er ist dabei verpflichtet, das Ergebnis der Wahlen zum
EP zu berücksichtigen (Artikel 17 Absatz 7 EUV). Das EP wählt den Kommissi-
onspräsidenten mit einfacher Mehrheit. Erstmals stellten die europäischen Parteien-
familien eigene Spitzenkandidaten für dieses Amt auf. Keiner der Kandidaten der
beiden stärksten Parteienfamilien – Jean Claude Juncker für die EVP und Martin
Schulz für die S&D – wird im EP die ausreichende Stimmenmehrheit im jeweils
eigenen Lager mobilisieren können. Problematisch wäre, wenn Juncker (oder ein
anderer Kandidat) aus dem bürgerlichen Lager auf die Stimmen der ganz rechten
Parteien und Rechtspopulisten angewiesen wäre.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Europäischen Rat darauf hinzuwirken, dass ein Kandidat vorgeschlagen
wird, der im EP eine Mehrheit bekommen kann, ohne auf Stimmen aus dem
Spektrum rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien angewiesen zu
sein;

2. sich im Europäischen Rat und in Dialog mit den demokratischen europäischen
Parteienfamilien und dem EP für eine klare Abgrenzung der demokratischen
Regierungen und Parteien von rechtspopulistischen und -extremen Kräften im
EP sowie auf nationaler Ebene einzusetzen;

3. sich auf EU-Ebene – im Europäischen Rat sowie gemeinsam mit dem EP und
der EU-Kommission – für eine signifikante politische und finanzielle Aufwer-
tung von europäischen Programmen gegen Rechtspopulismus und Rechtsex-
tremismus, gegen Diskriminierung und für Toleranz, Minderheitenschutz,
interkulturellen Dialog und antirassistische Initiativen einzusetzen sowie die
Förderung von Projekten gegen antimuslimische, antijüdische und rechtsext-
reme Tendenzen und Bewegungen voranzutreiben;

4. sich auf europäischer Ebene für den Aufbau einer europäischen Präventionsar-
chitektur gegen Rassismus und Neofaschismus einzusetzen und auf die zügige
Umsetzung der Empfehlungen der Europäischen Kommission gegen Rassis-
mus und Intoleranz (ECRI) durch EU-Institutionen und Mitgliedstaaten hin-
zuwirken;
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5. sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass der Kampf gegen strukturellen
Rassismus in der Politik von EU und Mitgliedstaaten, z. B. in der Flüchtlings-
und Migrationspolitik, hohe Priorität erhält und umgesetzt wird;

6. sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass den strukturellen Ursachen
der gegenwärtigen EU-Skepsis, die den Nährboden für das Erstarken rechtspo-
pulistischer und rechtsextremer Bewegungen und Parteien bilden, entschieden
entgegengewirkt wird. Dies beinhaltet zum Teil grundlegende Kurskorrekturen
der EU-Politik und der ihrer Mitgliedstaaten wie u. a. dass
– das diktierte Lohndumping sofort beendet und das illegitime Kürzungsdik-
tat der Troika und EU-weit die krisenverschärfende Kürzungspolitik sofort
zurückgenommen werden sowie ein EU-weit koordiniertes sozial-
ökologisches Zukunftsinvestitionsprogramm aufgelegt wird, das insbeson-
dere den sozial-ökologischen Umbau befördert und die Jugendarbeitslosig-
keit abzubauen hilft;

– die öffentliche Kreditaufnahme aus der Abhängigkeit der Finanzmärkte be-
freit und zugleich eine strikte Regulierung der entfesselten Finanzmärkte
eingeleitet wird;

– eine fiskalpolitische Koordinierung eingeleitet wird, die die Staatseinnah-
men auf hohem Niveau stabilisiert und die Lebensstandards erhöht. Dazu
gehören unter anderem die Einführung von EU-weit koordinierten Min-
deststeuersätzen für Unternehmen, eine EU-weit koordinierte Vermögens-
abgabe, eine koordinierte stärkere Besteuerung von Spitzeneinkommen,
Vermögen und Kapitalerträgen;

– eine wirtschaftspolitische Koordinierung eingeleitet wird, die die souverä-
nen Gestaltungsmöglichkeiten der EU-Mitgliedstaaten nicht schmälert und
die Lebensstandards der Menschen in der EU verbessert. Dazu gehören un-
ter anderem soziale Mindeststandards auf hohem Niveau, EU-weit koordi-
nierte Mindestlöhne, die mindestens 60 Prozent des nationalen Durch-
schnittslohns betragen und antizyklisch wirken, indem sie nicht sinken dür-
fen, sowie die Einführung einer sozialen Fortschrittsklausel in die EU-
Verträge;

– die EU-Verträge einer grundlegenden Revision unterzogen werden, um auf
diesem Weg einen Neustart für ein demokratisches, soziales und friedliches
Europa zu ermöglichen.

Berlin, den 30. Mai 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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