BT-Drucksache 18/1616

Schutzbedarf von Roma aus Westbalkanstaaten anerkennen

Vom 4. Juni 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1616
18. Wahlperiode 04.06.2014

Antrag
der A geordneten lla elpke an orte e i Da delen Dr. Andr ahn
Petra Pau, Martina Renner, Kersten Steinke, Azize Tank, Frank Tempel,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Schutzbedarf von Roma aus Westbalkanstaaten anerkennen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Bundesregierung will die Westbalkanländer Serbien, Mazedonien und
Bosnien und Herzegowina mit einer Gesetzesänderung als sichere Herkunfts-
staaten einstufen (Bundestagsdrucksache 18/1528). Diese Maßnahme zielt vor
allem auf Roma-Flüchtlinge ab, denn mehrheitlich sind die Asylsuchenden aus
diesen Ländern Roma, im Falle Serbiens zu über 90 Prozent. Deren oft exis-
tenzielle Notlage, systematische politische, wirtschaftliche und soziale Aus-
grenzung und rassistische Diskriminierungen werden somit qua Gesetz negiert.
Die gesetzgeberische Unterstellung eines vermeintlichen Asylmissbrauchs be-
stätigt und fördert zudem verbreitete antiziganistische Vorurteile in der Bevöl-
kerung. Von der Einstufung betroffenen sind aber auch z. B. Homo- und
Transsexuelle, die von Anfeindungen, Diskriminierung und Gewalt bedroht
sind.

2. Die Begründung des Gesetzesvorhabens genügt weder verfassungsrechtlichen
noch unionsrechtlichen Anforderungen an die sorgfältige Darlegung der ge-
setzlichen Vermutung einer grundlegenden Verfolgungssicherheit. So wird le-
diglich behauptet, Erkenntnisse lokaler Menschenrechtsorganisationen, von
Nichtregierungsorganisationen und internationalen Organisationen seien bei
der Beurteilung der Lage in den jeweiligen Ländern berücksichtigt worden.
Eine konkrete und nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den vorliegenden
unabhängigen und kritischen Berichten zur Menschenrechtslage in den West-
balkanländern findet jedoch nicht einmal im Ansatz statt. PRO ASYL bezeich-
nete die Lagebeschreibung im Gesetzentwurf deshalb als „verharmlosend und
irreführend“ (Presseerklärung vom 30.4.2014). Der Hohe Flüchtlingskommis-
sar der Vereinten Nationen (UNHCR) kritisierte in einer Stellungnahme vom
28.2.2014, dass die Gesetzesbegründung im Grunde nur auf einer Informati-
onsquelle basiere: dem – öffentlich nicht einsehbaren – Lagebericht des Aus-
wärtigen Amtes.

3. Die Asylpraxis zeichnet sich in Bezug auf die genannten Länder bereits jetzt
durch unzureichende Prüfungen im Schnellverfahren und entsprechend hohe
Ablehnungsquoten aus. Die angestrebte Gesetzesänderung würde diese Ten-
denz zur Ablehnung im Schnellverfahren weiter verstärken. Dies wurde auch
in einem Aufruf zahlreicher Bürgerrechtsorganisationen, Rechtsanwaltsverei-

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ne, Flüchtlingsräte, Roma- und Sinti-Organisationen und Einzelpersonen kriti-
siert („Roma-Flüchtlinge haben kein sicheres Herkunftsland“,
http://www.grundrechtekomitee.de/node/629). Das Vorhaben widerspreche
dem Bekenntnis der Bundeskanzlerin, Sinti und Roma im Kampf um ihre
Rechte zu unterstützen, wo auch immer sie leben. Geflüchtete Roma brauchen
ein faires Asylverfahren und wirksamen Schutz in Deutschland.

4. Die umfassende Diskriminierung der Roma in den Westbalkanländern erfor-
dert eine sehr sorgfältige Prüfung ihrer Lebensbedingungen und Ausgren-
zungserfahrungen, um einen Schutzbedarf im Einzelfall feststellen zu können.
Denn eine Flüchtlingsanerkennung erfolgt nach Art. 9 Abs. 1b der Richtlinie
2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 auch
bei einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die für sich genommen
jeweils keine Anerkennung begründen würden, wenn diese in der Gesamtheit
ähnlich wirken wie eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung. Ange-
sichts des Lebens vieler Roma am Rande der Gesellschaft, angesichts ihres
systematischen Ausschlusses aus dem Arbeitsmarkt, dem Bildungs- und
Gesundheitssystem und angesichts vieler Übergriffe auf Roma in den genann-
ten Westbalkanländern, die staatlicherseits nicht wirksam verhindert oder ver-
folgt werden, ist die nahezu 100-prozentige Ablehnungsquote im Asylverfah-
ren kein Beleg für Sicherheit, sondern ein Indiz für unzureichende Prüfungen
und pauschale Ablehnungen aufgrund politischer Vorgaben.

5. Eine Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Asylverfahren kommt zudem
in Betracht, weil Roma aufgrund gezielter Reisebeschränkungen und aufgrund
von Straftatbeständen in ihren Herkunftsländern, mit denen die erfolglose
Asylsuche im Ausland unter Strafe gestellt wird, in ihren elementarischen
Rechten auf Freizügigkeit beschnitten und kriminalisiert werden, nur weil sie
von ihrem Menschenrecht auf freie Ausreise Gebrauch machen, urteilte das
Verwaltungsgericht Stuttgart am 25. März 2014 (A 11 K 5036/13) in Bezug
auf asylsuchende Roma aus Serbien. Auch der Menschenrechtskommissar des
Europarates Nils Mui nieks kritisierte in seinem Bericht „The right to leave a
country“ vom Oktober 2013, dass Serbien und Mazedonien Maßnahmen er-
griffen haben, um eigene Staatsangehörige von einer Ausreise zum Zweck der
Asylsuche abzuhalten oder sie nach einer Rückkehr Restriktionen zu unterwer-
fen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Gesetzentwurf zur Einstufung weiterer Länder als sichere Herkunftsstaaten
zurückzuziehen und nicht weiter zu verfolgen,

2. durch Anweisungen, Schulungen und weitere Vorkehrungen des Bundesamtes
für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sicherzustellen, dass Asylgesuche ins-
besondere von Roma gründlich und gewissenhaft insbesondere auf das Vorlie-
gen einer kumulativen Verfolgung geprüft werden und dafür die personellen
Voraussetzungen zu schaffen,

3. auf die Bundesländer einzuwirken, dass bei Roma, die in der Vergangenheit
keinen Schutz in Deutschland erhalten haben, großzügig von den Möglichkei-
ten des Aufenthaltsrechts für ein humanitäres Aufenthaltsrecht Gebrauch ge-
macht wird, unabhängig von Einkommensanforderungen, die bei der Gruppe
der häufig bildungsbenachteiligten und diskriminierten Roma ausschließend
wirken.

Berlin, den 3. Juni 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/1616

Begründung

Die Bundesregierung bestätigte auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion, dass bei Roma-
Flüchtlingen aus den WestbalkanLändern eine genaue Sachverhaltsaufklärung und Prüfung erfolgen müsse
(Bundestagsdrucksache 17/11628, zu Frage 35): „Eine Flüchtlingsanerkennung von Asylbewerbern aus Ser-
bien und Mazedonien ist nicht ausgeschlossen. Das BAMF prüft im Asylverfahren die Schutzgewährung in
einer Gesamtschau aller drohenden relevanten Maßnahmen. Dabei wird selbstverständlich berücksichtigt,
dass die erforderliche Verfolgungsintensität nach Artikel 9 Absatz 1b der Qualifikationsrichtlinie (QualfRL)
auch dann erreicht werden kann, wenn mehrere unterschiedliche Maßnahmen einschließlich einer Verletzung
der Menschenrechte so gravierend sind, dass sie in ihrer Gesamtwirkung einer schwerwiegenden Verletzung
der grundlegenden Menschenrechte vergleichbar sind. Der pauschale Verweis auf Diskriminierungen ist da-
für allerdings nicht ausreichend. Im Asylverfahren sind alle Übergriffe, Repressalien, Diskriminierungen,
Nachteile und Beeinträchtigungen festzustellen, denen ein Antragsteller ausgesetzt war. Dazu muss im Ein-
zelfall dargelegt werden, mit welchen Maßnahmen der Asylsuchende konkret konfrontiert war. In der Ge-
samtbetrachtung ist dann festzustellen, ob wegen der Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen von einer
begründeten Furcht vor Verfolgung auszugehen ist“.

Diese Arbeit sorgfältiger Einzelfallprüfungen soll sich das BAMF nach Ansicht der Bundesregierung bei
Asylsuchenden aus Serbien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina künftig nicht mehr machen. Die
Beweislast soll voll und ganz den Schutzsuchenden aufgebürdet werden, was gerade Roma-Flüchtlinge ten-
denziell überfordert. Denn die Alltäglichkeit der erlittenen Diskriminierung verleitet Betroffene von struktu-
rell angelegten Menschenrechtsverletzungen dazu, über diese als „normal“ empfundene Ausgrenzung zu
schweigen.

Asylprüfungen verlaufen bei Flüchtlingen aus Westbalkanländern jetzt schon sehr oberflächlich und schema-
tisch, wie zum Beispiel der Rechtsanwalt Reinhard Marx kritisierte (taz. die tageszeitung vom 3. Juli 2013:
„Diskriminiert genug?“). Die Asylverfahrensdauer betrug im Jahr 2013 bei diesen Ländern infolge einer
„Priorisierung“ im BAMF (der politischen Vorgabe, zu schnellen Ablehnungen zu kommen) nur etwa zwei
Monate, im Vergleich zu durchschnittlich sieben Monaten bei allen Herkunftsstaaten (Bundestagsdrucksache
18/705, zu Frage 4). Ein Indiz für unzureichende Befragungen ist auch, dass das BAMF bei Asylsuchenden
aus Serbien und Mazedonien „etwa drei Anhörungen am Arbeitstag“ schafft, während es im Durchschnitt
sonst eher zwei sind (Bundestagsdrucksache 17/14553, zu Frage 15i). Es gibt bei Asylsuchenden aus den
Westbalkanländern auch viele Fälle, in denen die anhörende Person nicht identisch ist mit der entscheidenden
Person (40 Prozent), obwohl das BAMF diesbezüglich eigentlich eine Personenidentität anstrebt (Bundes-
tagsdrucksache 18/705, zu Frage 16). Auffällig ist schließlich, dass die Zahl der Anerkennungen eines
Schutzstatus durch die Gerichte bei Flüchtlingen aus Serbien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina im
Jahr 2013 mit 84 (Bundestagsdrucksache 18/1394, zu Frage 11) über der Zahl der entsprechenden Anerken-
nungen durch das BAMF lag (61), während im Allgemeinen Anerkennungen durch die Gerichte nur etwa ein
Fünftel der behördlichen Anerkennungen ausmachen (Bundestagsdrucksache 18/1033, zu Frage 21). Die
bisherige ungenügende Asylpraxis und hieraus resultierende niedrige Anerkennungsquoten – die in anderen
europäischen Ländern z. T. deutlich höher sind (etwa in der Schweiz und in Belgien mit zeitweilig mehr als
10 Prozent) – sollen der Bundesregierung nunmehr für die gesetzliche Unterstellung einer generellen Verfol-
gungssicherheit dienen.

In der Gesetzesbegründung wird behauptet, eine Asylantragstellung in Deutschland habe in den drei West-
balkanländern „keine staatlichen Repressionen zur Folge“ – jegliche Begründung hierzu fehlt. Das ist bemer-
kenswert, denn Serbien und Mazedonien haben Strafbestimmungen in Bezug auf vermeintlich missbräuchli-
che Asylanträge im Ausland und Kontrollen zur Verhinderung der Ausreise insbesondere von schutzsuchen-
den Roma auf Druck der EU und der Bundesrepublik Deutschland eingeführt, weil ihnen angesichts der stei-
genden Zahl von Asylsuchenden aus ihren Ländern mit der Rücknahme der 2009/2010 gewährten Visumfrei-
heit gedroht wurde (vgl. Bundestagsdrucksache 17/8984). Jenseits dieser rechtsförmigen Sanktionen gegen
Roma werden diese in der Praxis bei Grenzkontrollen an der Ausreise gehindert, weil ihnen pauschal eine
„missbräuchliche“ Asylantragstellung in der EU als Motiv für die Ausreise unterstellt wird (Chachipe:
„Selective freedom. The visa liberalisation and restrictions on the right to travel in the Balkans”, 2012). Die
auf Druck der EU erlassenen Beschränkungen der Reisefreiheit führen also in der Praxis zu weiteren Diskri-
minierungen. Während alle anderen Maßnahmen der EU zur Verbesserung der Lage der Roma in den West-
balkanstaaten keinen erkennbaren Effekt haben, sind solche Diskriminierungen auch für jene Roma spürbar,
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die tatsächlich nur zu Kurzaufenthalten in die EU reisen wollen. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat mit
dem oben bezeichneten Urteil die Konsequenz gezogen, dass die von solchen Strafverfolgungsmaßnahmen
und Menschenrechtsverletzungen betroffenen Roma deshalb als Flüchtlinge anzuerkennen sind.

Die Bundesregierung musste bereits einräumen, dass die reale Beschleunigungswirkung der angestrebten
Gesetzesänderung angesichts der bereits praktizierten Schnellverfahren gering sein dürfte – Asylanträge von
Flüchtlingen aus den drei Westbalkanländern werden jetzt schon zu über 90 Prozent als „offensichtlich unbe-
gründet“ abgelehnt (Bundestagsdrucksache 18/1394, zu Frage 9), so dass sich hieraus keine Verfahrensbe-
schleunigung ergibt. Die Bundesregierung rechnet lediglich mit einer „Verkürzung der Bearbeitungsdauer um
jeweils ca. 10 Minuten“ (ebd., zu Frage 19). Allerdings setzt sie auf eine abschreckende Wirkung der Geset-
zesverschärfung: „Durch die Einstufung der Westbalkanstaaten Serbien, Mazedonien und Bosnien-
Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten ist mit einem Rückgang der Zugangszahlen zu rechnen, der zu
nicht unerheblichen Entlastungen führen dürfte. … Der Gesetzentwurf ist daher auch als klares Signal an
diejenigen gedacht, die offensichtlich unbegründete Asylanträge stellen. … Der angestrebte Entlastungseffekt
entsteht daher ganz überwiegend durch eine Verringerung der Zahl der gestellten Anträge.“ In anderen Wor-
ten: Den schutzsuchenden Roma soll mit aller Klarheit signalisiert werden, dass sie in Deutschland uner-
wünscht sind. Heribert Prantl kommentierte in der „Süddeutsche Zeitung“ vom 24. Oktober 2012 die unter
anderem von den Kirchen scharf kritisierten Pläne des damaligen Bundesinnenministers Dr. Hans-Peter
Friedrich zur Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsländer um Serbien und Mazedonien: „Die toten Sinti
und Roma haben nun ihr Denkmal. Die lebenden werden auch in Deutschland kaserniert und abgeschoben.
Während die Bundeskanzlerin der bis zu 500 000 Ermordeten gedenkt, überlegt der Bundesinnenminister,
wie man sich die Enkel und Urenkel vom Leib hält“. Was mit der FDP in der Bundesregierung nicht durch-
setzbar war, soll nun mit Hilfe der SPD erfolgen.

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