BT-Drucksache 18/1561

Befugnisse und Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes im Ausland

Vom 27. Mai 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1561
18. Wahlperiode 27.05.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Annette Groth, Andrej Hunko,
Inge Höger und der Fraktion DIE LINKE.

Befugnisse und Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes im Ausland

Mit den Stimmen der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtig-
keit und Fortschritt (AKP) beschloss das türkische Parlament im April 2014 ein
Gesetz, das den Nationalen Nachrichtendienst (MIT) mit neuen Befugnissen
versieht. Laut Medienberichten ermöglicht das Gesetz weitergehende Abhör-
maßnahmen ohne Gerichtsbeschluss sowie den Zugang des Geheimdienstes zu
Daten von Banken, staatlichen Institutionen, Privatunternehmen und Gewerk-
schaften. Zudem bekommt der Geheimdienst mehr Rechte bei Auslandsein-
sätzen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Geheimdienstes sollen auch im
Falle schwerer, im Staatsauftrag begangener Straftaten Immunität gegenüber
Strafverfolgung besitzen. Dagegen drohen Journalistinnen und Journalisten
oder sonstigen Informantinnen und Informanten, die als geheim klassifizierte
Dokumente des MIT veröffentlichen, nun Haftstrafen bis zu zehn Jahren. Die
Veröffentlichung von Dokumenten über MIT-Mitglieder wird mit bis zu zwölf
Jahren Haft bedroht. Während die Regierung das Gesetz mit der Anpassung an
die Regelung anderer Staaten rechtfertigte, sieht die Opposition, die das Gesetz
vor dem Verfassungsgerichtshof anfechten will, dahinter vor allem einen wei-
teren Machtzuwachs für den Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Be-
obachterinnen und Beobachter sehen in den neuen Befugnissen für den Ge-
heimdienst zudem den Versuch der türkischen Regierung, Waffengleichheit mit
der Gülen-Bewegung herzustellen, die die Regierung beschuldigt, tausende
Telefonate und Gespräche von hochrangigen AKP-Politikern aber auch Ge-
heimdienstvertretern und Militärs abgehört und belastende Aufnahmen im
Internet veröffentlicht zu haben (www.handelsblatt.com/politik/international/
machtkampf-mehr-befugnisse-fuer-den-tuerkischen-geheimdienst/9781628.html;
www.zeit.de/politik/ausland/2014-04/tuerkei-geheimdienst-mit; www.hurriyet-
dailynews.com/turkish-parliament-approves-controversial-intel-bill.aspx?page
ID=238&nID=65214&NewsCatID=338).
Die Regierung begründete die Ausweitung der Rechte des Geheimdienstes im
Umgang mit als terroristisch eingestuften Organisationen mit den seit mehreren
Jahren zwischen dem MIT und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zuerst in
Oslo und ab dem Jahr 2012 mit ihrem inhaftierten Vorsitzenden Abdullah Öca-
lan auf der Gefängnisinsel Imrali geführten Gesprächen über ein Ende des jahr-
zehntelangen gewalttätigen Konfliktes. Solche Verhandlungen waren in der Ver-
gangenheit von mutmaßlichen Gegnerinnen und Gegnern eines Friedensprozes-
ses innerhalb des Staatsapparates durch die Veröffentlichung geheimer Ge-
sprächsmitschnitte im Internet oder einen mit dem Verdacht des Landesverrats
begründeten Haftbefehl eines türkischen Staatsanwaltes gegen Geheimdienst-
chef Hakan Fidan sabotiert worden. Der hochrangige Funktionär der Arbeiter-

Drucksache 18/1561 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
partei Kurdistans (PKK), Duran Kalkan, erklärte zu dem neuen Geheimdienst-
gesetz allerdings, dieses gäbe dem MIT das Recht, „in der Türkei und überall auf
der Welt schmutzige Operationen durchzuführen“ und „politische Gegner über-
all zu liquidieren“. Es stelle sich also die Frage, ob das Gesetz für den Friedens-
prozess oder für den Kampf gegen die PKK erlassen wurde, so Duran Kalkan im
Interview mit der Nachrichtenagentur Firat News (8. Mai 2014). Im Januar 2014
waren im Internet ein Gesprächsmitschnitt von mutmaßlichen MIT-Agenten so-
wie ein Dokument des Geheimdienstes veröffentlicht worden, die nahelegen, dass
der MIT die Ermordung der drei kurdischen Politikerinnen Sakine Cansiz, Fidan
Dogan und Leyla Saylemez am 9. Januar 2013 in den Räumen des Kurdistan-
Informationsbüros in Paris angeordnet hatte. Der deutsche Verfassungsschutz
hat aufgrund dieses Verdachts laut „DER SPIEGEL“ seine Zusammenarbeit mit
dem MIT eingeschränkt (www.spiegel.de/spiegel/print/d-124956822.html).
Nach Meinung von Kritikerinnen und Kritikern gibt das neue Geheimdienst-
gesetz dem MIT zudem freie Hand bei der logistischen Unterstützung von Auf-
ständischen in Syrien. So werden Militärpolizisten, die im Januar 2014 ver-
deckte Transporte des Geheimdienstes für syrische Rebellengruppen gestoppt
hatten, nun wegen Geheimnisverrats angeklagt (www.hurriyetdailynews.com/
lawsuit-opened-on-spying-charges-on-soldiers-who-searched-syria-bound-
intel-trucks.aspx?pageID=238&nID=66533&NewsCatID=338).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die im April 2014 vom türki-

schen Parlament beschlossenen Gesetzesänderungen, die dem Nationalen
Nachrichtendienst (MIT) mehr Befugnisse geben?
a) Auf welche Weise und über welche Informationskanäle hat die Bundes-

regierung Kenntnis über die Gesetzesänderungen erlangt?
b) Falls die Bundesregierung keine über die Medienberichterstattung hinaus-

gehenden Kenntnisse über diese Gesetzesänderungen hat, inwieweit be-
müht sie sich um entsprechende Informationen durch Kontakte zur türki-
schen Regierung?

c) Welche Absichten verfolgt die türkische Regierung nach Kenntnis der
Bundesregierung mit den Gesetzesänderungen?

d) Welche neuen Befugnisse im Einzelnen hat der türkische Geheimdienst
nach Kenntnis der Bundesregierung mit den jüngsten Gesetzesänderungen
erhalten?

2. Inwieweit kommt es nach Einschätzung der Bundesregierung in der Türkei
zur Einschränkung demokratischer Rechte und Freiheiten, wie der Pressefrei-
heit, durch die Gesetzesänderungen für den Geheimdienst?

3. Inwiefern sind der Bundesregierung Klagen von Oppositionsparteien oder
zivilgesellschaftlichen Institutionen in der Türkei über eine Einschränkung
demokratischer Rechte und Freiheiten durch das neue Geheimdienstgesetz
bekannt geworden?

4. Hat der türkische Geheimdienst nach Kenntnis der Bundesregierung durch
die jüngsten Gesetzesänderungen Befugnisse zur Tötung von politischen
Gegnern oder Terrorverdächtigen im In- und Ausland erhalten, und wenn ja,
in welchen Fällen, und in welcher Form?
a) Inwieweit verfügte der MIT nach Kenntnis der Bundesregierung bereits

vor den Gesetzesänderungen vom April 2014 über Befugnisse zur Tötung
von politischen Gegnern oder Terrorverdächtigen im In- und Ausland?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/1561
b) Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über gezielte Tötungen von po-
litischen Gegnern oder Terrorverdächtigen durch den MIT im In- und
Ausland seit dem Jahr 1990?

5. Bewegen sich die neuen Befugnisse des MIT für Auslandseinsätze nach
Kenntnis der Bundesregierung im Rahmen des internationalen Rechts, und
wenn nein, gegen welche völkerrechtlichen Regelungen verstoßen sie?

6. Bewegen sich die neuen Befugnisse des MIT nach Kenntnis der Bundes-
regierung im Rahmen der Kriterien für einen EU-Beitritt der Türkei, und
wenn nein, wo sieht die Bundesregierung mögliche Diskrepanzen zu den
EU-Vorgaben?

7. Inwieweit sind die Gesetzesänderungen vom April 2014, die dem türki-
schen Geheimdienst mehr Befugnisse geben, für deutsche Sicherheitsbehör-
den ein Grund, ihre weitere Zusammenarbeit mit dem MIT zu überdenken
und gegebenenfalls einzuschränken?

8. Inwieweit sind der Bundesregierung Abhör- und sonstige Überwachungs-
maßnahmen des türkischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik
Deutschland seit dem Jahr 1990 zur Kenntnis gelangt?

9. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Beobachtung, Verfol-
gung und Infiltrierung türkischer und kurdischer Oppositionsgruppierungen
in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr 1990 durch den MIT?
Wenn sie keine eigenen derartigen Erkenntnisse haben sollte, inwieweit sind
der Bundesregierung Klagen und Beschwerden solcher Gruppierungen über
eine Beobachtung, Verfolgung oder Infiltrierung durch den MIT bekannt
geworden?

10. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Beobachtung, Verfol-
gung und Infiltrierung türkischer und kurdischer Gemeinden und religiöser
Gruppierungen in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr 1990
durch den MIT?
Wenn sie keine eigenen derartigen Erkenntnisse haben sollte, inwieweit sind
der Bundesregierung Klagen und Beschwerden solcher Gemeinden und re-
ligiösen Gruppierungen über eine Beobachtung, Verfolgung oder Infiltrie-
rung durch den MIT bekannt geworden?

11. In welchem Umfang dienten seit dem Jahr 2002 Erkenntnisse des MIT nach
Kenntnis der Bundesregierung als Tatsachen oder Hinweise zur Begründung
von asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen gegen türkische Staats-
angehörige in der Bundesrepublik Deutschland (Widerruf/Rücknahme von
Asyl- oder Flüchtlingsanerkennungen, Ausweisungen, Überwachung aus-
gewiesener Ausländer etc.)?

12. Zu welchen Gelegenheiten hat das MIT in den vergangenen Jahren seit dem
Jahr 2002 die Bundesregierung ersucht, im Hinblick auf den asyl- oder den
aufenthaltsrechtlichen Status von türkischen Staatsangehörigen aktiv zu
werden, und um welche konkreten Personen oder Organisationszusammen-
hänge ging es dabei jeweils?

13. Über welche Stützpunkte und Operationsbasen genau verfügt der MIT nach
Kenntnis der Bundesregierung in der Bundesrepublik Deutschland?

14. In wie vielen und welchen Fällen wurde nach Kenntnis der Bundesregie-
rung von deutschen Behörden gegen mutmaßliche Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes aufgrund ihrer Aktivitäten in der
Bundesregierung ermittelt, und wie gingen die Verfahren aus?

Drucksache 18/1561 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
15. Wurden seit dem Jahr 1990 Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes we-
gen ihrer Agententätigkeit oder sonstiger Straftaten aus der Bundesrepublik
Deutschland ausgewiesen, und wenn ja, wann, in welchen Fällen, und auf
welcher rechtlichen Grundlage?

Berlin, den 27. Mai 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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