BT-Drucksache 18/1544

Position der Bundesregierung zur möglichen Gefahr einer emissionshandelsbedingten Produktionsverlagerung in Nicht-EU-Staaten

Vom 21. Mai 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1544
18. Wahlperiode 21.05.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl,
Oliver Krischer, Christian Kühn (Tübingen), Steffi Lemke, Peter Meiwald,
Dr. Julia Verlinden und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Position der Bundesregierung zur möglichen Gefahr einer
emissionshandelsbedingten Produktionsverlagerung in Nicht-EU-Staaten

Unter „Carbon Leakage“ versteht die europäische Klimagesetzgebung die Ge-
fahr einer emissionshandelbedingten vermeintlichen Verlagerung von CO2-in-
tensiven Produktionsprozessen in Drittstaaten der Europäischen Union (EU).
Diese Annahme unterstellt, dass die mögliche Belastung von Unternehmen
durch den Emissionszertifikatehandel andere Standortvorteile in den europä-
ischen Industriestaaten überlagert.
Die Europäische Kommission legt im Rahmen des Emissionshandelssystems
nicht nur die Menge der Zertifikate für die jeweilige Handelsperiode des Emis-
sionshandels fest, sondern macht auch Vorschläge, für welche Branchen und
Industrieprozesse „Carbon Leakage“ angenommen werden kann, und veröffent-
licht diese auf einer Liste. Unternehmen, deren Branchen sich auf dieser Liste
finden, werden von der Verpflichtung zur Ersteigerung der von ihnen benötigten
Emissionszertifikate ausgenommen und bekommen Emissionszertifikate, die
auf Basis von Bezugswerten kostenfrei zugeteilt werden. Ausgaben für Emis-
sionszertifikate entstehen den Unternehmen dann nur noch, wenn sie mehr Zer-
tifikate benötigen, als ihnen zugeteilt wurde. In diesem Jahr steht die Überprü-
fung der bisherigen „Carbon Leakage“-Liste an, nach der bisher die Industrie
ihre Zertifikate weitgehend unter der Annahme eines CO2-Preises von 30 Euro
pro Tonne CO2 kostenfrei zugeteilt bekommt (Beschluss der Europäischen
Kommission vom 24. Dezember 2009).
Die Europäische Kommission hat nun im Mai 2014 einen Vorschlag für die wei-
tere Fortschreibung der „Carbon Leakage“-Liste für den Zeitraum von 2015 bis
2019 vorgelegt.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viel Prozent der dem Emissionshandel unterliegenden Anlagen in Deutsch-

land bekommen derzeit in welchem Umfang aufgrund der existierenden „Car-
bon Leakage“-Liste von 2009 Emissionszertifikate kostenlos zugeteilt (bitte
nach Anlagengröße aufschlüsseln)?

2. Welche Position vertritt die Bundesregierung hinsichtlich der Revision der
europäischen „Carbon Leakage“-Liste in Brüssel, und sieht sie Handlungsbe-
darf, die Liste an die aktuelle Preisentwicklung für CO2-Emissionszertifikate
bis zum Jahr 2020 anzupassen, und falls nein, warum nicht?

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3. Hält die Bundesregierung die Einschätzung der Europäischen Kommission
für angemessen, die für die „Carbon Leakage“-Liste weiterhin bis zum Jahr
2019 einen Zertifikatepreis von 30 Euro zugrunde legt?

4. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass angesichts des aktuell deut-
lich geringeren CO2-Preises die „Carbon Leakage“-Gefahr weitaus geringer
ist, als ursprünglich erwartet wurde, und wenn nicht, warum nicht?

5. Setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass nur diejenigen Unternehmen
und Branchen eine kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten bekom-
men sollten, bei denen tatsächlich emissionshandelsbedingt die Gefahr ei-
ner Produktionsverlagerung ins außereuropäische Ausland droht, und was
tut die Bundesregierung dafür?

6. Welche eigenen Vorschläge zur Revision der „Carbon Leakage“-Liste
macht die Bundesregierung in diesem Zusammenhang auf europäischer
Ebene, und setzt sie sich diesbezüglich auch für eine entsprechende Ände-
rung der Emissionshandelsrichtlinie ein?

7. Welche Standortvorteile sieht die Bundesregierung insgesamt für die In-
dustrie in Europa und in Deutschland, und welche Relevanz bemisst sie in
diesem Kontext dem aktuellen CO2-Preis als einem Aspekt bei der Stand-
ortentscheidung durch die Unternehmen bei?

8. Welche Wettbewerbsvorteile sieht die Bundesregierung für die europäische
Industrie durch Anstrengungen zum Klimaschutz, insbesondere durch Effi-
zienzsteigung, vermiedene Energiekosten und Vorteile durch neue Verfah-
ren und Technologien, und inwieweit gehen diese Aspekte in die Positionie-
rung der Bundesregierung zur vermeintlichen Gefahr eines „Carbon
Leakage“ mit ein bzw. finden sich dort wo wieder?

9. Welche Option ist nach Einschätzung der Bundesregierung am ehesten ge-
eignet, den Interessen der deutschen Wirtschaft zu entsprechen, die Anpas-
sung der „Carbon Leakage“-Liste an den tatsächlichen CO2-Preis oder eine
weitgehende Befreiung der Industrie – wie bisher im Rahmen der „Carbon
Leakage“-Liste – verbunden mit einer strukturellen Reform des Emissions-
handels mit der Folge einer Rückführung des CO2-Preises auf das ursprüng-
lich von der Bundesregierung (z. B. in den Kalkulationen für den Bundes-
haushalt) anvisierte Preisniveau?

10. Sind der Bundesregierung Unternehmen bekannt, die aufgrund der durch
den Emissionshandel entstandenen Kosten ihren Standort aus Deutschland
in ein Land außerhalb der EU verlagert haben?

11. Welche Position zur Reform des europäischen Emissionshandels vertritt die
Bundesregierung auf europäischer Ebene, insbesondere hinsichtlich der
derzeit zwei Milliarden überschüssigen Emissionszertifikate (Mitteilung
der Europäischen Kommission vom 16. Mai 2013) und zu der von der Eu-
ropäischen Kommission in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Ein-
führung einer Marktstabilitätsreserve, und wird sich die Bundesregierung
dafür einsetzen, dass eine solche Stabilitätsreserve noch deutlich vor dem
Jahr 2020 kommt?

12. Welche Berechnungen hinsichtlich der Ausgestaltung der Marktstabilitäts-
reserve gerade in Bezug auf die gesetzten Schwellenwerte liegen der Bun-
desregierung vor, und welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

13. Sieht die Bundesregierung den Standort Deutschland durch die Energie-
wende und durch den Ausbau der erneuerbaren Energien insgesamt gestärkt,
und ist auch angesichts der daraus resultierenden sinkenden Börsenstrom-
preise nach Auffassung der Bundesregierung von einer insgesamt sinkenden

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Gefahr von Produktionsverlagerungen ins außereuropäische Ausland auszu-
gehen?

14. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass jetzt die „Carbon
Leakage“-Liste mit den weitreichenden Ausnahmen für die Industrie bis
zum Jahr 2020 fortgeschrieben werden soll und die Europäische Kommis-
sion schon jetzt eine Konsultation zum „Carbon Leakage“ für die Zeit nach
dem Jahr 2020 durchführt, obwohl im kommenden Jahr in Paris ein Kyoto-
Folgeabkommen zum internationalen Klimaschutz vereinbart werden soll,
und besteht aus Sicht der Bundesregierung so die Gefahr, dass international
der Eindruck entstehen könnte, dass die EU nicht von einem erfolgreichen
Abschluss in Paris ausgeht?

15. War die bisher zur Vermeidung eines vermeintlichen „Carbon Leakage“ er-
folgte kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten an die Industrie seit
dem Jahr 2013 angesichts des rapiden Preisverfalls für Emissionszertifikate
nach Ansicht der Bundesregierung gerechtfertigt, und wenn ja, liegen der
Bundesregierung dazu Abschätzungen oder Studien vor (bitte auflisten)?

16. Wie bewertet die Bundesregierung die Gefahr eines „Carbon Leakage“ an-
gesichts der Tatsache, dass sich u. a. durch eine Überausstattung der Unter-
nehmen mit Emissionszertifikaten derzeit ein Überschuss von über zwei
Milliarden Zertifikaten im System befindet und dass eine Studie des Öko-
Institutes im Auftrag der Umweltverbandes WWF zu dem Ergebnis gekom-
men ist, dass neun untersuchte Unternehmen aus den Branchen Eisen und
Stahl, Raffinerien, Chemische Industrie sowie Zement seit dem Jahr 2005
Freizertifikate im Wert von 8 Mrd. Euro erhalten haben, und dass diese
Unternehmen bis Ende des Jahres 2012 ungenutzte Zertifikate im Wert von
über 1 Mrd. Euro besaßen, mit denen sie frei handeln können (www.wwf.de/
2014/maerz/kasse-machen-mit-dem-emissionshandel/)?

17. In welcher Höhe sind dem Bundeshaushalt durch die kostenlose Zuteilung
von Emissionszertifikaten bisher Einnahmen entgangen, und teilt die Bun-
desregierung die Auffassung des Umweltbundesamtes, das kostenlose Zutei-
lungen von Emissionszertifikaten als umweltschädliche Subvention ausweist
(www.umweltbundesamt.de/themen/umweltschaedliche-subventionen-
klettern-auf-ueber), und ist die Bundesregierung bestrebt, diese Subven-
tionen abzubauen?

18. Wie würde sich nach Ansicht der Bundesregierung die Zusammenstellung
der „Carbon Leakage“-Liste ändern, wenn statt der ursprünglich kalkulier-
ten 30 Euro der aktuelle CO2-Preis von derzeit unter 5 Euro als Bezugs-
größe herangezogen würde?
a) Wie viel Prozent der Industrieanlagen würden dann aus der kostenlosen

Zuteilung von Emissionszertifikaten herausfallen?
b) Welche Auswirkungen hätte diese Anpassung auf den Energie- und

Klimafonds?
19. Bei welchen Branchen besteht nach Erkenntnis der Bundesregierung ange-

sichts des aktuellen CO2-Preises keine „Carbon Leakage“-Gefahr mehr?
20. Bei welchen Branchen besteht nach Ansicht der Bundesregierung auch

beim derzeitig geringen CO2-Preis von unter 5 Euro noch weiterhin das ver-
meintliche Risiko des „Carbon Leakage“, und wie begründet die Bundes-
regierung dies für die jeweiligen Branchen?

Berlin, den 21. Mai 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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