BT-Drucksache 18/13324

Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs

Vom 9. August 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/13324
18. Wahlperiode 09.08.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Frank Tempel, Wolfgang Gehrcke,
Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Katrin Kunert,
Niema Movassat, Petra Pau, Kersten Steinke, Birgit Wöllert und der Fraktion
DIE LINKE.

Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug nach einem Urteil des
Europäischen Gerichtshofs

Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 9. Juli 2015 in der
Rechtssache „K und A“ (C-153/14) steht fest, dass die im Jahr 2007 ins Aufent-
haltsrecht eingeführte Regelung, die den Nachweis bestimmter Deutschkennt-
nisse bereits im Ausland als Bedingung des Ehegattennachzugs vorsieht, gegen
EU-Recht verstoßen hat, da sie keine Härtefallregelung im Einzelfall vorsah –
eine solche Härtefallregelung wurde erst Mitte des Jahres 2015 in § 30 Absatz 1
Satz 3 Nummer 6 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) verankert. Der EuGH for-
derte in seinem Urteil eine Berücksichtigung der „besonderen individuellen Um-
stände, wie Alter, Bildungsniveau [in der englischen Fassung zusätzlich: „illi-
teracy“], finanzielle Lage oder Gesundheitszustand“ sowie der Kosten des
Spracherwerbs bzw. einer Prüfung (inklusive Reisekosten). Kosten in Höhe von
460 Euro wurden vom EuGH als zu hoch angesehen (Rn. 64 ff.). Die Bundesre-
gierung erklärte auf Anfrage, dass die durchschnittlichen Kosten für einen
Sprachkurs und die Prüfungsgebühren bei den fünf wichtigsten Herkunftsländern
beim Ehegattennachzug bei 492 Euro liegen – und damit über der vom EuGH für
unzulässig erachteten Summe (Bundestagsdrucksache 18/10596, Antwort zu
Frage 14, S. 17). Sie rechtfertigte dies damit, dass der Besuch von Sprachkursen
ja nicht zwingend sei und die Sprachkenntnisse auch anders erworben und nach-
gewiesen werden könnten. Die niederländische Härtefallregelung wurde vom
EuGH als unzureichend verworfen (Rn. 61 ff.); das ist bemerkenswert, weil sie
der deutschen Härtefallregelung sehr ähnelt (Rn. 23 bis 27). Dem EuGH zufolge
muss eine Härtefallregelung „unter Berücksichtigung der besonderen individuel-
len Umstände“ der „jeweiligen Situation“ der Betroffenen gewährleisten, dass „in
allen Fällen“ eine Befreiung von Integrationsnachweisen erfolgt, „in denen die
Beibehaltung dieses Erfordernisses die Familienzusammenführung unmöglich
machen oder übermäßig erschweren würde“ (Rn. 63). Der deutsche Sprachtest ist
strenger als die vom EuGH verworfene niederländische Regelung, weil das
Sprachniveau A1 nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich nachgewiesen wer-
den muss, was für viele Betroffene eine hohe Hürde darstellt.
Grundsätzlich können nach Ansicht des EuGH „Integrationsmaßnahmen“ im
Ausland „nur dann als legitim gelten, wenn sie die Integration der Familienange-
hörigen des Zusammenführenden erleichtern“ (Rn. 52). Dem Forschungsbe-
richt 22 – BAMF-Heiratsmigrationsstudie 2013 – des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge (BAMF) ist jedoch zu entnehmen, dass bei B1-Sprachprüfungen
im Inland, die alle nachgezogenen Familienangehörigen ablegen müssen, „kein

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signifikanter Unterschied“ feststellbar ist zwischen Ehegatten, die bereits im Aus-
land einfache Deutschkenntnisse nachweisen mussten, und solchen, bei denen
dies nicht der Fall war („BAMF-Heiratsmigrationsstudie 2013“, S. 166). Etwa ein
Drittel der Betroffenen, die den Sprachtest letztlich bestanden haben und einrei-
sen konnten, empfand den Spracherwerb im Ausland als „starke oder sehr starke
Belastung“, weitere 25 Prozent als teilweise belastend (ebd., S. 157). Besonders
belastet waren bildungsbenachteiligte Personen und solche, denen kein Sprach-
kurs zur Verfügung stand (S. 159). Vor dem Hintergrund dieser Zahlen stehen die
Verhältnismäßigkeit, Erforderlichkeit und Geeignetheit der deutschen Regelung
aus Sicht der Fragesteller grundsätzlich in Frage.
Mehr als 12 000 Ehegatten im Jahr wird der Nachzug zu ihren Ehegatten in
Deutschland (zunächst) verweigert, weil sie den Deutschtest im Ausland nicht
bestehen. Etwa ein Drittel der Prüfungsteilnehmenden schafft den Test nicht, im
Jahr 2014 waren dies 12 377 von 38 664 Personen (Bundestagsdrucksache
18/4598, Anlage 4), im Jahr 2015 12 273 von 39 034 Personen (Bundestags-
drucksache 18/9651, Anlage 1). Nur gut 20 Prozent aller Prüfungsteilnehmenden
konnten zuvor einen Sprachkurs der Goethe-Institute besuchen, doch auch von
diesen schafft etwa ein Viertel den Sprachtest nicht (ebd.). Bei einigen Herkunfts-
ländern liegen die Erfolgsquoten beim Sprachtest sogar unter 50 Prozent (Domi-
nikanische Republik, Äthiopien, Senegal; ebd.). Dieser empirische Befund steht
nach Auffassung der Fragesteller im Widerspruch zu der Aussage des EuGH im
Urteil vom 9. Juli 2015, wonach „das Erfordernis der erfolgreichen Ablegung ei-
ner solchen Prüfung für sich allein grundsätzlich nicht das mit der Richtlinie
2003/86 verfolgte Ziel der Familienzusammenführung beeinträchtigt“ (Rn. 55) –
dabei unterstellte der EuGH eine wirksame Härtefallregelung.
Die deutsche Härtefallregelung geht auf ein Urteil des Bundesverwaltungsge-
richts vom 4. September 2012 zurück (BVerwG 10 C 12.12). Sie hat jedoch in
der Praxis kaum Auswirkungen (vgl. Bundestagsdrucksachen 18/937, 17/12780
und 17/4337). Betroffene müssen nachweisen, dass sie über ein Jahr lang alles
Zumutbare unternommen haben, um die geforderten Deutschkenntnisse zu erwer-
ben, die Bundesregierung spricht von kontinuierlichen, intensiven Anstrengun-
gen (Bundestagsdrucksache 18/9651, Antwort zu Frage 24). Wenn ein Sprachtest
nicht bestanden wurde, werden regelmäßig die Ernsthaftigkeit und Intensität der
Spracherwerbsbemühungen in Zweifel gezogen. Die Vorgabe eines mindestens
einjährigen Bemühens findet sich in dem EuGH-Urteil jedoch nicht. Zwar soll
auch nach der deutschen Regelung in eindeutigen Fällen ein Nachzug unab-
hängig von der Einjahresfrist unmittelbar möglich sein, doch solche Fälle gibt
es in der Praxis faktisch nicht. Die Bundesregierung konnte auf konkrete An-
frage nicht einmal einen einzigen entsprechenden Beispielsfall nennen, sie geht
davon aus, „dass sich die Zahl der Fälle in einem überschaubaren Rahmen be-
wegt“ (Bundestagsdrucksache 18/937, Antwort zu Frage 6). Auch die Zahl der
dem Fachreferat 509 im Auswärtigen Amt infolge eines Erlasses vom 4. August
2014 vorgelegten Härtefälle bewegt sich „im niedrigen zweistelligen Bereich“
(Bundestagsdrucksache 18/4598, Antwort zu Frage 22). Die Bunderegierung be-
hauptete zuletzt, zur Anwendung der gesetzlichen Härtefallregelung nach § 30
Absatz 1 Satz 3 Nummer 6 AufenthG könnten nicht einmal fachkundige Bundes-
bedienstete ungefähre Einschätzungen machen (Bundestagsdrucksache 18/9651,
Antwort zu Frage 9). Diese Angaben und Beobachtungen aus der Praxis sprechen
nach Ansicht der Fragestellerinnen und Fragesteller dafür, dass in nur wenigen
Fällen vom Nachweis der geforderten Deutschkenntnisse abgesehen wird, die
geltende Härtefallregelung mithin weitgehend unwirksam ist.

Das kann auch damit erklärt werden, dass deutsche Stellen auf das Grundsatzur-
teil des EuGH vom 9. Juli 2015 und auf die gesetzliche Härtefallregelung nicht,
unzureichend oder fehlerhaft hinweisen. In einem aktuellen „Infoblatt Nr. 40a:
Ehegattennachzug, Ausgabe 06/2017“ (www.tuerkei.diplo.de/contentblob/45116

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/13324

06/Daten/7696066/40aehegattennachzug.pdf) der deutschen Auslandsvertretun-
gen in der Türkei heißt es zu Ausnahmen vom Sprachnachweis: „Härtefallrege-
lung: Wenn Ihr Ehepartner Deutscher, deutscher Doppelstaater oder ein assozia-
tionsberechtigter […] türkischer Staatsangehöriger ist und es Ihnen trotz ernst-
hafter Bemühungen von einem Jahr Dauer nicht gelungen ist, das erforderliche
Sprachzertifikat zu erreichen. Entscheidend ist, dass ernsthafte Lernanstrengun-
gen nachvollziehbar dargelegt werden (z. B. datierte Mitschriften der Kursteil-
nahmen, Prüfungsversuche)“. Das gibt nicht einmal die Vorgaben des
BVerwG-Urteils aus dem Jahr 2012 zutreffend wieder (es fehlt die Möglich-
keit des Nachzugs ohne Sprachnachweis unabhängig von der Einjahresfrist in
eindeutigen Fällen), Hinweise zu Aspekten, die den Spracherwerb bzw. -
nachweis nach der Rechtsprechung des EuGH unzumutbar werden lassen,
fehlen völlig. Auf der Internetseite des BAMF fehlt ebenfalls ein Hinweis auf
das Urteil des EuGH vom 9. Juli 2015 oder auf Härtefallgesichtspunkte, die eine
Unzumutbarkeit begründen können; das gilt auch für den dort verlinkten Folder
zum Thema (www.bamf.de/DE/Migration/EhepartnerFamilie/ehepartnerfamilie-
node.html). Nach Auffassung der Fragestellerinnen und Fragesteller hat die Bun-
desregierung offenkundig kein Interesse daran, dass sich Betroffene auf die Un-
zumutbarkeit der Sprachnachweise im Ausland in zu großer Zahl berufen – hat
sie doch über Jahre hinweg eine allgemeine Härtefallregelung abgelehnt (vgl.
z. B. Bundestagsdrucksache 17/2816, Antwort zu Frage 27), die nach Auffassung
des damaligen Abgeordneten Reinhard Grindel (Fraktion der CDU/CSU) „die
ganze Vorschrift leerlaufen“ lassen würde (Plenarprotokoll 17/43, S. 4372 f.). Die
Bundesregierung hingegen erklärte, Info- und Merkblätter sollten nur „einen ers-
ten, kurzen Überblick“ geben, die Darstellung der grundsätzlichen Regelungen
sei ausreichend (Bundestagsdrucksache 18/9651, Antworten zu den Fragen 38 bis
43).
Die Bundesregierung hat auch keinerlei interne Vorgaben, Hinweise oder Rund-
schreiben zur Anwendung und Umsetzung der gesetzlichen Härtefallregelung
oder zum EuGH-Urteil erlassen (Bundestagsdrucksache 18/9651, Antworten zu
den Fragen 10 und 17 f.). Sie behauptet vielmehr, dass es „keiner Änderung be-
durfte“, weil die gesetzliche Neuregelung nur eine „Klarstellung“ zur „bereits zu-
vor praktizierten Rechtsanwendung der Einzelfalllösung in Härtefällen“ gewesen
sei. Das Urteil des EuGH sei zwar „bei der Einzelfallprüfung im Visumverfahren
zu berücksichtigen“ (ebd., Antwort zu Frage 18) – doch Vorgaben oder Hinweise
hierzu haben die Visastellen nicht erhalten.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Visa zum Ehegattennachzug wurden im Jahr 2016 bzw. im ersten

Halbjahr 2017 erteilt (bitte auch jeweils nach den 20 wichtigsten Herkunfts-
ländern differenzieren und zudem die jeweiligen prozentualen Veränderun-
gen gegenüber dem Vorjahr benennen), und inwieweit sind hierbei Visa zum
Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen enthalten (bitte differenziert
antworten)?

2. Wie hoch war der Anteil „Externer“ bei Sprachprüfungen „Start Deutsch 1“
der Goethe-Institute weltweit im Jahr 2016 bzw. im bisherigen Jahr 2017
(bitte auch nach den 20 wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

3. Wie hoch waren die Bestehensquoten bei Sprachprüfungen „Start Deutsch 1“
der Goethe-Institute weltweit im Jahr 2016 bzw. im bisherigen Jahr 2017
(bitte in absoluten und relativen Zahlen angeben, zudem auch nach externen
und internen Prüfungsteilnehmenden sowie nach den 20 wichtigsten Her-
kunftsländern differenzieren und weiterhin die jeweils 15 Länder mit den
höchsten bzw. niedrigsten Quoten mit einer Teilnehmendenzahl von über
100 angeben)?

Drucksache 18/13324 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
4. Wie viele Visa bzw. Aufenthaltserlaubnisse nach § 16 Absatz 5 AufenthG
(bitte differenzieren) wurden im Jahr 2016 und im ersten Halbjahr 2017 an
visumpflichtige Staatsangehörige erteilt (bitte auch nach den 20 wichtigsten
Herkunftsländern differenzieren)?

5. Wie lautet die Visaerteilungsstatistik im Rahmen des Ehegattennachzugs für
die wichtigsten zehn Herkunftsländer, differenziert nach Nachzug von bzw.
zu Männern bzw. Frauen, für das Jahr 2016 bzw. für das erste Halbjahr 2017?

6. Wie viele Aufenthaltserlaubnisse wurden im Jahr 2016 bzw. im ersten Halb-
jahr 2017 erstmalig im Rahmen des Ehegattennachzugs erteilt (bitte auch
nach den 20 wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

7. Wie ist der genaue Stand der vom Goethe-Institut Anfang 2009 begonnenen
Entwicklung einer Software zur differenzierteren Erfassung von Erfolgsquo-
ten bei Sprachprüfungen, die bis Ende 2016 in ersten Auslandsinstituten zum
Einsatz kommen sollte (vgl. Bundestagsdrucksachen 17/194, Antwort zu
Frage 5, 18/937, Antwort zu Frage 30d, 18/4598, Antwort zu Frage 7 und
18/9651, Antwort zu Frage 8), und was sind die bisherigen daraus resultie-
renden näheren Informationen zu den Ergebnissen der Sprachtests im Aus-
land (bitte so differenziert wie möglich antworten), insbesondere bezogen
auf Russland und weitere maßgebliche Hauptherkunftsländer beim Ehegat-
tennachzug, in denen die neue Software bereits zum Einsatz kommt (welche
sind dies)?

8. Welche konkreten Angaben oder zumindest ungefähre Einschätzungen kön-
nen fachkundige Bundesbedienstete inzwischen zur Anwendung der Härte-
fallregelung des § 30 Absatz 1 Satz 3 Nummer 6 AufenthG und zur Zahl
entsprechend erteilter Visa machen (bitte so differenziert wie möglich dar-
stellen), und wenn selbst fachkundigen Bundesbediensteten dies nach wie
vor nicht möglich sein sollte – oder hat die Bundesregierung versäumt, diese
zu befragen (vgl. Antwort zu Frage 9 auf Bundestagsdrucksache 18/9651) –,
warum werden dann keine statistischen Daten hierzu erhoben (bitte ausfüh-
ren)?

9. Wie will die Bundesregierung die Effektivität und praktische Anwendung
der gesetzlichen Neuregelung zur Härtefallprüfung nach § 30 Absatz 1 Satz 3
Nummer 6 AufenthG beurteilen, wenn keine entsprechende statistische Er-
hebung und auch keinerlei Einschätzungen fachkundiger Bundesbediensteter
hierzu vorliegen, oder hält die Bundesregierung es für unerheblich, wie viele
Personen pro Jahr von der Härtefallregelung Gebrauch machen können und
ob diese in der Praxis die Berücksichtigung individueller Einzelfallumstände
sicherstellt (bitte ausführen)?

10. Sieht es die Bundesregierung als ein Problem an, dass ein knappes Drittel
aller Prüfungsteilnehmenden den Sprachtest beim Ehegattennachzug nicht
besteht – selbst ein Viertel derjenigen, die zuvor einen Goethe-Institut-
Sprachkurs im Ausland besuchen konnten –, insgesamt mehr als 12 000 Per-
sonen im Jahr (vgl. Vorbemerkung der Fragesteller und Bundestagsdrucksa-
che 18/9651, Anlage 1, bitte begründen)?

11. Wie lautet die Antwort auf die nach Auffassung der Fragestellerinnen und
Fragesteller noch unbeantwortet gebliebene Frage, ob die Bundesregierung
der Auffassung zustimmt, dass die deutschen Sprachanforderungen höher
sind als die niederländischen, da auch schriftliche deutsche Sprachkenntnisse
verlangt werden, was für viele Betroffene besonders schwer zu erfüllen ist
(bitte begründen, vgl. Bundestagsdrucksache 18/9651, Antwort zu Frage 30),
und warum werden schriftliche Sprachkenntnisse überhaupt verlangt, wo es
doch darum geht, wie die Bundesregierung selbst schreibt (ebd.), dass die
Betroffenen sich „auf einfache Art verständigen können“ sollen, wozu keine
Schriftkenntnisse erforderlich sind (bitte begründen)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/13324

12. Warum wurden keinerlei Vorgaben zur praktischen Umsetzung der Härte-

fallregelung des § 30 Absatz 1 Satz 3 Nummer 6 AufenthG gemacht, auch
nicht, nachdem der EuGH mit seinem Urteil vom 9. Juli 2015 weitere Vor-
gaben zur Anwendung einer Härtefallprüfung gemacht hat?
Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die auch in der Vorbemerkung
genannten Vorgaben des EuGH bereits vom Urteil des BVerwG vom 4. Sep-
tember 2012 abgedeckt sind, und wo im Urteil des EuGH findet sich ein An-
haltspunkt dafür, dass nach Auffassung des EuGH zunächst ein einjähriges
intensives Bemühen um den Spracherwerb nachgewiesen werden muss, be-
vor von einer Unzumutbarkeit ausgegangen werden kann (bitte darlegen)?

13. Ist die Bundesregierung der Auffassung, die deutschen Visastellen werden
die Vorgaben des EuGH und sein Urteil vom 9. Juli 2015 in der Prüfpraxis
berücksichtigen (vgl. Antwort zu den Fragen 17 und 18 auf Bundestags-
drucksache 18/9651), wenn sie durch die Bundesregierung nicht über die In-
halte dieses Urteils und die daraus zu ziehenden Konsequenzen informiert
werden (bitte begründen), und verlangt nicht auch der Grundsatz der effekti-
ven Umsetzung von EU-Recht, dass die zuständigen Stellen über die Ent-
scheidung des EuGH vom 9. Juli 2015 und daraus folgende Konsequenzen
informiert werden?

14. Inwieweit plant die Bundesregierung, bezugnehmend auf Bundestagsdruck-
sache 18/9651, den Visastellen konkrete Vorgaben zur Einzelfallprüfung im
Visumverfahren zu machen:
a) die bei der ,,Zumutbarkeitsprüfung [...] insbesondere die zumutbare tat-

sächliche Verfügbarkeit von Lernangeboten, deren Kosten, ihre Erreich-
barkeit sowie persönliche Umstände [...] berücksichtigen, die der Wahr-
nehmung von Lernangeboten entgegenstehen können [...] etwa Alter, Ge-
sundheitszustand, kognitive Fähigkeiten, Bildungsniveau, finanzielle
Lage oder Unabkömmlichkeit, die in einer Gesamtschau eine besondere
Belastung im Einzelfall ergeben“,

b) die in ,,Einzelfällen [...] Gründe für einen Härtefall auch bei dem in
Deutschland lebenden Ehegatten“ berücksichtigen, die die ,,Grenze des
Zumutbaren [...] vor Ablauf eines Jahres erreicht sein [lassen können],
[...] zum Beispiel bei einer unvorhersehbar eintretenden schweren Erkran-
kung des in Deutschland lebenden Ehegatten“,

c) die ,,die individuelle Prüfung jedes Visumsantrags umfasst stets auch die
Prüfung, ob ein Härtefall im Sinne der Vorschrift vorliegen könnte, selbst
wenn der Antragsteller dies nicht ausdrücklich geltend macht“ betrifft,

d) die sich auf die Möglichkeit der Antragsteller oder Antragstellerinnen be-
zieht, ,,individuelle Lebensumstände im Visumsverfahren darzulegen, die
einen Spracherwerb unmöglich oder unverhältnismäßig machen würden
(z. B. gesundheitliche Schwächen, Aufenthalt in entlegener Gegend ohne
Stromversorgung und Internet, Mittellosigkeit), und dadurch das Vorlie-
gen eines Härtefalls nach § 30 Absatz 1 Satz 3 Nummer 6 AufenthG gel-
tend zu machen“ (Antwort vom 1. November 2016 auf die Schriftliche
Frage 9 der Abgeordneten Sevim Dağdelen auf Bundestagsdrucksache
18/10202)?

15. Kann die Bundesregierung explizit bestätigen, dass ein Verweis auf eine
„mögliche Unterstützung durch den Partner“ in Deutschland bei der Frage
der Zumutbarkeit der Kosten nicht mit dem Urteil des EuGH vom 9. Juli
2015 vereinbar ist (wenn nein, bitte begründen; Nachfrage zur insoweit un-
beantwortet gebliebenen zweiten Teil der Schriftlichen Frage 9 der Abgeord-
neten Sevim Dağdelen auf Bundestagsdrucksache 18/10202)?

Drucksache 18/13324 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

16. Gibt es eine Verpflichtung für die nachzugswilligen Ehegatten, den Weg des

billigsten Spracherwerbs zu wählen (z. B. per Internet), oder warum verweist
die Bundesregierung bei ihrer Beantwortung von Fragen zur Zumutbarkeit
von Kosten im Zusammenhang mit dem Spracherwerb hinsichtlich des Ur-
teils des EuGH vom 9. Juli 2015 auf die Möglichkeit, kostenlose Lernange-
bote im Internet in Anspruch zu nehmen oder die Sprachkenntnisse auf an-
derem Wege zu erwerben (vgl. Antwort vom 1. November 2016 auf die
Schriftliche Frage 9 der Abgeordneten Sevim Dağdelen und auf Bundestags-
drucksache 18/10596, Antwort zu Frage 14, S. 17, bitte begründen)?

17. Wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, dass es mit dem Urteil
des EuGH vereinbar sei, dass die Kosten des Spracherwerbs in den wichtigs-
ten fünf Herkunftsländern mit 492 Euro über dem vom EuGH bereits für zu
hoch erachteten Wert von 460 Euro liegen, nur weil es auch günstigere Mög-
lichkeiten des Spracherwerbs als den Besuch eines Sprachkurses beim
Goethe-Institut gebe (vgl. Bundestagsdrucksache 18/10596, Antwort zu
Frage 14, S. 17)?

18. Inwieweit sieht die Bundesregierung in ihrer Antwort zur Frage nach der Zu-
mutbarkeit der beim Spracherwerb und -nachweis entstehenden Kosten im
Zusammenhang mit dem Urteil des EuGH, wonach ,,die Vorlage eines Zer-
tifikats [...] nicht erforderlich [ist], wenn die erforderlichen Sprachkenntnisse
offenkundig vorhanden sind“ (Bundestagsdrucksache 18/10596, Antwort zu
Frage 14, S. 17), einen Widerspruch, weil dieser Verzicht auf einen Sprach-
nachweis nur in den wenigen Fällen möglich ist, in denen ein weitaus höhe-
res Sprachniveau als das geforderte Niveau A1 vorliegt (bitte begründen)?

19. Inwieweit bedeutet die Antwort der Bundesregierung zur Frage nach der Zu-
mutbarkeit der beim Spracherwerb und -nachweis entstehenden Kosten, wo-
nach es im Übrigen möglich sei, ,,einen Härtefall nach § 30 Absatz 1 Satz 3
Nummer 6 AufenthG geltend zu machen“ (Bundestagsdrucksache 18/10596,
Antwort zu Frage 14, S. 17), dass bei Überschreiten der Kosten für den
Spracherwerb in der vom EuGH für bereits als unzumutbar erachteten
Summe von 460 Euro die Einreise ohne Sprachnachweis ermöglicht wird
(wenn nein, warum nicht), und von welchen Kosten wird in der Praxis von
weiteren Spracherwerbsbemühungen bzw. vom Sprachnachweis abgesehen
(bitte ausführen)?

20. Stimmt die Bundesregierung zu, dass auch Kosten unter 460 Euro für den
Spracherwerb bzw. -nachweis unzumutbar hoch sein können, weil der EuGH
in seinem Urteil vom 9. Juli 2015 diese Summe als zu hoch angesehen hat –
was aber noch nichts darüber aussagt, ob der EuGH nicht auch eine darunter
liegende Summe für unzumutbar erachtet hätte (wenn nein, bitte ausführen)?

21. In wie vielen Fällen und welchen Fallkonstellationen wurde bislang vom
Sprachnachweis abgesehen, weil die Kosten im Zusammenhang mit dem
Spracherwerb als zu hoch angesehen wurden?

22. Wie viele Fälle, in denen ein Härtefall im Sinne von Nummer 4 des Erlasses
des Auswärtigen Amts vom 4. August 2014 geltend gemacht wurde, wurden
dem Referat 509 im Auswärtigen Amt bislang insgesamt und ungefähr pro
Jahr vorgelegt bzw. anerkannt?

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23. Inwieweit gilt entsprechend der Antwort zu Frage 15 auf Bundestagsdruck-

sache 18/9651 nach Auffassung der Bundesregierung der subjektive An-
spruch auf Einreise nach dem EU-Recht nicht, wenn dem ,,im Bundesgebiet
lebenden ausländischen Ehepartner [...] grundsätzlich Anstrengungen zu-
mutbar [sind], die familiäre Einheit durch Besuche oder nötigenfalls zur
Gänze im Ausland herzustellen“, bzw. inwieweit hält die Bundesregierung
an ihrer Antwort zu Frage 3 auf Bundestagsdrucksache 17/11661 fest, wo-
nach dem ,,im Bundesgebiet lebenden ausländischen Ehepartner [...] grund-
sätzlich Anstrengungen zumutbar [sind], die familiäre Einheit durch Besuche
oder nötigenfalls zur Gänze im Ausland herzustellen“?

24. Warum können nicht einmal fachkundige Bundesbedienstete, gegebenen-
falls nach Rücksprache mit fachkundigen Personen der Goethe-Institute, un-
gefähre Einschätzungen dazu machen, in welchem Ausmaß bei nicht bestan-
denen Prüfungen des Sprachtests „Start Deutsch 1“ im Ausland im Rahmen
des Ehegattennachzugs fehlende Schriftkenntnisse der Grund für das Nicht-
bestehen des Tests waren (Nachfrage zur Antwort zu Frage 31 auf Bundes-
tagsdrucksache 18/9651)?

25. Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass, wenn es in dem aktu-
ellen Infoblatt Nr. 40a: Ehegattennachzug, Ausgabe 06/2017, www.tuerkei.
diplo.de/contentblob/4511606/Daten/7696066/40aehegattennachzug.pdf, der
deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei heißt: „Härtefallregelung:
Wenn Ihr Ehepartner Deutscher, deutscher Doppelstaater oder ein assoziati-
onsberechtigter […] türkischer Staatsangehöriger ist und es Ihnen trotz ernst-
hafter Bemühungen von einem Jahr Dauer nicht gelungen ist, das erforderli-
che Sprachzertifikat zu erreichen. Entscheidend ist, dass ernsthafte Lernan-
strengungen nachvollziehbar dargelegt werden (z. B. datierte Mitschriften
der Kursteilnahmen, Prüfungsversuche)“, nachzugswillige Ehepartner davon
ausgehen könnten, dass nur die hier genannten Umstände einen Härtefall be-
gründen können, weil es in dem Infoblatt nicht heißt, dass noch weitere
Gründe dazu führen können, dass kein Sprachnachweis vorgelegt werden
muss und dass es unter bestimmten Umständen auch nicht erforderlich ist,
vergebliche Spracherwerbsbemühungen über ein Jahr hinweg zu unterneh-
men, und weil auch kein Hinweis auf weitergehende Informationen erfolgt,
die diese Informationen beinhalten (bitte begründen)?

26. Wie hoch waren zuletzt die durchschnittlichen Kosten eines Sprachkurses
und der Prüfung (bitte differenzieren) der Goethe-Institute im Ausland im
Zusammenhang des Sprachnachweises beim Ehegattennachzug (bitte auch
nach den 20 wichtigsten Herkunftsländern differenziert angeben)?

Berlin, den 8. August 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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