BT-Drucksache 18/12975

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 18/12330, 18/12730, 18/12879 Nr. 1.9, 18/12946, 18/12952 - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG)

Vom 28. Juni 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/12975

18. Wahlperiode 28.06.2017

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner, Beate Walter-
Rosenheimer, Ulle Schauws, Doris Wagner, Kai Gehring, Tabea Rößner,
Elisabeth Scharfenberg, Maria Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche,
Dr. Harald Terpe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung

– Drucksachen 18/12330, 18/12730, 18/12879 Nr. 1.9, 18/12946, 18/12952 –

Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen

(Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen ändert eine Vielzahl an Rege-
lungen aus unterschiedlichen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe sowie ei-
nige des Gesundheitsbereichs. Viele der Regelungen hätten einer intensiven Beratung
bedurft, um einer fundierten fachlichen wie auch politischen Bewertung unterzogen
werden zu können. Das Gesetzesvorhaben wurde in einer Geschwindigkeit durch den
Deutschen Bundestag gebracht, die dem komplexen Regelungsgehalt nicht angemes-
sen ist. Dieser Antrag geht daher nur auf einige der Regelungen ein, die mit dem Kin-
der- und Jugendstärkungsgesetz geändert werden. Die nächste Reform des Kinder- und
Jugendhilferechts wird absehbar die dem Tempo dieses Reformvorhabens geschulde-
ten Fehler zu korrigieren haben.

Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erzie-
hung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Völ-
ker- und verfassungsrechtlich ist klar, dass alle Kinder die gleichen Rechte haben.
Deutschland hat die Rechte von Kindern und Jugendlichen ohne jede Diskriminierung
unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion,
der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen
Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status
des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds zu gewährleisten (vgl. Art. 2 der UN-
Kinderrechtskonvention).

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Seit vielen Jahren diskutieren der Bund, die Länder und Verbände über eine umfas-
sende Reform der Kinder- und Jugendhilfe. Ausgangspunkt war dabei vor allem der
Wille nach einer mittlerweile als „Inklusive Lösung“ bezeichneten Zusammenführung
der Eingliederungshilfe für alle Kinder und Jugendlichen, gleich welcher Behinde-
rung, in einem Gesetzbuch, im Recht der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). Somit
sollte auch der inklusive Ansatz im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe weiter
gefördert werden. Hinzu kamen in den letzten Jahren die Diskussion über die Weiter-
entwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung, der Reformbedarf im Pflegekin-
derwesen, die Notwendigkeit einer effizienteren Heimaufsicht und die Konsequenzen
aus der Evaluierung des Bundeskinderschutzgesetzes. Es kündigte sich die mit Ab-
stand größte Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes seit seinem Inkrafttreten
Anfang der 90er Jahre an.

Entgegen den Ankündigungen kommt es nun in dieser Wahlperiode zu keiner Umset-
zung einer Inklusiven Lösung. Dies ist angesichts der Vorgeschichte und der Erwar-
tungen der vielen Betroffenen äußerst bedauerlich. So werden vor allem die vielen
mehrfach behinderten Kinder und ihre Eltern weiter unter den Schnittstellenproblemen
unterschiedlicher Gesetzesbücher zu leiden haben. Die nächste Bundesregierung wie
auch der Bundestag in der 19. Wahlperiode stehen daher vor der großen Herausforde-
rung, das Vorhaben erneut anzupacken und eine Gesetzesreform herbeizuführen.

Statt zu einer Stärkung von Kindern und Jugendlichen führt das nun beschlossene
Rumpf-Gesetz für viele zu Verschlechterungen. Mit der Länderöffnungsklausel (§ 78f
SGB VIII) zum Abschluss neuer Rahmenverträge für die Unterbringung von unbeglei-
teten minderjährigen Flüchtlingen wird der Weg hin zu unterschiedlichen Standards
für geflüchtete unbegleitete Jugendliche und einheimische Jugendliche in der Jugend-
hilfe geebnet. Die Möglichkeit für die Länder, die Kostenerstattung an die Kommunen
für Leistungen an unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vom Abschluss von Rah-
menverträgen abhängig zu machen, birgt die Gefahr einer „Zwei-Klassen-Gesell-
schaft“ in der Kinder und Jugendhilfe. Bei jungen Geflüchteten würden Leistungen
dann nicht mehr nach individuellem Bedarf, sondern aufgrund der Herkunft gewährt.
Dabei sind geflüchtete genauso wie hier geborene junge Menschen zu allererst Kinder
oder Jugendliche mit kind- und jugendlichen Bedürfnissen. Eine am Bedarf orientierte
Jugendhilfe wird durch die Neuregelung in der Praxis erheblich erschwert. Eine Öff-
nungsklausel ist zudem nicht begründbar, da schon im Rahmen des bestehenden SGB
VIII flexible Möglichkeiten zur Unterbringung und Betreuung von minderjährigen un-
begleiteten Jugendlichen wie auch von einheimischen Jugendlichen bestehen. Es ist zu
befürchten, dass mit der Öffnungsklausel der Weg für andere Standardabsenkungen in
der Kinder- und Jugendhilfe geebnet wird.

Das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen wurde auf den letzten Metern
noch wesentlich entkernt, ein zentraler Baustein, die Reform der Pflegekinderhilfe,
wurde auf Druck der Union aus dem Gesetz gestrichen. Gerade Kinder, die nicht in
ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen können, bedürfen eines besonderen Maßes an Hilfe
und Unterstützung. Um ihren schwierigen Lebenslagen gerecht zu werden, sind Stabi-
lität und Kontinuität elementar. Mehr als jedes vierte Pflegekind lebt heute länger als
fünf Jahre in einer Pflegefamilie. Mit einem breit angelegten Forschungsprojekt zur
Pflegekinderhilfe in Deutschland wurde die Situation von Pflegekindern- und Pflege-
familien und ihre rechtliche Absicherung untersucht. Die Ergebnisse der vom wissen-
schaftlichen Beirat für Familienfragen des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend vorgelegten Expertise wurden auf Druck der Union nicht im Gesetz
zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen aufgenommen (Quelle:
www.bmfsfj.de/blob/76080/882dd907f94fd183472d6cac5dbcd0ee/gutachten-pflege-
familien-beirat-data.pdf). Maßstab gesetzlicher Regelungen sollten immer das Kindes-
wohl und die Rechte der Kinder sein. Eine bessere Unterstützung der Herkunftseltern
und eine verbesserte rechtliche Absicherung von Pflegekinderverhältnissen müssen
endlich geregelt werden. Eine frühzeitige Perspektivklärung ist im Sinne der Kinder

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/12975

wichtig. Hier sollte Rechtssicherheit hergestellt werden. Die Arbeit mit Herkunftsel-
tern muss gestärkt werden, damit eine Rückkehroption in die Herkunftsfamilie mög-
lich ist, sofern sie dem Kindeswohl nicht widerspricht. Um die Absicherung von Pfle-
gekinderverhältnissen zu verbessern, sind Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch
(BGB) zur Ermöglichung einer Dauerverbleibensanordnung dringend notwendig.
Dass die Ermöglichung einer Dauerverbleibensanordnung nun aus dem Gesetzentwurf
gestrichen wurde, bedeutet für zahlreiche Pflegekinder und Pflegefamilien weiterhin
ein Leben in Unsicherheit. Kinder, die über Jahre hinweg nicht in ihrer Herkunftsfa-
milie leben können, haben ein Recht auf ein sicheres und stabiles Aufwachsen, eine
immer wieder drohende Herausgabeforderung der leiblichen Eltern steht dem entge-
gen. Die im Gesetz vorgesehenen Reformen unter besonderer Berücksichtigung des
kindlichen Zeitempfindens, der Beachtung des Kindswohls sowie der Bewertung der
Elternarbeit hätten die Interessen aller Betroffenen abgewogen ausbalanciert. Sie hät-
ten zudem die bestehenden Differenzen zwischen den Regelungen im SGB VIII und
im BGB zu Pflegekinderverhältnissen mit Blick auf das kindliche Zeitempfinden be-
seitigt und damit den Aspekt des Kindeswohls in familiengerichtlichen Verfahren ge-
stärkt.

Entgegen entsprechenden Ankündigungen befinden sich im Kinder- und Jugendstär-
kungsgesetz keinerlei Verbesserungen für die Situation junger Volljähriger, die in in-
stitutioneller Verantwortung aufwachsen. Die Verlängerung der Jugendhilfemaß-
nahme über die Volljährigkeit des Pflegekindes oder betreuter Jugendlicher hinaus
bleibt damit weiterhin abhängig von der Situation vor Ort und dem kommunalen Etat.
Dabei brauchen junge Menschen aus der stationären Hilfe zur Erziehung – wie viele
Gleichaltrige, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen auch – über den 18. Geburts-
tag hinaus Unterstützung für ihren Weg in ein eigenverantwortliches Leben. So kon-
statiert der 15. Kinder- und Jugendbericht genauso wie bereits vier Jahre zuvor der
14. Kinder- und Jugendbericht, dass „der Verselbständigungsprozess in Übergangs-
schritten verläuft und junge Menschen im Durchschnitt erst in der Mitte des dritten
Lebensjahrzehnts einen eigenständigen Haushalt führen“ (15. Kinder- und Jugendbe-
richts S. 435). Junge Volljährige benötigen einen an der Lebensrealität und den Bedar-
fen junger Menschen angepassten individuellen Rechtsanspruch auf Hilfen nach § 41
SGB VIII bis zum Ende des 23. Lebensjahres. Für ein gutes Aufwachsen und eine
gelingende Integration ist es notwendig, Hilfen nicht frühzeitig abzubrechen, sondern
bei Bedarf über den 18. Geburtstag hinaus zu gewähren (vgl. Antrag „Stark ins eigene
Leben – Wirksame Hilfen für junge Menschen“; Bundestagsdrucksache 18/12374).
Dies gilt auch für unbegleitete junge Flüchtlinge.

Völlig unzureichend, da rein symbolisch, ist auch die Regelungen zu Ombudschaften
in der Kinder- und Jugendhilfe. Bislang gibt es bei öffentlichen Trägern der Kinder-
und Jugendhilfe – kommunale Jugendämter und Landesjugendämter – keinen struktu-
rierten Umgang mit Beschwerden oder Kritik. Klare Prozesse und festgelegte Zustän-
digkeiten im Umgang mit Beschwerden oder Verbesserungsvorschlägen können die
Qualität der Arbeit der Jugendämter jedoch weiter verbessern. Kinder und Jugendli-
che, die in Heimen oder Wohngruppen leben, brauchen mehr als ein funktionierendes
Beschwerdemanagement im Jugendamt. Sie brauchen einen besonderen Schutz, da sie
in einer besonderen Abhängigkeit von ihren Betreuungspersonen leben. Wenn sie in
ihren Rechten verletzt werden, müssen sie sich an unabhängige Ansprechpersonen und
Anlaufstellen wenden können. Daher reichen auch die Kontrollen der Heimaufsicht
und der endlich umgesetzte Anspruch von Minderjährigen auf Beratung auch ohne
Kenntnis der Eltern allein nicht aus.

Die Erfahrung im Alltag der Jugendhilfe zeigt, dass Rechte und Ansprüche von jungen
Menschen und ihren Familien nicht immer erfüllt werden. Das Verhältnis zwischen
Jugendamt und den Kindern, Jugendlichen und Familien, die die Leistungen der Kin-
der- und Jugendhilfe nutzen, ist strukturell durch ein Machtungleichgewicht geprägt.

Drucksache 18/12975 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Jugendämter beraten und entscheiden zugleich. An dieser Stelle können Ombudschaf-
ten unterstützen: Ombudschaften klären unabhängig über rechtliche Sachlagen, Ein-
zelansprüche und Optionen auf und können gegenüber dem Jugendamt bzw. Jugend-
hilfeträger vermitteln. Im Einzelfall können sie organisatorisch bei der Kontaktauf-
nahme zu einem Rechtsbeistand behilflich sein und die Betroffenen in einem eventu-
ellen Gerichtsverfahren unterstützen. Ombudschaften helfen strukturelle Machthierar-
chien und -asymmetrien auszugleichen und eine gerechte Einigung bei Streitfragen zu
erreichen. Deshalb reicht eine Kannvorschrift nicht aus, es wird eine klare rechtliche
Verankerung mit Anspruch auf unabhängige und fachlich nicht weisungsgebundene
Ombudschaften gebraucht.

Die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland ist ein hochentwickeltes professionelles
Feld. Neben Familie und Schule leistet sie einen entscheidenden Beitrag, ein positives
und kindeswohlgerechtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen.

Der besondere Wert der Jugendhilfe liegt darin, dass sie eine vielfältige und differen-
zierte Angebotslandschaft bereithält. Das Subsidiaritätsverhältnis zwischen freien und
öffentlichen Trägern der Jugendhilfe hat sich bewährt. Denn mit ihrer Vielfältigkeit,
Pluralität und Komplexität wird die Jugendhilfe den spezifischen Bedürfnissen, Prob-
lemen und Wünschen von Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern gerecht. Auch
die individuellen Rechtsansprüche von Eltern und Kindern sind daher unverzichtbar.

In den vergangenen Jahren ist die Kinder- und Jugendhilfe jedoch auch in Teilen zu
einem Auffangbecken des Versagens anderer Systeme geworden. Zu nennen sind bei-
spielsweise massenhafte Armutslagen, insbesondere bei alleinerziehenden Frauen oder
Exklusionstendenzen im Bildungswesen. Für viele Kinder und Jugendliche ist die Kin-
der- und Jugendhilfe deshalb auch eine (letzte) Chance, um ihre Teilhabe am Leben in
der Gemeinschaft wiederherstellen oder sichern zu können.

Auch die vielen zu uns geflüchteten Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern stellen
die Kinder und Jugendhilfe vor neue Herausforderungen. Die Kinder- und Jugendhilfe
ist nicht die Ursache des Problems, sondern sie ist mit der Aufgabe konfrontiert, struk-
turelle, gesellschaftliche Problemlagen zu bearbeiten. Den wachsenden Herausforde-
rungen der Jugendhilfe muss die nächste Reform des SGB VIII gerecht werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

unmittelbar und unter intensiver Beteiligung der Fachverbände, der Expertinnen und
Experten etc. ergebnisoffen und transparent im Dialog eine Reform des SGB VIII un-
ter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung einer „Inklusiven Lösung“ in der
Kinder- und Jugendhilfe, klarer Regelungen zur Einführung von Ombudschaften, eine
Weiterentwicklung der Hilfen für junge Volljährige (den sogenannten „Care
Leavern“), eine umfassende Reform des Pflegekinderwesens und einer Weiterent-
wicklung des Kinderschutzes auf den Weg zu bringen.

Berlin, den 27. Juni 2017

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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