BT-Drucksache 18/12851

zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 18/12374 - Stark ins eigene Leben - Wirksame Hilfen für junge Menschen

Vom 21. Juni 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/12851
18. Wahlperiode 21.06.2017

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Katja Dörner,
Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
– Drucksache 18/12374 –

Stark ins eigene Leben – Wirksame Hilfen für junge Menschen

A. Problem
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellt in ihrem Antrag fest, zwischen
den verschiedenen Leistungssystemen für Jugendliche und junge Erwachsene –
wie z. B. Jugendhilfe, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Leistungen der Ar-
beitsförderung, BAföG-Leistungen oder Leistungen nach dem Asylbewerberleis-
tungsgesetz – gebe es in Deutschland Kooperationsprobleme und Lücken. Damit
die Jugendlichen am Übergang Schule–Beruf in Zukunft eine bedarfsgerechte Un-
terstützung bekämen, solle in der Schule die Schulsozialarbeit eine stärkere Rolle
spielen. In Jugendberufsagenturen sollten Jobcenter, Arbeitsagentur und Jugend-
hilfe gleichberechtigt und fallbezogen im Sinne der Jugendlichen zusammenar-
beiten.

Junge Menschen, die in Pflegefamilien, betreuten Wohngruppen oder in Heimen
stationäre Hilfe zur Erziehung erhalten hätten, drohe zum 18. Geburtstag oft un-
freiwillig das Ende der Maßnahme. Diese „Care Leaver“ hätten häufiger mit
Wohnungslosigkeit zu kämpfen, unterlägen einem erhöhten Armutsrisiko und
hätten beim Aufbau von Sozialbeziehungen meist größere Schwierigkeiten als
Gleichaltrige. Hier müsse Abhilfe geschaffen werden.

Selbst wenn Hilfen über das 18. Lebensjahr hinaus gewährt würden, endeten sie
in der Regel maximal mit 21 Jahren. Diese Altersgrenze entspreche längst nicht
mehr der Lebensrealität und der Bedarfslage vieler junger Menschen. Auch der
extreme Wechsel zwischen starker Reglementierung und völliger Selbstverant-
wortung und der abrupte Abschied von den Vertrauenspersonen seien für manche
junge Erwachsene eine Herausforderung, der sie mit 18 Jahren nicht gewachsen
seien. Der Zuständigkeitsübergang aus der Jugendhilfe in andere Leistungssys-
teme müsse deshalb über das Instrument der Hilfeplanung so gestaltet werden,
dass keine Förderlücke entstehe und ein reibungsloser Übergang in die Unterstüt-
zung durch flächendeckend einzurichtende Jugendberufsagenturen gewährleistet
sei.

Drucksache 18/12851 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Junge – häufig unbegleitete – Flüchtlinge bildeten innerhalb der Gruppe junger
Erwachsener eine besonders schutzbedürftige Gruppe. Für ein gutes Aufwachsen
und eine gelingende Integration sei es notwendig, Hilfen nicht frühzeitig abzubre-
chen, sondern gerade auch diese jungen Menschen bei Bedarf über den 18. Ge-
burtstag hinaus zu unterstützen.

B. Lösung
Ablehnung des Antrags mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei
Stimmenthaltung der Fraktion DIE LINKE.

C. Alternativen
Annahme des Antrags.

D. Kosten
Kosten wurden im Ausschuss nicht erörtert.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/12851
Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,

den Antrag auf Drucksache 18/12374 abzulehnen.

Berlin, den 21. Juni 2017

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Paul Lehrieder
Vorsitzender

Christina Schwarzer
Berichterstatterin

Ulrike Bahr
Berichterstatterin

Norbert Müller (Potsdam)
Berichterstatter

Beate Walter-Rosenheimer
Berichterstatterin

Drucksache 18/12851 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Bericht der Abgeordneten Christina Schwarzer, Ulrike Bahr, Norbert Müller
(Potsdam) und Beate Walter-Rosenheimer

I. Überweisung

Der Antrag auf Drucksache 18/12374 wurde in der 234. Sitzung des Deutschen Bundestages am 18. Mai 2017
dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur federführenden Beratung und dem Ausschuss für
Arbeit und Soziales sowie dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Mitbera-
tung überwiesen.

II. Wesentlicher Inhalt der Vorlage

In dem Antrag wird darauf hingewiesen, dass junge Menschen meist erst mit Mitte 20 ihr Elternhaus verließen.
Die zentralen Herausforderungen des Aufwachsens seien in aller Regel nicht im Alter von 18 Jahren abgeschlos-
sen. Es gebe in Deutschland verschiedene soziale Unterstützungssysteme, die junge Menschen bei Bedarf auf
ihrem Weg ins Erwachsenenleben begleiteten. Neben der Jugendhilfe seien dies etwa Leistungen der Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende, Leistungen der Arbeitsförderung, Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungs-
gesetz oder auch Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Zwischen den verschiedenen Leistungssys-
temen gebe es jedoch Kooperationsprobleme und Lücken. Damit am Übergang Schule–Beruf in Zukunft kein
Jugendlicher mehr verloren gehe und alle die Unterstützung bekämen, die sie brauchten, solle in der Schule die
Schulsozialarbeit eine stärkere Rolle spielen und in Jugendberufsagenturen sollten die verschiedenen Rechtskreise
– Jobcenter, Arbeitsagentur und Jugendhilfe – gleichberechtigt und fallbezogen im Sinne der Jugendlichen zu-
sammenarbeiten.

Vor besonders großen Herausforderungen stünden junge Menschen nach der stationären Hilfe zur Erziehung –
die sogenannten „Care Leaver“, die in Pflegefamilien, betreuten Wohngruppen oder in Heimen aufgewachsen
seien. Obwohl die Kinder- und Jugendhilfe Hilfen für junge Volljährige grundsätzlich ermögliche und damit einen
Anschluss an die Hilfen zur Erziehung für Minderjährige vorsehe, drohe Jugendlichen, die in einem Heim, einer
Wohngruppe oder Pflegefamilie aufwüchsen, dennoch immer wieder, zum 18. Geburtstag unfreiwillig vor die
Tür gesetzt zu werden.

Selbst wenn Hilfen über das 18. Lebensjahr hinaus gewährt würden, endeten sie in der Regel maximal mit 21 Jah-
ren und damit häufig zu früh. Diese Altersgrenze entspreche längst nicht mehr der Lebensrealität und der Bedarfs-
lage vieler junger Menschen. Auch der extreme Wechsel zwischen starker Reglementierung und völliger Selbst-
verantwortung und der abrupte Abschied von den Vertrauenspersonen seien für manche junge Erwachsene eine
Herausforderung, der sie mit 18 Jahren nicht gewachsen seien.

Junge (unbegleitete) Flüchtlinge bildeten innerhalb der Gruppe junger Erwachsener eine besonders schutzbedürf-
tige Gruppe. Sie kämen meist erst mit 16 oder 17 Jahren nach Deutschland und damit in die Obhut der Jugendhilfe.
Viele müssten neben den Integrationsaufgaben, die mit dem Ankommen in Deutschland vor ihnen lägen, flucht-
bedingte Traumata verarbeiten. Für ein gutes Aufwachsen und eine gelingende Integration sei es notwendig, Hil-
fen nicht frühzeitig abzubrechen, sondern gerade auch diese jungen Menschen bei Bedarf über den 18. Geburtstag
hinaus zu unterstützen.

In dem Gesetzentwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen befänden sich entgegen entsprechender An-
kündigungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) keinerlei Verbesse-
rungen für die Situation junger Erwachsener. Die Verlängerung der Jugendhilfemaßnahmen über die Volljährig-
keit des Pflegekindes oder des betreuten Jugendlichen hinaus bleibe damit weiterhin abhängig von der Situation
vor Ort und dem kommunalen Etat. Statt einer Verbesserung der Situation, seien durch das geplante Gesetz Ver-
schlechterungen im betreuten Wohnen der Jugendsozialarbeit und bei der Unterbringung und Betreuung von un-
begleiteten minderjährigen Flüchtlingen vorgesehen. Das Gesetz schaffe auf diese Weise Anreize, junge Flücht-
linge in Sondereinrichtungen mit schlechteren Standards unterzubringen.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/12851
Nach dem Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden,

1. junge Menschen im Übergang aus den Hilfen zur Erziehung in ein eigenverantwortliches Leben zu unter-
stützen und dafür:

– die Hilfen gemäß § 41 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) bis zum Ende des 23. Lebens-
jahres als uneingeschränkten subjektiven Rechtsanspruch auszugestalten sowie ein Erstantrags- und
Rückkehrrecht zu erforderlichen Hilfen zu verankern, damit die Hilfen tatsächlich auch überall bedarfs-
gerecht erbracht würden;

– die Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII so weiterzuentwickeln, dass im Zuständigkeitsübergang aus der
Jugendhilfe in andere Leistungssysteme keine Förderlücke entstehe und ein reibungsloser Übergang
gewährleistet sei. Der öffentliche Träger der Jugendhilfe solle mit den anschließend zuständigen Sozi-
alleistungs- und Rehabilitationsträgern über die Jugendberufsagenturen frühzeitig kooperieren. Dieser
Prozess solle spätestens sechs Monate vor Beendigung oder Veränderung der Hilfe beginnen und be-
darfsorientiert erfolgen. Die Bedarfsprüfung und Auswahl geeigneter Unterstützungsleistungen sollten
im Anschluss an die Leistungen nach § 41 SGB VIII (Hilfe für junge Volljährige, Nachbetreuung) über
die Jugendberufsagenturen koordiniert und gesteuert werden. Leistungen nach dem SGB II oder SGB
III sollten nicht zwingend Vorrang vor den Leistungen nach dem SGB VIII haben, wenn junge Erwach-
sene durch letztere besser unterstützt werden könnten. Gerade für besonders benachteiligte Jugendliche
und junge Erwachsene seien Leistungen der Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII häufig besser ge-
eignet;

– Netzwerke und Selbstorganisation betroffener junger Menschen zu stärken und geeignete Strukturen zu
schaffen;

2. Kooperationslücken zu schließen, damit alle jungen Menschen die Unterstützung bekämen, die sie für ein
gelingendes Aufwachsen benötigten und dafür

– die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule zu verbessern und hierbei die Verpflichtung zur Ko-
operation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und den Schulen gesetzlich klarzustellen und vor allem
auf die Bundesländer einzuwirken, analoge Kooperationsverpflichtungen in die Landesschulgesetze
aufzunehmen. Durch die Abschaffung des Kooperationsverbots und ein Ganztagsschulprogramm des
Bundes über 4 Mrd. Euro sollten die Länder u. a. zur Aufstockung der Schulsozialarbeit entlastet wer-
den;

– gemeinsam mit Ländern und Kommunen Jugendberufsagenturen als zentrale und rechtkreisübergrei-
fend arbeitende Anlaufstellen allen jungen Menschen zur Verfügung zu stellen. Damit am Übergang
Schule–Beruf in Zukunft kein Jugendlicher verloren gehe, sollten die Träger der unterschiedlichen
Rechtskreise (Jobcenter, Arbeitsagentur und Jugendhilfe) gleichberechtigt und fallbezogen im Sinne
der Jugendlichen zusammenarbeiten. Die Jugendberufsagenturen sollten beim Übergang in den Beruf
unterstützen und dafür sorgen, dass alle Jugendlichen auf dem Weg in die Ausbildung passende Bera-
tungsangebote vorfänden. Gleichzeitig sollten Jugendberufsagenturen auch bei sozialen und psychi-
schen Problemlagen individuell beraten und in bedarfsgerechte Hilfen vermitteln. Auch unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge sollten dort passende Beratungsangebote vorfinden, beispielsweise durch Ju-
gendmigrationsdienste. Diese sollten sie auch nach dem Übergang in die Volljährigkeit unterstützen;

3. aufbauend auf den Erfahrungen mehrerer Bundesländer mit Hilfe eines Bundesprogramms bundesweit Vor-
haben zur Schaffung von bedarfsgerechten unabhängigen Ombudschaften in der Kinder- und Jugendhilfe zu
fördern und ein Beschwerdemanagementsystem bei den Trägern bzw. Einrichtungen der öffentlichen Kin-
der- und Jugendhilfe und bei den öffentlich geförderten freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe zu ent-
wickeln;

4. junge Erwachsene unter 25 Jahren in der Grundsicherung nicht schlechter zu stellen als Erwachsene und
sicherzustellen, dass die verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige abgeschafft und die Kosten der Unter-
kunft von Sanktionen ausgenommen würden;

5. die Qualität der Hilfen durch intensivere Forschung zu verbessern, und dazu

Drucksache 18/12851 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

– die Kinder- und Jugendhilfestatistik weiterzuentwickeln und die Zahl der Hilfen für junge Volljährige
nach Ersthilfen und Fortsetzungshilfen aufzugliedern sowie die Zahl wohnungsloser und von den Sozi-
alsystemen entkoppelter Jugendlicher systematisch zu erfassen;

– an den Hochschulen die Grundlagen dafür zu schaffen, dass die Volljährigen-Pädagogik gefördert und
weiterentwickelt werde. Auf deren Basis könnten dann die Fachkonzepte für die Hilfen für junge Voll-
jährige verbessert werden;

6. die Kommunen finanziell so auszustatten, dass sie die zusätzlichen Aufgaben erfüllen könnten. Dazu sollten
die besonders finanzschwachen Kommunen über den Kommunalinvestitionsförderfonds beim Aus- und
Neubau der Bildungsinfrastruktur unterstützt werden. Ferner sollten die Kommunen insgesamt in den kom-
menden Jahren mit 10 Mrd. Euro so unterstützt werden, dass sie 10.000 Schulen für die Zukunft fit machen
könnten.

III. Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat in seiner Sitzung am 21. Juni 2017 mit den Stimmen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Stimmenthaltung der
Fraktion DIE LINKE. die Ablehnung des Antrags empfohlen.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung hat in seiner Sitzung am 21. Juni 2017
mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE LINKE. die Ablehnung des Antrags empfohlen.

IV. Beratungsverlauf und Beratungsergebnisse im federführenden Ausschuss

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt mit den Stimmen der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Stimmenthaltung der
Fraktion DIE LINKE. die Ablehnung des Antrags auf Drucksache 18/12374.

Er hat zu der Vorlage in seiner 93. Sitzung am 19. Juni 2017 eine öffentliche Anhörung durchgeführt. Gegenstand
dieser Anhörung war auch der Gesetzentwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen auf Drucksache
18/12330.

In der Anhörung wurden folgende Sachverständige gehört:

– Dr. Marie-Luise Conen, Berlin

– Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Universitätsklinikum Ulm

– Stefan Funck, Landesjugendamt Saarland, Saarbrücken

– Dr. Wolfgang Hammer, Norderstedt

– Lisi Maier, Deutscher Bundesjugendring, Berlin

– Thomas Mörsberger, Lüneburg

– Prof. Dr. Ludwig Salgo, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

– Sonja Schmidt, Diakonie Deutschland, Berlin

– Ulrike Schwarz, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V., Berlin

– Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner, Freie Universität Berlin

– Prof. Dr. Holger Ziegler, Universität Bielefeld

– Stefan Hahn, Vertreter der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände, Berlin

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/12851
Zu den Ergebnissen der öffentlichen Anhörung wird auf das Wortprotokoll der Sitzung vom 19. Juni 2017 ver-
wiesen.

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat den Antrag auf Drucksache 18/12374 sodann in
seiner 95. Sitzung am 21. Juni 2017 abschließend beraten.

Hierzu lag ihm – ebenso wie zum Gesetzentwurf auf Drucksache 18/12330 – ein Stellungnahmeersuchen des
Petitionsausschusses gemäß § 109 Absatz 1 Satz 2 GO-BT vor. Mit der öffentlichen Petition wird gefordert, der
Bundestag möge die beabsichtigte Gesetzesänderung zum dauerhaften Verbleib von Kindern in Pflegefamilien
ablehnen. Missbräuchliche Inobhutnahmen durch das Jugendamt sollten verhindert werden und für in Obhut ge-
nommene Kinder und Jugendliche solle der Umgang mit ihren Eltern von Anfang an ermöglicht werden; dasselbe
gelte für die Möglichkeit des Kontakts zu einer Person ihres Vertrauens. Neben weiteren Maßnahmen solle die
Einrichtung einer Ombudsstelle für Betroffene gesetzlich gesichert werden.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erklärte, junge Menschen, die aus stationären Hilfen zur Erziehung
kämen, verfügten im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen, die in Herkunftsfamilien aufwüchsen, oft über weniger
stabile soziale Netzwerke. Sie könnten nicht darauf vertrauen, dass die Familie da sei, wenn sie sie bräuchten,
z. B. zur Unterstützung für die Ausbildung oder in der Schule. Jugendliche, die in einem Heim, in einer Wohn-
gruppe oder einer Pflegefamilie aufwüchsen, würden häufig zu ihrem 18. Geburtstag unfreiwillig vor die Tür
gesetzt. Dabei hätten sie es ohnehin viel schwerer als andere Kinder, die bei ihren Eltern aufwüchsen. Untersu-
chungen zeigten, dass diese „Careleaver“ häufiger mit Wohnungslosigkeit zu kämpfen hätten, ein erhöhtes Ar-
mutsrisiko trügen und beim Aufbau von sozialen Beziehungen auch meist sehr viel größere Schwierigkeiten hät-
ten als Gleichaltrige. Mit dem Übergang ins 18. Lebensjahr drohe dann oft das sogenannten „Volljährigkeitsloch“
und ein „Verschiebebahnhof“ zwischen den verschiedenen Leistungssystemen. Es handele sich um einen Bruch
im Leben dieser jungen Menschen. Nach Ansicht der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hätte die Bundesre-
gierung mit einer ambitionierten SGB-VIII-Reform die Situation dieser jungen Volljährigen wesentlich verbes-
sern können. Das sei auch in der öffentlichen Anhörung zum geplanten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz am
Montag dieser Woche deutlich geworden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sei dort stark kritisiert worden.
Die Vorschläge im vorliegenden Antrag, der ebenfalls Gegenstand der Anhörung gewesen sei, seien hingegen
begrüßt worden.

In dem Antrag fordere man, den individuellen Rechtsanspruch auf Hilfen für junge Volljährige zu stärken und
diese Hilfen bis zum 23. Geburtstag auszuweiten. Sowohl im 15. als auch im 14. Kinder- und Jugendbericht sei
festgestellt worden, dass junge Menschen im Durchschnitt erst in der Mitte des dritten Lebensjahrzehnts einen
eigenständigen Haushalt führten. Deshalb müsse der Anspruch auf Hilfen zur Erziehung für junge Volljährige an
die Lebensrealität angepasst werden und die Hilfen sollten den Bedarfen dieser jungen Menschen entsprechen.
Die Volljährigkeit scheine immer wieder unabhängig vom sozialpädagogischen Bedarf zu einem gesetzlich vor-
gegebenen Ende für die erzieherische Hilfe zu führen. Zudem gebe es regional oft eine sehr unterschiedlich ge-
staltete Gewährungspraxis. Deshalb fordere man, dass die in § 41 SGB VIII normierte Hilfegewährung eindeutig
und rechtsklar in Form eines subjektiven Rechtsanspruchs ausgestaltet werde.

Der Antrag habe auch junge unbegleitete Geflüchtete im Blick, die innerhalb der Gruppe der jungen Erwachsenen
eine besonders schutzbedürftige Gruppe darstellten. Diese kämen häufig in einem Alter von 16 oder 17 Jahren
an. Nachdem sie dann in einer Unterkunft heimisch geworden seien, müssten sie mit 18 in die Sammelunterkunft.
Dies schaffe viele Probleme, weil sie aus ihrer Umgebung gerissen würden und oft eine schwere Flucht hinter
sich hätten und traumatisiert seien. Diese jungen Menschen bräuchten noch Unterstützung. Ein Bruch in dieser
Lebensphase, in der man aus der gewohnten Umgebung herausgerissen werde, müsse vermieden werden. Statt
eine Verbesserung der Situation herbeizuführen, sei zu befürchten, dass das geplante Kinder- und Jugendstär-
kungsgesetz zu einer Verschlechterung in der Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen führen werde. Es schaffe nämlich Anreize, junge Flüchtlinge in Sondereinrichtungen mit schlechte-
ren Standards unterzubringen. Die Bundesregierung würde damit eine Zwei-Klassen-Jugendhilfe schaffen. Das
wäre ein integrationspolitisches Desaster und kinderrechtlich nicht vertretbar.

Außerdem fordere die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Schließen von Kooperationslücken durch die
flächendeckende Verankerung von Schulsozialarbeit und Jugendberufsagenturen als zentrale und rechtskreisüber-

Drucksache 18/12851 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
greifend arbeitende Anlaufstellen, die allen jungen Menschen zur Verfügung stünden, bedarfsgerechte unabhän-
gige Ombudschaften in der Jugendhilfe und die Abschaffung der Schlechterstellung bei der Grundsicherung sowie
die Abschaffung der verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige.

Die Fraktion der CDU/CSU stellte fest, die Anhörung am Montag und die hierzu vorgelegten Stellungnahmen
hätten gezeigt, dass die Debatte zu den Themen des geplanten Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes in einigen
Punkten noch breiter aufgestellt fortgeführt werden müsse. Deshalb wäre es verfrüht, dem Antrag der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zuzustimmen.

Die Jugendberufsagenturen leisteten eine wichtige Arbeit, die in der Zuständigkeit der Länder und Kommunen
verbleiben sollte. Dort seien Experten tätig, die gute Kenntnisse über ihre Städte, den aktuellen Arbeitsmarkt und
ihre Jugendlichen hätten. Es handele sich um eine wichtige Schnittstelle zwischen Jugendhilfe, Schule, Familie
und auch Arbeitsmarkt.

Die in dem Antrag geforderten unabhängigen Ombudschaften seien in dem geplanten § 9a SGB VIII vorgesehen.
Man hoffe, dass man diesen Punkt so beschließen könne. Schließlich halte man es nicht für richtig und auch nicht
für möglich, die Kommunen von Seiten des Bundes ständig und überall finanziell auszustatten. Hier dürfe kein
„Fass ohne Boden“ entstehen. Es sei nicht selbstverständlich gewesen, dass der Bund 1,1 Mrd. Euro für Kitaplätze
bereitgestellt habe.

Die Fraktion DIE LINKE. führte aus, sie ziehe aus der Anhörung am Montag die Erkenntnis, dass es das Beste
wäre, den Gesetzentwurf der Bundesregierung von der Tagesordnung zu nehmen. Man könne dem Antrag der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so nicht zustimmen, er enthalte aber viele gute Ansätze. Letztlich werde
man sich der Stimme enthalten. Teilweise vertrete die Fraktion DIE LINKE. weitergehende oder andere Positio-
nen. Man teile die Kritik, dass es in der Kinder- und Jugendhilfe keinen zweiten Standard für die unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlinge geben dürfe. Es sei klar, dass dies in der Praxis ein niedriger Standard sein würde.
Aus der Schuldenbremse 2019 aus den Länderöffnungsklauseln würden sich dann nämlich Haushaltszwänge er-
geben.

Man halte es für richtig, die Altersgrenze für Hilfen für junge Volljährige anzuheben. Allerdings kritisiere man
die Festlegung in dem Antrag auf das Alter von 23 Jahren, für die es keinen Anhaltspunkt gebe. Das SGB VIII
beschreibe das Jugendalter bis 27. Im SGB II gebe es eine Hartz-VI-Sonderregelung, die bis zum Alter von 25
Jahren gelte. Das Kindergeld werde bis zum vollendeten 25. Lebensjahr gezahlt. Die Familienversicherung im
SGB V greife bis zum Alter von 25 Jahren. Vor diesem Hintergrund müsse man über eine Ausweitung der Hilfen
für junge Volljährige und einen Rechtsanspruch darauf über das Alter von 23 Jahren hinaus reden. Das zeigten
auch die Ergebnisse aus dem 15. Kinder- und Jugendbericht.

Auch die Fraktion DIE LINKE. fordere, die Schulsozialarbeit auszubauen. Man setze sich aber dafür ein, die
Schulsozialarbeit als Regelangebot in das SGB VIII aufzunehmen. Dies müsse gemeinsam mit den Ländern fi-
nanziert werden. Es sei klar, dass der Bund dies nicht alleine mache. Er sei aber ebenfalls mit in der Pflicht.

Bei den im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Ombudsstellen handele es sich um eine Kann-
Regelung. Ombudsstellen könnten auch jetzt schon eingerichtet werden oder es werde darauf verzichtet. Es reiche
nicht aus, für Ombudsstellen einen Aktionsplan oder eine kurzfristige Maßnahme aufzulegen. Dies klinge aller-
dings in dem Antrag an. Bundesprogramme seien fast immer zeitlich befristet. Man fordere eine Regelfinanzie-
rung für Ombudsstellen und deren flächendeckende Einführung.

Bei den Jugendberufsagenturen käme es nach den Vorstellungen im vorliegenden Antrag zu etwa 300 Modellen
in Deutschland, weil diese in jeder Kommune anders ausgestaltet würden. Man wisse, dass diese teilweise eine
hervorragende Arbeit machten. In der Tendenz seien es dann allerdings häufig Jobcenter für junge Erwachsene.
Das wolle man aber mit den Jugendberufsagenturen nicht erreichen. Das bedeute, dass man den Kinder- und
Jugendhilfeanteil hier insgesamt stärken müsse. Im Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fehle die
Forderung, dass man die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt strukturell stärken müsse, damit sie dieser Aufgabe
nachkommen könne.

Die Forderung nach Abschaffung der Sondersanktionen für die unter 25-Jährigen gehe in die richtige Richtung.
Die Fraktion DIE LINKE. fordere allerdings insgesamt die Abschaffung von Sanktionen im SGB II.

Die Fraktion der SPD betonte, dass der Antrag aus ihrer Sicht vernünftig sei und sich mit vielen Anliegen der
SPD decke. Auch die SPD Fraktion sehe die Notwendigkeit, Hilfeleistungen nicht mit dem 18. Lebensjahr enden

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9 – Drucksache 18/12851
zu lassen. Fraglich bleibe, ob die Festlegung einer starren Altersgrenze sinnvoll sei. Im Übrigen erscheine die
Festlegung einer solchen Grenze auf das 23. Lebensjahr willkürlich. Man könne auch auf das 21., 25. oder 27.
Lebensjahr abstellen. Eine Koordinierung der Unterstützungsleistungen bei den Jugendberufsagenturen mache
Sinn, setze aber ein flächendeckendes Angebot und eine entsprechende Struktur voraus, die es zurzeit noch nicht
gebe. Insoweit müssten Alternativen angeboten werden.

Die Zusammenarbeit im Zuständigkeitsübergang zu anderen Trägern von Sozialleistungen sei im Regierungsent-
wurf festgeschrieben. Dessen bedürfe es im Bereich der Schulen allerdings nicht. Die Abschaffung des Koopera-
tionsverbotes mit dem Ziel, die Schulsozialarbeit zu stärken und Ganztagsschulen mit Bundesmitteln zu fördern,
werde von der SPD-Fraktion mitgetragen.

Ombudsstellen seien im Gesetzentwurf als Kann-Regelung vorgesehen und sollten unabhängig und weisungsun-
gebunden arbeiten. Begrüßt werde auch die Rücknahme der verschärften Sanktionen für Menschen unter 25.
Sinnvoll sei darüber hinaus die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfestatistik sowie eine Ausweitung
der Forschung zur Volljährigen-Pädagogik.

Was schließlich die finanzielle Entlastung der Kommunen angehe, finde diese bereits statt und werde auch fort-
gesetzt. Mit der Grundgesetzänderung in der vergangenen Sitzungswoche habe man ein umfangreiches Schulsa-
nierungsprogramm ermöglicht.

Vor diesem Hintergrund und aufgrund der Tatsache, dass man derzeit noch die Reform zum SGB VIII verab-
schieden wolle, werde man den vorliegenden Antrag insgesamt ablehnen.

Berlin, den 21. Juni 2017

Christina Schwarzer
Berichterstatterin

Ulrike Bahr
Berichterstatterin

Norbert Müller (Potsdam)
Berichterstatter

Beate Walter-Rosenheimer
Berichterstatterin

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