BT-Drucksache 18/11743

Tschernobyl und Fukushima mahnen - Atomausstieg konsequent umsetzen

Vom 29. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11743
18. Wahlperiode 29.03.2017
Antrag
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
Oliver Krischer, Christian Kühn (Tübingen), Steffi Lemke, Peter Meiwald,
Dr. Julia Verlinden, Harald Ebner, Matthias Gastel, Stephan Kühn (Dresden),
Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Markus Tressel, Dr. Valerie Wilms,
Corinna Rüffer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Tschernobyl und Fukushima mahnen – Atomausstieg konsequent umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

„Ich versichere Ihnen, die Situation ist unter Kontrolle.“ Das sagte der japanische Pre-
mierminister Shinzo Abe im September 2013 vor dem Olympischen Komitee über die
Situation im havarierten Atomkraftwerk Fukushima. Es galt, die Ausrichtung der
Olympischen Sommerspiele 2020 für Japan zu gewinnen. Das Komitee erteilte den
Zuschlag. Keinen Monat später meldete sich Herr Abe in gleicher Sache zu Wort. Die-
ses Mal richtete er sich jedoch an die internationale Staatengemeinschaft und gestand,
sein Land brauche Hilfe bei der Bewältigung der anhaltenden Wasserproblematik auf
dem Kraftwerksgelände. Auch vier Jahre später gibt es dafür keine Lösung. Der ge-
schmolzene Kernbrennstoff konnte immer noch nicht lokalisiert werden, weswegen
die zerstörten Reaktoren dauerhaft gekühlt werden müssen. Dabei sammeln sich rie-
sige Mengen kontaminierten Wassers an. Dieses wird auf dem Gelände gelagert, doch
der Platz ist begrenzt und das Wasser kann nicht von allen radioaktiven Stoffen befreit
werden. Immer wieder gelangt kontaminiertes Wasser in den Pazifik.
Im Februar dieses Jahres wurde im Reaktor 2 die höchste radioaktive Strahlung seit
dem Unfall gemessen: 650 Sievert pro Stunde. Für den Menschen endet bereits eine
Dosis ab 50 Sievert pro Stunde nach kürzester Zeit tödlich. Spezielle Säuberungsrobo-
ter, die in den zerstörten Reaktoren Wege für Erkundungsmissionen frei räumen sol-
len, versagen schon nach zwei Stunden aufgrund der hohen Strahlung ihren Dienst.
Auch die 1,5 km lange und 30 m tiefe Eisbarriere um die Reaktorblöcke ist nicht ein-
satzbereit. Die offiziell als „undurchdringliche Wand auf der Landseite“ bezeichnete
Barriere ist nicht völlig gefroren. Weiterhin kann Grundwasser in die Gebäude ein-
dringen und radioaktiv verseuchtes Wasser aus der Anlage sickern. Experten gehen
davon aus, dass der Rückbau noch rund 40 Jahre dauern wird.
2017 jährt sich bereits zum 31. Mal die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. An einen
Rückbau oder auch nur eine Entnahme der kontaminierten Materialien aus dem explo-
dierten Reaktor ist hier noch lange nicht zu denken. Bis heute gibt es weder ein Kon-
zept noch eine Strategie dafür. Erst einmal muss die neue Schutzhülle, das „New Safe
Confinement“, in Betrieb genommen werden. Als die größte bewegliche Konstruktion

Drucksache 18/11743 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
der Welt im vergangenen Jahr über den alten und brüchigen Sarkophag geschoben
wurde, sprach der ukrainische Umweltminister von einem historischen Tag. Die Welt
soll nun 100 weitere Jahre vor der Strahlung aus der Atomruine geschützt sein. Doch
damit ist die Katastrophe noch lange nicht bewältigt. Im Gegenteil: Die großen Auf-
gaben, die Entfernung der instabilen Teile des alten Sarkophags, die Entnahme aller
hochradioaktiven Materialien und dann der letztliche Rückbau stehen erst noch bevor.
Auch die Tatsache, dass ständig Wasser in den Reaktor eindringt und deswegen eine
erneute Kettenreaktion nicht ausgeschlossen werden kann, zeigt, dass die Katastrophe
weitergeht. Nach über 30 Jahren ist man weit vom Ziel der grünen Wiese entfernt. Es
ist unklar, welche Probleme und Herausforderungen noch auf die Ukraine und die in-
ternationale Gemeinschaft zukommen werden.
Fukushima und Tschernobyl werden ewig mahnende Beispiele für die mit der Atom-
energie verbundenen Risiken und für die Bürde sein, die wir mit ihrer Nutzung kom-
menden Generationen auferlegen. Atomkraft beherrschen zu wollen war von Anfang
an Hybris. Die Folgen eines Super-GAUs stellen die Menschheit vor nie da gewesene
Probleme. Ob sie je vollständig zu bewältigen sein werden, ist fraglich. Menschliches
Leid in Gestalt gesundheitlicher Schäden wird über Generationen weitergegeben.
Seiner Verantwortung folgend, beschloss der Deutsche Bundestag nach der Reaktor-
katastrophe von Fukushima fraktionsübergreifend, bis Ende 2022 alle deutschen
Atomkraftwerke abzuschalten. Trotz dieses einheitlichen Beschlusses gibt es nach wie
vor viele Inkonsequenzen in der Atompolitik, die bisher nicht angegangen werden. Ein
ernst gemeinter Atomausstieg bedeutet mehr als Abschaltdaten für noch laufende
Atomkraftwerke.

Der Deutsche Bundestag sieht hier Handlungsbedarf:
– Obwohl spätestens seit Fukushima höchste Sicherheitsstandards für die deut-

schen Atomkraftwerke gelten sollen, erfüllt das AKW Gundremmingen weder
frühere noch heutige Anforderungen an die Erdbebensicherheit.

– Die Urananreicherungsanlage Urenco in Gronau und die Atomfabrik ANF in Lin-
gen müssen geschlossen werden, da sie dazu beitragen, das Atomkarussell der
Welt in Bewegung zu halten.

– Die Bundesregierung muss sich für die Abschaltung der grenznahen Atomkraft-
werke in Belgien, Frankreich, der Schweiz und Tschechien einsetzen, die bedeu-
tende Sicherheitsmängel aufweisen.

– Die Bewilligungen der zweifelhaften Subventionen für die AKW-Neubauvorha-
ben Hinkley Point C und Paks II stützen sich auf den veralteten Euratom-Vertrag,
der dringend reformiert werden muss. Er bildet auch die Grundlage für das ITER-
Projekt, einen Fusionsreaktor, der horrende Summen verschlingt und gleichzeitig
irrelevant für die zukünftige Energieversorgung sein wird.

– Die Regierung steckt sowohl über Euratom als auch über das nationale Energie-
forschungsprogramm nach wie vor viel Geld in sinnlose atomare Forschung. Die
Gelder könnten im Bereich der Forschung für die noch offenen Baustellen der
Energiewende sinnvoller ausgegeben werden.

Deutschland könnte mit seinem Atomausstiegsbeschluss Vorreiter eines weltweiten
Atomausstiegs werden. Dazu müssen wir konsequent, glaubwürdig und erfolgreich
mit unserem Atomausstieg sein. Die Widersprüche müssen endlich aufgelöst werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den durch Atomunfälle betroffenen Menschen und Ländern weiterhin Hilfe und
Unterstützung zur Minderung der gesundheitlichen, ökologischen und wirtschaft-
lichen Folgen zu gewähren;

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/11743
2. sich international für einen möglichst raschen Ausstieg aus der Atomkraft und

Umstieg auf eine Energieversorgung, basierend auf erneuerbaren Energien, ein-
zusetzen sowie für eine weltweite Ächtung des Uranabbaus und als Zwischen-
schritt im Hinblick auf das nach Deutschland und in die EU importierte Uran
Transparenz über die Herkunft sowie substanzielle und verbindliche ökologische,
soziale und menschenrechtliche Standards beim Abbau einzufordern;

3. auf europäischer Ebene darüber hinaus
o für die Schaffung eines neuen Regelwerks einzutreten, das es Anrainerstaaten

ermöglicht, Einfluss auf die Sicherheitsanforderungen für grenznahe Atom-
kraftwerke nehmen zu können;

o für eine deutliche Erhöhung der Sicherheitsstandards und Haftungsanforde-
rungen einzutreten;

o darauf hinzuwirken, dass es in Europa grundsätzlich keine Erlaubnisse für
längere AKW-Betriebszeiten als 40 Jahre mehr gibt, bis dahin jedoch min-
destens für AKW-Laufzeitverlängerungen und AKW-Betriebszeiten über
40 Jahre hinaus eine Umweltverträglichkeitsprüfung mit grenzüberschreiten-
der Öffentlichkeitsbeteiligung inklusive verbindlichen Erörterungsterminen
in allen verfahrensbeteiligten Staaten geben muss;

o für ein neues Regelwerk einzutreten, das Atomtransporte in Europa transpa-
renter macht;

o die Klagen der deutschen Energieversorgungsunternehmen gegen die Bewil-
ligung der Europäischen Kommission im Fall des britischen AKW-Neubaus
Hinkley Point C (Support SA.34947) mit ihrem fachlichen Know-how zu un-
terstützen und sich der Nichtigkeitsklage der Länder Österreich und Luxem-
burg vorm Gerichtshof der Europäischen Union anzuschließen (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 18/4136);

o eine eigene Fachstellungnahme zum AKW-Neubau Hinkley Point C im Rah-
men der durch das Verfahren des Espoo Implementation Komitees ermög-
lichten Nachholung einer grenzüberschreitenden Beteiligung abzugeben;

o generell eigene Fachstellungnahmen im Rahmen grenzüberschreitender Um-
weltverträglichkeitsprüfungen für AKW-Neubauvorhaben oder -Laufzeit-
verlängerungen in Europa abzugeben und hierfür erforderlichenfalls die
rechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen;

o eine Nichtigkeitsklage gegen die Bewilligung der Europäischen Kommission
im Fall des ungarischen AKW-Neubaus Paks II beim Europäischen Gerichts-
hof einzureichen oder sich der Klage eines anderen europäischen Staates an-
zuschließen;

o sich künftig dafür einzusetzen, dass Neubauprojekte von Atomkraftwerken
nicht staatlich subventioniert werden, und im Falle einer Bewilligung durch
die EU-Kommission eine Nichtigkeitsklage beim Gerichtshof der Europäi-
schen Union einzureichen oder sich der Klage eines anderen europäischen
Staates anzuschließen;

o auf eine Neuausrichtung des Euratom-Vertrags hinzuwirken und zwar derge-
stalt, dass die dort festgeschriebene Sonderstellung der Kernenergie abge-
schafft wird und vor allem die Passagen gestrichen werden, die Investitionen
in die Atomkraft begünstigen; sollte diese Neuausrichtung auf europäischer
Seite nicht durchsetzbar sein, muss der Euratom-Vertrag von deutscher Seite
aus gekündigt werden (vgl. Bundestagsdrucksache 18/6205);

o bereits jetzt die notwendigen Schritte einzuleiten, um schnellstmöglich aus
dem Milliardengrab ITER aussteigen zu können;

Drucksache 18/11743 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
4. sich in Bezug auf grenznahe AKW rund um Deutschland mit besonderem Nach-

druck für eine Reduktion des Atomrisikos einzusetzen und hierzu unter anderem
o mit Frankreich bilaterale Verhandlungen zum Zweck einer unverzüglichen

Stilllegung der beiden grenznahen besonders anfälligen AKW Cattenom und
Fessenheim aufzunehmen (vgl. auch Bundestagsdrucksachen 17/11206 und
18/7668);

o mit Belgien
– bilaterale Verhandlungen zum Zweck einer unverzüglichen Stilllegung

insbesondere der beiden Risse-Meiler Tihange 2 und Doel 3 aufzuneh-
men;

– im Rahmen der Ausarbeitung und Anwendung des deutsch-belgischen
Abkommens über den Informations- und Erfahrungsaustausch sowie
die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit, des
Strahlenschutzes und der Sicherheit der Entsorgung von abgebrannten
Brennelementen und radioaktiven Abfällen ein Vorschlagsrecht für
eine/einen Sachverständige/Sachverständigen aus den betroffenen Re-
gionen auszuhandeln;

o mit der Schweiz
– Verhandlungen zum Zweck einer unverzüglichen Stilllegung des welt-

weit ältesten noch laufenden und mit Rissen durchzogenen AKW Be-
znau, nahe der deutschen Grenze, aufzunehmen;

– bilaterale Gespräche mit dem Ziel einer Verbesserung des Sicherheits-
managements und der Sicherheitskultur im Schweizer AKW Leibstadt
aufzunehmen;

o die deutsche Öffentlichkeit deutlich besser als bislang über den Zustand und
die Sicherheitsrisiken grenznaher ausländischer AKW und diesbezügliche
Tätigkeiten der Bundesregierung zu informieren und für alle diesbezüglichen
bilateralen Kommissionen ein Vorschlagsrecht für eine/einen Sachverstän-
dige/Sachverständigen aus den betroffenen Regionen zu ermöglichen;

5. in Deutschland den Atomausstieg ernsthaft und sicher zu vollenden, unter ande-
rem indem sie
o die Kernbrennstoffstoffsteuer wieder einführt und anhebt (vgl. Bundestags-

drucksache 18/10034);
o in Zusammenarbeit mit den Bundesländern für eine unverzüglich tatsächliche

Umsetzung und Praxistauglichkeit eines verbesserten nuklearen Katastro-
phenschutzes sorgt,

o erforderliche Nachrüstungen der verbleibenden AKW und sonstigen Atom-
anlagen rasch durchsetzt und allen Änderungen an allen Atomanlagen nur
zustimmt, wenn sie dem strengen Stand von Wissenschaft und Technik ge-
nügen;

o die unverzügliche Stilllegung des AKW Gundremmingen aufgrund der re-
gelwerkswidrigen Defizite im Bereich der Erdbebenfestigkeit und Not- und
Nachkühlung einleitet;

o einen sofortigen Exportstopp für die Brennelementelieferungen mit aktuellen
Ausfuhrgenehmigungen der ANF Lingen zu den belgischen Atomkraftwer-
ken Doel und Tihange anordnet, da Ausfuhrgenehmigungen für Brennele-
mente in diese AKW gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 des Atomgesetzes nicht mehr
erteilt werden dürfen;

o grundlegend keine Ausfuhrgenehmigungen in die deutsche Sicherheit ge-
fährdende Risiko-AKW wie Doel und Tihange in Belgien, Fessenheim und
Cattenom in Frankreich oder Beznau und Leibstadt in der Schweiz erteilt;

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/11743

o im Sinne der Vollendung eines konsequenten und glaubwürdigen Ausstiegs
aus der Nutzung der Atomenergie die gesetzlichen Voraussetzungen zur
Stilllegung aller Anlagen des Kernbrennstoffkreislaufs (außer den für die in-
ländische Entsorgung erforderlichen) schafft. Dies gilt insbesondere für die
Urananreicherungsanlage Urenco in Gronau und die Brennelementefabrik
ANF in Lingen (vgl. auch Bundesratsdrucksachen 147/12, 390/15 und Bun-
destagsdrucksache 18/9676);

o dafür sorgt, dass bei den noch im Leistungsbetrieb befindlichen Atomkraft-
werken auf alle Fälle noch eine periodische Sicherheitsüberprüfung durchge-
führt wird;

o Atomtransporte minimiert und sicherer macht, z. B. durch stärkere Verlage-
rung von der Straße auf die Schiene;

o die bislang beim BMWi angesiedelten Mittel für Atomsicherheit-For-
schungsvorhaben auf das BMUB überträgt und keine die Atomindustrie för-
dernde Vorhaben mehr vergibt, sondern ausschließlich ausstiegs- und sicher-
heitsorientierte, kontrolliert durch ein transparentes Monitoring;

o bei der Weiterentwicklung des 6. Energieforschungsprogramms keine öffent-
lichen Gelder mehr für die Erforschung von Kernfusion, Transmutation und
Reaktoren der IV. Generation einstellt (vgl. Bundestagsdrucksache 18/5211);

o alle durch das Einstellen der Mittel für atomare Forschung frei werdenden
finanziellen Mittel vollständig für das Gelingen der Energiewende und die
Forschung für mehr Erneuerbare, für die Sicherheits- und Endlagerforschung
sowie für Forschung zu den Auswirkungen ionisierender Strahlung auf den
Menschen und seine Umwelt einsetzt.

Berlin, den 28. März 2017

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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