BT-Drucksache 18/11520

Finanzierung der zweiten Stammstrecke in München mit Bundesmitteln über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz

Vom 8. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11520
18. Wahlperiode 08.03.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Leidig, Nicole Gohlke, Caren Lay, Herbert Behrens,
Eva Bulling-Schröter, Harald Weinberg, Hubertus Zdebel und
der Fraktion DIE LINKE.

Finanzierung der zweiten Stammstrecke in München mit Bundesmitteln über das
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz

Die S-Bahn in München wird bislang mit sämtlichen Linien fast komplett über
die sogenannte S-Bahn-Stammstrecke zwischen Laim und Ostbahnhof geführt.
Diese Strecke ist aufgrund der vielen dort verkehrenden Züge (30 Züge pro
Stunde und Richtung) deutlich überlastet. Daher wird für eine wünschenswerte
Verdichtung des Verkehrs auf mehreren Strecken eine zusätzliche Strecke für ei-
nige der S-Bahn-Linien benötigt.
Noch in den 1990er Jahren wurde als Lösungskonzept ein Ausbau des Südrings
entlang der dort bestehenden Bahnstrecke favorisiert. Mit den inzwischen einge-
stellten Planungen für den unterirdischen Durchgangsbahnhof „München 21“ als
neuem Münchner Hauptbahnhof wurde dann jedoch die zweite Stammstrecke als
Tunnelverbindung durch die Innenstadt vorgeschlagen. Die zweite Stammstrecke
wird seitdem intensiv und kontrovers diskutiert.
Der Ausbau des Südrings hätte Kritikerinnen und Kritikern der zweiten Stamm-
strecke zufolge erhebliche verkehrliche Vorteile, da diese Variante – mit deutlich
geringerem baulichem Aufwand – neue und wachsende Stadtviertel an den S-
Bahn-Verkehr anbinden würde, während die geplante zweite Stammstrecke fast
parallel zu der bestehenden (ersten) Stammstrecke verläuft. Seit dem Jahr 2000
werden mehrere Varianten eines Südring-Ausbaus diskutiert, einschließlich des
Baus eines Nordtunnels als längerfristige zusätzliche kapazitätserweiternde Aus-
baumaßnahme. Der Südring wurde in einer vergleichenden Untersuchung jedoch
aus Sicht der Fragesteller bewusst schlecht bewertet, indem die Investitionskosten
sehr hoch angenommen wurden und ein sehr unvorteilhaftes Betriebskonzept un-
terstellt wurde (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur,
Verkehr und Technologie, 2009: Vergleichende Untersuchung 2. S-Bahn-Tunnel/
Südring). Ebenfalls als Alternative wurde über eine Verlängerung des U5-Tun-
nels bis zum Bahnhof Pasing und die Nutzung dieses Tunnels auch für die S-Bahn
mit Hilfe von Zweisystemfahrzeugen diskutiert.
Nach der bereits im Jahr 2011 erfolgten Unterzeichnung einer Rahmen-Bau-und-
Finanzierungsvereinbarung wurde am 25. Oktober 2016 eine Finanzierungsver-
einbarung für die „zweite Stammstrecke“ zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land, dem Freistaat Bayern und der Stadt München unterzeichnet. Der Bauträger
ist die Deutsche Bahn AG. Der Plan umfasst einen 7 Kilometer langen und bis zu
48 Meter tiefen Tunnel zwischen den Bahnhöfen Laim und Leutenbergring, durch
den zukünftig fünf S-Bahn-Linien mit 15 Zügen pro Stunde und Richtung (inkl.
einer neuen Linie mit drei Zügen pro Stunde und Richtung, die den bisherigen
Regionalverkehr ersetzt) geführt werden sollen, während ebenfalls fünf S-Bahn-

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Linien mit 21 Zügen pro Stunde und Richtung weiter über die bestehende Stamm-
strecke laufen sollen.
Im Jahr 2011 wurden die Baukosten für die zweite Stammstrecke mit 1,7697 Mrd.
Euro veranschlagt, im Jahr 2013 bereits mit 2,047 Mrd. Euro – bei einer Inbe-
triebnahme im Jahr 2019. Anfang 2015 wurden die Kosten dann auf 2,57 Mrd.
Euro berechnet; Mitte 2015 bereits mit 3,12 Mrd. Euro bei einer Inbetriebnahme
im Jahr 2025. Inzwischen gibt die DB AG die Gesamtkosten mit 3,84 Mrd. Euro
an, und die Inbetriebnahme ist für das Jahr 2026 avisiert. Der Spatenstich soll am
4. April 2017 erfolgen. Damit hat das Projekt ähnlich wie „Stuttgart 21“ schon
vor dem Baubeginn mit erheblichen Kostensteigerungen und Terminverschiebun-
gen zu kämpfen, und Kritikerinnen und Kritiker gehen auch im Falle der zweiten
Stammstrecke von weiteren erheblichen Kostensteigerungen während des Bau-
prozesses aus.
Für die aktuellen Planungen der zweiten Stammstrecke wurde in einer Standardi-
sierten Bewertung im Auftrag des Münchner Verkehrs- und Tarifverbunds sowie
der Obersten Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau
und Verkehr ein Nutzen-Kosten-Verhältnis (NKV) von 1,05 ermittelt (vgl. Intra-
plan Consult GmbH, 2016: Nutzen-Kosten-Untersuchung 2. S-Bahn-Stammstre-
cke München 2025). Der angenommene Nutzen liegt damit also nur knapp über
den Kosten; das Projekt ist somit nur sehr knapp nach dem Gemeindeverkehrsfi-
nanzierungsgesetz (GVFG) mit Bundesmitteln förderfähig.
In einer älteren Standardisierten Bewertung im Jahr 2011 wurde bei damals ver-
anschlagten Baukosten von 1,7697 Mrd. Euro ein Nutzen-Kosten-Verhältnis
(NKV) von 1,23 und im Risikofall sogar nur von 1,04 festgestellt (vgl. Intraplan
Consult GmbH, 2011: Verkehrliche Berechnungen mit Nutzen-Kosten-Untersu-
chungen zur 2. Stammstrecke –Inbetriebnahme 2019, Seite 32). Gegenüber der
Berechnung aus dem Jahr 2011 sind die prognostizierten Kosten inzwischen aber
erheblich gestiegen. Gleichzeitig hat sich der – hoch umstrittene – Nutzen jedoch
eher verringert, da einige Stationen in der Innenstadt und die als Vorteil angeprie-
sene Nordeinfahrt zum Ostbahnhof inzwischen gestrichen wurden. Das bedeutet,
dass mit Bezug auf das im Jahr 2011 berechnete NKV das heutige NKV deutlich
unter 1 liegen müsste. Damit wäre das Projekt nicht über das GVFG förderfähig.
Mit dieser Kleinen Anfrage suchen wir u. a. nach Erklärungen dafür, dass den-
noch mit der aktuellen Standardisierten Bewertung erneut ein NKV von 1,05 be-
rechnet wurde.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Was ist die genaue Rechtsgrundlage für Bewilligungsbescheide für Vorha-

ben der Eisenbahnen des Bundes nach § 11 GVFG (vgl. Bundesverwaltungs-
gericht – BVerwG –, Urteil vom 25. April 2012 – 8 C 18/11; bitte speziell
für die Förderung der 2. S-Bahn-Stammstrecke München angeben)?

2. Nach welchen Vorschriften erfolgt die Rücknahme einer bewilligten GVFG-
Förderung, und was sind die Voraussetzungen?

Inwiefern kann der Bund hierauf Einfluss nehmen?
3. Welche Möglichkeit haben Konkurrentinnen und Konkurrenten gegen eine

rechtswidrige GVFG-Förderung vorzugehen?
4. Was besagt der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit i. S. d. § 3

Nummer 1 c GVFG im Einzelnen?
5. Ist das NKV eines über GVFG geförderten Projekts jemals nach der Ent-

scheidung zur Förderung des Projekts erneut überprüft worden?

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6. Wie würde der Bund, auch wenn es einen solchen Fall bislang noch nicht
gab, verfahren, wenn ein über das GFVG gefördertes Projekt nach Erlass des
Bewilligungsbescheides teurer wird für den Fall, dass der Nutzen-Kosten-
Wert aufgrund der Kostensteigerung nach Aktualisierung der Standardisier-
ten Bewertung unter 1,0 rutscht?
Muss dann der gesamte schon ausbezahlte Zuschussbetrag wieder zurückge-
zahlt werden?
Wenn nicht, werden dann entsprechend der Kostensteigerung zusätzliche
Fördermittel zur Verfügung gestellt, oder wird die weitere Bezuschussung
über den ursprünglich vereinbarten Betrag verwehrt oder gilt eine andere Re-
gelung?

7. Wie sieht bei der Überprüfung von Standardisierten Bewertungen die fachli-
che Begleitung durch die Fachabteilungen der Zuwendungsgeber und die
Prüfung durch die Bewilligungsbehörden konkret aus?

8. In wie vielen Fällen wurden in der Vergangenheit Anträge aufgrund dieser
Prüfung durch die Bewilligungsbehörden abgelehnt?

9. Hält die Bundesregierung das äußerst knappe Nutzen-Kosten-Verhältnis von
1,05 für problematisch (bitte begründen)?

10. Geht die Bundesregierung davon aus, dass die Kosten lediglich im Rahmen
der allgemeinen Inflation steigen werden oder in stärkerem Maße?
Auf welcher Grundlage beruhen diese Annahmen – insbesondere in Anbe-
tracht der Tatsache, dass ähnliche Bahnprojekte (z. B. Neubaustrecke –
NBS – Nürnberg–Ingolstadt, Stuttgart 21, City-Tunnel Leipzig) in der Regel
mit erheblichen Kostensteigerungen zu rechnen hatten bzw. haben?

11. Wie erklärt es die Bundesregierung, dass bei der Neuberechnung der Stan-
dardisierten Bewertung 2016 trotz der der alten Standardisierten Bewertung
von 2011, die ein NKV von 1,23 ergab und der zwischenzeitlich erheblich
gestiegenen Kosten, nun wieder ein NKV von 1,05 errechnet wurde?

12. Inwiefern ist die vergleichsweise geringe Investitionssumme in der Standar-
disierten Bewertung von 2016 nach Kenntnis der Bundesregierung plausi-
bel?

13. Wie wird in dem Falle verfahren, dass ein größerer Teil der Risiken eintritt
als in der Berechnung der Investitionssumme angenommen, weil nicht nur
solche Risiken eintreten, die mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit über
50 Prozent bewertet wurden?

14. Inwiefern sind die gesunkenen Unterhaltskosten in der Standardisierten Be-
wertung von 2016 nach Kenntnis der Bundesregierung plausibel?
Warum sind die Kosten von wartungsintensiven Anlageteilen niedriger ge-
worden?
Warum sind Anlageteile, die nur wenig oder keine Unterhaltskosten verur-
sachen teurer geworden?
Welche sonstigen Erklärungen kann es nach Kenntnis der Bundesregierung
dafür geben?

15. Wie bewertet die Bundesregierung die Annahmen für den Nutzen des Pro-
jekts in Anbetracht der Tatsache, dass damit keine neuen Verkehrs- und Di-
rektverbindungen geschaffen werden und die prognostizierten Fahrzeitver-
kürzungen durch überlange Zuwege in bergwerksartige, über 40 Meter tief
liegende Stationen zunichte gemacht werden?

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16. Hat die Bundesregierung bzw. das Bundesministerium für Verkehr und digi-

tale Infrastruktur (BMVI) die Studie zur Ermittlung des NKV der zweiten
Stammstrecke (vgl. Intraplan Consult GmbH: Nutzen-Kosten-Untersuchung
2. S-Bahn-Stammstrecke München 2025) bereits überprüfen lassen, und mit
welchem Ergebnis?
Hält die Bundesregierung diese Studie für glaubwürdig, und wenn ja, wa-
rum?

17. Warum wurde für die aktuelle Bewertung nur die vorgeschlagene zweite
Stammstrecke in der Form des Tunnels unter der Stadt herangezogen und
kein aktueller Vergleich mit anderen Projekten (z. B. Ausbau des vorhande-
nen Südrings mit realistischen Kostenannahmen) durchgeführt, die voraus-
sichtlich mit deutlich geringeren Kosten einen erheblich größeren Nutzen
hätten erzeugen können?

18. Was geschieht in diesem konkreten Fall, falls die Kosten stärker ansteigen
als angenommen und damit das NKV letztlich noch weit deutlicher unter ei-
nen Wert von 1,0 oder im Extremfall wegen des zu erwartenden überwiegen-
den Schadens sogar unter 0 sinkt?

19. Wie berechnen sich nach Kenntnis der Bundesregierung Reisezeitänderun-
gen?
Kann ein Ausweis der Reisezeitänderungen nur für den gesamten Untersu-
chungsraum oder auch für einzelne Haltestellen o. Ä. vorgenommen werden
(bitte begründen)?

20. Sieht das Standardisierte Bewertungsverfahren nach Kenntnis der Bundesre-
gierung tatsächlich keinen gesonderten Zuschlag beim ersten Umsteigen vor,
wie die Bayerische Staatsregierung in einer parlamentarischen Anfrage (vgl.
Drucksache des Bayerischen Landtags 17/6995 vom 3. Juli 2015) behauptet
hat (bitte Quelle angeben)?

21. Sind die Reisezeitsalden in der Standardisierten Bewertung von 2016 (Intra-
plan Consult GmbH: Nutzen-Kosten-Untersuchung 2. S-Bahn-Stammstre-
cke München 2025) nach Kenntnis der Bundesregierung plausibel?

22. Wie erklärt sich nach Kenntnis der Bundesregierung die extreme Differenz
bei den Reisezeitsalden zwischen der Standardisierten Bewertung von 2016
(vgl. Intraplan Consult GmbH: Nutzen-Kosten-Untersuchung 2. S-Bahn-
Stammstrecke München 2025) und der Studie von Vieregg-Rössler (vgl.
www.tunnelaktion.de/Start-Folder/Pressemitteilungen/150720%20VR-
Reisezeit-Kurzfass-2ter-Bericht-08-07-15.pdf) – ungeachtet des Umstandes,
dass letztere auf ältere Zahlen beruht als erstere?

23. Hat die Bundesregierung aus den sich fortsetzenden erheblichen Kostenstei-
gerungen und technischen Problemen des Projekts „Stuttgart 21“ trotz ge-
genteiliger Beteuerungen des Bauträgers DB AG Konsequenzen gezogen?
Wenn ja, welche?

24. Sieht die Bundesregierung Parallelen zwischen der zweiten Stammstrecke in
München, die als Idee im Rahmen der inzwischen begrabenen Planungen für
„München 21“ entstand und „Stuttgart 21“ – in Anbetracht der Tatsache, dass
es sich bei beiden Projekten um technisch komplexe Bauten unterhalb einer
Stadt mit erheblichen Risiken handelt?

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25. Hat die Bundesregierung bei der Entscheidung für die Förderung des Pro-

jekts zweite Stammstrecke berücksichtigt, dass dieses Projekt Mittel in Mil-
liardenhöhe bindet und damit andere, möglicherweise sehr viel notwendigere
Bauprojekte für den öffentlichen Verkehr auf viele Jahre hinweg erschwert
oder gar unmöglich gemacht werden (bitte begründen)?

Berlin, den 8. März 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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