BT-Drucksache 18/10969

Angleichung der Entschädigungsleistungen für NS-Opfer

Vom 24. Januar 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10969
18. Wahlperiode 24.01.2017
Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Dr. André Hahn, Jan Korte,
Petra Pau, Martina Renner, Kersten Steinke, Azize Tank und der Fraktion
DIE LINKE.

Angleichung der Entschädigungsleistungen für NS-Opfer

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Regelungen zur Entschädigung für Verfolgte des Naziregimes entsprechen aus
heutiger Sicht nicht den politischen und moralischen Erfordernissen. Die in den 1950er
und 1960er Jahren vorherrschende Anerkennungspraxis für NS-Opfer und die Schlie-
ßung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) im Jahr 1969 haben dazu geführt, dass
zahlreiche Opfer des Naziregimes keine Leistungen nach dem BEG erhalten. Das gilt
beispielsweise für viele Homosexuelle, Opfer der Wehrmachtsjustiz, Kommunistinnen
und Kommunisten, Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte sowie Perso-
nen, die von den Nazis als sogenannte „Asoziale“ eingestuft worden waren. Auch Per-
sonen, die als Kinder aus ihrem Elternhaus bzw. ihren von Deutschland besetzten Her-
kunftsstaaten entführt wurden, um sie zwangsweise zu „germanisieren“, wurden nicht
als NS-Verfolgte anerkannt. Ausschlaggebend dafür waren Fehleinschätzungen des
Ausmaßes der politischen und „rassischen“ Verfolgung durch die Nazis und in gewis-
sem Maß auch ein Fortwirken der von ihnen radikalisierten rassistischen und diskri-
minierenden Weltbilder in den deutschen Amtsstuben.
Die Öffentlichkeit, die Behörden und auch der Deutsche Bundestag haben diese Hal-
tung ab den 1980er Jahren schrittweise korrigiert und in Hinsicht auf mehrere der oben
erwähnten Gruppen anerkannt, dass auch sie NS-Opfer waren. Da die legislativen Kor-
rekturen aber erst nach Schließung des BEG erfolgten, blieben die Betroffenen von
dessen Leistungskatalog weiterhin ausgeschlossen. In der Regel stehen ihnen allenfalls
Leistungen nach den Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG)
zu, die aber in ihrem Umfang weit hinter denjenigen des BEG zurückbleiben. Die Op-
fergruppe der „Zwangsgermanisierten“ wird bis heute auch nicht in den Härterichtli-
nien berücksichtigt.
Im Ergebnis werden die von den Härterichtlinien erfassten NS-Opfer bis heute ent-
schädigungsrechtlich schlechter behandelt als jene Verfolgten, die auf Grundlage des
BEG entschädigt werden. Die Unterstellung, die einen hätten ein weniger schweres
Verfolgungsschicksal gehabt als die anderen, entbehrt aber jeglicher Grundlage. Für
die Betroffenen wirkt sich das als Fortsetzung ihrer bereits im Dritten Reich erfahrenen
Diskriminierung aus.

Drucksache 18/10969 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Der Deutsche Bundestag hält diese Diskrepanz zwischen politischer Anerkennung und
entschädigungsrechtlichen Leistungen für die NS-Opfer für korrekturbedürftig.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Opfergruppe der „Zwangsgermanisierten“ als NS-Opfer im Sinne der Härte-
richtlinien des AKG anzuerkennen und

2. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine Angleichung der Leistungen für NS-
Verfolgte im Sinne der AKG-Härterichtlinien an die im BEG vorgesehenen Leis-
tungen vorsieht und folgende Grundsätze verfolgt:
a) Personen, die NS-Geschädigte im Sinne von § 1 der AKG-Härterichtlinien

sind, werden im Bereich der Leistungen mit NS-Verfolgten im Sinne von
§ 1 BEG gleichgestellt und haben im gleichen Umfang Anspruch auf Leis-
tungen, wie sie das BEG vorsieht,

b) die Regelungen gelten entsprechend § 1 Absatz 3 Nummer 1 BEG auch für
die Hinterbliebenen von Deserteuren, Homosexuellen, Euthanasie-Opfern,
als „Asoziale“ oder „Zigeuner“ Verfolgten, Zeugen Jehovas und allen ande-
ren Personengruppen, die ihr Leben aufgrund von Verfolgungspraktiken des
NS-Regimes verloren haben, die im Gesetz zur Aufhebung nationalsozialis-
tischer Unrechtsurteile und seiner zwei Änderungsgesetze als Ausdruck ty-
pischen NS-Unrechts erfasst wurden. Für die Hinterbliebenen dieser Perso-
nengruppen wird eine Gleichstellung im Leistungsbereich im Sinne des
BEG vorgenommen,

c) eine Verringerung der Leistungen von Personen, die derzeit laufende Leis-
tungen nach § 6 der AKG-Härterichtlinien beziehen, durch eine Neuberech-
nung ihrer Ansprüche ist ausgeschlossen (Günstigerprüfung),

d) die Leistungsträger sind zu aktiver Öffentlichkeitsarbeit aufgefordert, um
die betroffenen Personengruppen von der Neuregelung zu informieren,

e) die berechtigten Personen werden von Amts wegen über ihre Ansprüche in-
formiert. Anträge auf Leistungen können ohne Fristbegrenzung eingereicht
werden.

Berlin, den 24. Januar 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10969
Begründung

Bei der Umsetzung von Entschädigungsregelungen für NS-Opfer hat es in der Bundesrepublik Deutschland
schwerwiegende Fehler und Versäumnisse gegeben. Zahlreiche Personen, die von den Nazis verfolgt worden
waren, galten im Verständnis der frühen Bundesrepublik Deutschland als „gewöhnliche“ Kriminelle. Von dieser
diffamierenden Praxis waren etwa überlebende Sinti und Roma, Obdachlose, Homosexuelle, Deserteure,
Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte betroffen. Diesen Personengruppen wurden in der Regel Leis-
tungen nach dem BEG verweigert. Oftmals führte auch das politische Klima der 1950er und 1960er Jahre dazu,
dass sie auf eine Antragstellung von vornherein verzichteten, weil eine Offenlegung ihrer Verfolgteneigenschaf-
ten nur eine weitere Stigmatisierung nach sich gezogen hätte. Dazu kam, dass in Behörden und Arztpraxen häufig
noch das gleiche Personal Dienst tat, welches bereits für die Verfolgungspraxis im Dritten Reich verantwortlich
war. Markant hierfür ist etwa die Tatsache, dass der Deutsche Bundestag bei einer Anhörung zur Entschädigung
von Zwangssterilisierten und Euthanasie-Geschädigten im Wiedergutmachungsausschuss noch im Jahr 1961 Me-
diziner als Sachverständige lud, die während der Nazi-Herrschaft an Verbrechen im Namen der „Rassenhygiene“
beteiligt waren. Der Deutsche Bundestag hat es darüber hinaus über Jahrzehnte hinweg versäumt, andere Opfer-
gruppen als solche zu würdigen. Im Parlament, in der Justiz wie auch in der Gesellschaft galten Deserteure als
„Drückeberger“, Sinti und Roma als „Kriminelle“ oder „Asoziale“, Homosexuelle als „Perverse“ usw.
Als sich seit Ende der 1960er Jahre das politische Klima wandelte und die Verfolgten im öffentlichen Bewusst-
sein auch als Verfolgte wahrgenommen wurden, war es für eine Antragstellung nach dem BEG zu spät, da seit
1969 keine Neuanträge mehr gestellt werden können.
Der Deutsche Bundestag hat zwar u. a. durch die Gesetze zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile
in der Strafrechtspflege zahlreiche Opfer von Unrechtsurteilen rechtlich und politisch rehabilitiert, die bis dahin
nicht als Verfolgte anerkannt waren. Diese Entwicklung korrespondiert mit den Härterichtlinien des AKG, die
seit den 1980er Jahren Leistungen für NS-Verfolgte vorsehen, die keine Leistungen nach dem BEG beantragen
konnten. Von einer Gleichstellung im Leistungsbereich kann aber nicht annähernd gesprochen werden.
Die AKG-Härterichtlinien sehen vor allem einmalige Beihilfen in Höhe von derzeit 2554,46 Euro vor, in wenigen
Ausnahmen auch monatliche Leistungen. Diese betragen 320 Euro (nach § 5 der Härterichtlinien) bzw. im Schnitt
441 Euro (nach § 6) (vgl. BT-Drs. 18/6719). Die durchschnittlichen Rentenzahlungen des BEG belaufen sich
hingegen auf rund 651 Euro. Zudem konnten die Berechtigten nach BEG Entschädigung für Vermögensverluste,
Umschulungsbeihilfen, Nachteile beim beruflichen Fortkommen, Kostenerstattung für Heilverfahren inklusive
Verdienstausfall und Hinterbliebenenversorgung beziehen, während die Härterichtlinien solche Leistungen nicht
vorsehen. Die Berücksichtigung von Hinterbliebenen, die im BEG ausdrücklich vorgesehen ist, ist bei den AKG-
Härterichtlinien bis auf wenige Ausnahmen ausgeschlossen.
Mit den Leistungen des AKG sind die betroffenen Opfergruppen daher bis heute weit schlechter gestellt als die
Bezieher von BEG-Leistungen, und insofern bleiben sie auch bis heute weiterhin diskriminiert.
Eine vollständige Korrektur dieser Fehlentscheidungen ist heute nicht mehr möglich, schon weil die meisten
potentiell Berechtigten mittlerweile verstorben sind. Die Gleichstellung der noch Lebenden im Leistungsbereich
ist aber überfällig. Eine solche erwarten auch die Hinterbliebenen der von den Nazis ermordeten oder infolge
ihrer Verfolgungsmaßnahmen ums Leben gekommenen NS-Opfer, wie etwa Euthanasie-Geschädigte.
Neu in den Katalog der AKG-Härterichtlinien aufzunehmen sind außerdem die sog. Zwangsgermanisierten, die,
obwohl sie der rassistischen NS-Politik zum Opfer gefallen sind, bis heute keinerlei Entschädigungen aus Bun-
desmitteln erhalten haben.
Zur Identifizierung des berechtigten Personenkreises sind die Leistungsträger zu aktiver Öffentlichkeitsarbeit
aufgefordert. Zu den vordringlichen Maßnahmen gehört die Ansprache all jener, die in der Vergangenheit Ein-
malzahlungen nach den Härterichtlinien des AKG erhalten haben.
Die Neuberechnung soll nur auf Antrag erfolgen, da im Einzelfall ein hoher bürokratischer Aufwand erforderlich
sein könnte, etwa um die während der Naziherrschaft entstandenen Vermögensverluste, entgangene Umschu-
lungsbeihilfen usw. zu errechnen bzw. nachzuweisen.

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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