BT-Drucksache 18/10833

Interpretation eines Gerichtsurteils zu "Racial profiling" durch die Bundesregierung

Vom 11. Januar 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10833
18. Wahlperiode 11.01.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Martina Renner, Dr. Petra Sitte,
Kersten Steinke und der Fraktion DIE LINKE.

Interpretation eines Gerichtsurteils zu „Racial profiling" durch die
Bundesregierung

Die Fraktion DIE LINKE. hatte das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG)
Koblenz vom 21. April 2016 (Az. 7 A 11108/14. OVG) zum Anlass für eine
Kleine Anfrage genommen, mit der die aus diesem Urteil folgenden Umsetzungs-
schritte für die Kontrollpraxis der Bundespolizei erfragt werden sollten.
In der Vorbemerkung der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 18/9374
führte die Bundesregierung bei ihrer Beantwortung aus, sie bleibe bei ihrer
Rechtsauffassung, ein unzulässiges Racial profiling liege „nur dann“ vor, „wenn
die Hautfarbe oder die ethnische Zugehörigkeit das einzige oder das tatsächlich
ausschlaggebende Kriterium für eine polizeiliche Maßnahme ist“. Auch das OVG
Koblenz habe dies mit Bezug auf Artikel 14 der Europäischen Menschenrechts-
konvention (EMRK) festgestellt.
Das OVG Koblenz hat jedoch in der genannten Entscheidung, worauf die Frage-
steller der Kleinen Anfrage abstellten, festgestellt, dass eine verbotene Diskrimi-
nierung nach Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) „nicht erst“ dann
vorliegt, „wenn die Ungleichbehandlung ausschließlich oder ausschlaggebend an
eines der dort genannten Merkmale anknüpft, sondern bereits dann, wenn bei ei-
nem Motivbündel ein unzulässiges Differenzierungsmerkmal ein tragendes Kri-
terium unter mehreren gewesen ist“ (achter Leitsatz des Urteils). Die hieran an-
knüpfenden Fragen 1, 2, 3, 4, 5, 7, 9 und 11 auf Bundestagsdrucksache 18/9374
blieben infolge der unterschiedlichen Interpretation des Urteils nach Auffassung
der Fragesteller weitgehend unbeantwortet.
Mit der Schriftlichen Frage 10 auf Bundestagsdrucksache 18/10095 vom 5. Ok-
tober 2016 wollte die Abgeordnete Ulla Jelpke Auskunft zur widersprüchlichen
Interpretation des Urteils und zudem eine Nachbeantwortung der konkret genann-
ten Fragen in Auseinandersetzung mit dem achten Leitsatz des Urteils erhalten.
In der Antwort der Bundesregierung wurde jedoch behauptet, ein Widerspruch
sei nicht erkennbar. Die Bundesregierung habe sich in der genannten Vorbemer-
kung „zur Auffassung des OVG Koblenz zu Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 GG“ nicht
geäußert – wozu sie allerdings befragt worden war –, sie habe sich vielmehr „auf
die Rechtslage nach Völkerrecht“ bezogen.
In einem Beschwerdeschreiben vom 17. Oktober 2016 zu dieser Antwort wies die
Fragestellerin Ulla Jelpke darauf hin, dass die Bundesregierung dem Urteil des
OVG Koblenz in der genannten Vorbemerkung auf Bundestagsdrucksache
18/9374 einen falschen Inhalt unterstellt habe. Denn in dem Urteil argumentiert
das Gericht an keiner Stelle, wie von der Bundesregierung behauptet, damit, dass

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nach Artikel 14 EMRK ein Racial profiling „nur dann“ vorliege, wenn „die Haut-
farbe das alleinige bzw. das ausschlaggebende Kriterium für eine polizeiliche
Maßnahmen ist“. Zwar gibt es eine entsprechende Bezugnahme auf die Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in einer
Klammerbemerkung in der Urteilsbegründung (in Punkt II., 3. B), doch der Satz
lautet (ohne die Klammer): „Mithin handelt es sich nicht erst um einen Eingriff
in Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 GG, wenn die Ungleichbehandlung ausschließlich
oder ausschlaggebend an eines der dort genannten Merkmale anknüpft […], son-
dern bereits dann, wenn bei einem Motivbündel ein unzulässiges Differenzie-
rungsmerkmal ein tragendes Kriterium unter mehreren gewesen ist“. Das OVG
Koblenz argumentiert nach Auffassung der Fragesteller also zentral mit Artikel 3
Absatz 3 Satz 1 GG und gemessen an dieser Norm hat das Gericht eine Verlet-
zung des Diskriminierungsverbots in der Anwendung von § 22 Absatz 1a des
Bundespolizeigesetzes (BPolG) festgestellt.
Die Bundesregierung erklärte in der Antwort auf die Schriftliche Frage in allge-
meiner Form, es bestehe „ausreichend Raum für eine in Einklang mit Artikel 3
Absatz 3 Absatz 1 GG stehende Anwendung des §22 Absatz 1a BPolG“. Das trifft
zu, sie ließ aber die konkreten Fragen dazu weiterhin unbeantwortet, wie sich dies
in der polizeilichen Kontrollpraxis umsetzen lässt – unter Berücksichtigung der
richterlichen Vorgabe, dass eine verbotene Diskriminierung nach Artikel 3 Ab-
satz 3 Satz 1 GG „nicht erst“ dann vorliegt, „wenn die Ungleichbehandlung aus-
schließlich oder ausschlaggebend an eines der dort genannten Merkmale an-
knüpft, sondern bereits dann, wenn bei einem Motivbündel ein unzulässiges Dif-
ferenzierungsmerkmal ein tragendes Kriterium unter mehreren gewesen ist“.
Gegen das Urteil des OVG Koblenz wurde keine Revision eingelegt (Bundestags-
drucksache 18/9374, Antwort zu Frage 11). Umso wichtiger ist eine Klärung der
Auslegung des rechtsverbindlichen Urteils und der sich daraus ergebenden Fol-
gen, insbesondere für die Bundespolizei.
Auf Bundestagsdrucksache 18/10341 erklärte die Bundesregierung zu Frage 5,
dass auch das Urteil des OVG Koblenz in der Aus- und Fortbildung der Bundes-
polizei „praxisorientiert vermittelt“ werde. Dabei merkte die Bundesregierung an,
dass in dem Urteil darauf hingewiesen werde, „dass sich der verfassungsgericht-
lichen Rechtsprechung keine eindeutige Linie entnehmen lasse, unter welchen
qualitativen Voraussetzungen eine verbotene Diskriminierung ‚wegen‘ der in Ar-
tikel 3 Absatz 3 Satz 1 GG genannten Merkmale angenommen werde“.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Ist es zutreffend, dass es sich bei dem Urteil des OVG Koblenz vom 21. April

2016 (Az. 7 A 11108/14. OVG) um ein rechtskräftiges Urteil handelt und
keine Rechtsmittel eingelegt wurden (wenn nein, bitte begründen)?

2. Ist es zutreffend, dass das Urteil des OVG Koblenz mithin von der Bundes-
polizei umzusetzen und in der Behördenpraxis zu beachten ist (wenn nein,
bitte begründen)?

3. Ist es zutreffend, dass im achten Leitsatz des Urteils bestimmt wird, dass eine
verbotene Diskriminierung nach Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 GG „nicht erst“
dann vorliegt, „wenn die Ungleichbehandlung ausschließlich oder ausschlag-
gebend an eines der dort genannten Merkmale anknüpft, sondern bereits
dann, wenn bei einem Motivbündel ein unzulässiges Differenzierungsmerk-
mal ein tragendes Kriterium unter mehreren gewesen ist“ (wenn nein, bitte
begründen)?

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4. Wie wird dieser konkrete achte Leitsatz des Urteils in der Kontrollpraxis der
Bundespolizei umgesetzt, welche Vorgaben gibt es hierzu in Form von Wei-
sungen usw., welche konkreten Hinweise werden hierzu in der Aus- und
Fortbildung der Bundespolizei gemacht (bitte jeweils im Einzelnen auflis-
ten)?

5. Welche Sanktionen sind innerhalb der Bundespolizei geregelt, wenn es in
der Kontrollpraxis zu einer Anknüpfung an eines der in Artikel 3 Absatz 3
Satz 1 GG genannten Merkmale kommt, und sei es als eines von mehreren
tragenden Motiven (bitte ausführen und begründen, falls es keine entspre-
chenden Sanktionierungen geben sollte)?

6. Richtet sich die Bundesregierung nach diesem achten Leitsatz des Urteils des
OVG Koblenz (wenn nein, bitte begründen), und was hat sie zur effektiven
Beachtung dieses Leitsatzes in der bundespolizeilichen Kontrollpraxis unter-
nommen (bitte im Einzelnen auflisten)?

7. Warum ist die Bundesregierung in ihrer Vorbemerkung auf Bundestags-
drucksache 18/9374 nicht auf diesen achten Leitsatz des Urteils eingegangen,
obwohl sich die Fragesteller darauf zentral bezogen hatten, und warum hat
sie stattdessen ihre dem entgegenstehende Rechtsauffassung bekräftigt, die
aus Artikel 14 EMRK folge, die aber dem in Bezug genommenen achten
Leitsatz des Urteils diametral entgegensteht (bitte ausführen)?

8. Wie lauten die umfassenden Antworten zu den Fragen 1, 2, 3, 4, 5, 7, 9 und
11 auf Bundestagsdrucksache 18/9374, wenn der achte Leitsatz des Urteils
des OVG Koblenz berücksichtigt wird, wonach eine verbotene Diskriminie-
rung nach Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 GG „nicht erst“ dann vorliegt, „wenn die
Ungleichbehandlung ausschließlich oder ausschlaggebend an eines der dort
genannten Merkmale anknüpft, sondern bereits dann, wenn bei einem Mo-
tivbündel ein unzulässiges Differenzierungsmerkmal ein tragendes Krite-
rium unter mehreren gewesen ist“, und inwieweit sieht die Bundesregierung
inzwischen die Notwendigkeit für eine Anpassung der Weisungslage inner-
halb der Bundespolizei, um klarzustellen, dass die Hautfarbe auch keines un-
ter mehreren tragenden Kriterien für eine Polizeimaßnahme sein darf (bitte
begründen)?

9. Wie ist der aktuelle Stand des gegen Deutschland anhängigen Vertragsver-
letzungsverfahrens wegen unzulässiger Kontrollen (Nr. 20144130), und was
bedeutet es, wenn die Bundesregierung zu Frage 9 auf Bundestagsdrucksa-
che 18/8037 erklärt, der Erlass zur Anwendung von § 23 Absatz 1 Nr. 3
BPolG sei mit der Europäischen Kommission „konsentiert“, während die
Europäische Kommission in dem Verfahren des EuGH C-9/16 erklärte, dass
die interne Beurteilung der Frage, ob der Erlass inhaltlich genügend präzise
und ob die Veröffentlichung eines Erlasses ausreichend sei, noch nicht abge-
schlossen gewesen sei – ist diese interne Beurteilung der Europäischen Kom-
mission inzwischen abgeschlossen und wie ist sie gegebenenfalls ausgefallen
(auf Bundestagsdrucksache 18/9374 sind diese Fragen nach Auffassung der
Fragesteller zum Teil unbeantwortet geblieben, vgl. dort Frage 12)?

10. Wie viele Beschwerden nach den hier maßgeblichen Bestimmungen zu an-
lasslosen Kontrollen der Bundespolizei gab es im zweiten Halbjahr 2016,
wie wurde damit umgegangen, und welche Folgen hatten diese?

11. Welche aktuellen Änderungen gibt es in Bezug auf anhängige Gerichtsver-
fahren im Zusammenhang anlassloser Kontrollen (vgl. Antwort zu Frage 15
auf Bundestagsdrucksache 18/9374)?

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12. In welchem Umfang hat die Bundespolizei im Jahr 2016 von § 22 Absatz 1a,

§ 23 Absatz 1 Nummer 3 und § 44 Absatz 2 BPolG Gebrauch gemacht (bitte
nach Grenzgebiet, Inland und Flughäfen differenzieren und die Vergleichs-
werte für das Jahr 2015 nennen)?

13. Wie viele Feststellungen zu unerlaubter Einreise oder unerlaubtem Aufent-
halt, anderen Delikten, zur Sach- oder Personenfahndung (bitte jeweils dif-
ferenzieren) sind bei Maßnahmen nach § 22 Absatz 1a, § 23 Absatz 1 Num-
mer 3 oder § 44 Absatz 2 BPolG (bitte differenzieren, auch nach Inland,
Grenzgebiet, Flughäfen sowie nach Art des Fortbewegungsmittels der Kon-
trollierten) im Jahr 2016 gemacht worden, und welches waren dabei die 15
wichtigsten Hauptherkunftsländer (bitte auch die jeweiligen Vergleichsdaten
für das Jahr 2015 nennen)?

14. Wie viele Kontrollen gab es im Jahr 2016 an den EU-Binnengrenzen (bitte
nach Grenzgebiet differenzieren), wie viele Personen wurden dabei zurück-
gewiesen bzw. zurückgeschoben (bitte nach Grenzgebiet und zusätzlich nach
den 15 wichtigsten Herkunftsländern der Zurückgewiesenen bzw. Zurückge-
schobenen differenzieren; bitte auch soweit möglich differenzierte Angaben
zu den Gründen der Zurückweisung machen), wie viele Schutzsuchende wa-
ren darunter, und unter welchen genauen Bedingungen werden Schutzsu-
chende zurückgewiesen (bitte den Wortlaut der entsprechenden Regelung
bzw. Weisung angeben, insbesondere auch dazu, wie mit Personen umge-
gangen wird, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat ein Asylgesuch gestellt
haben)?

15. Welche Angaben lassen sich zu der Zahl der Verfahren und der Verurteilun-
gen und Strafen wegen unerlaubter Einreise/unerlaubten Aufenthalts für das
Jahr 2015 machen (bitte auch nach den 15 wichtigsten Herkunftsländern dif-
ferenzieren)?

16. Welche genaueren Angaben lassen sich zu der Zahl der Verfahren, der Ver-
urteilungen und Strafen wegen Schleusungsdelikten für das Jahr 2015 ma-
chen (bitte nach Staatsangehörigkeit, Art des Fortbewegungsmittels, Anteil
der bandenmäßigen Schleusung usw. differenzieren)?

Berlin, den 10. Januar 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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