BT-Drucksache 18/10292

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461 Nr. 1.5, 18/10056, 18/10235, 18/10236, 18/10280- Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften

Vom 9. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10292
18. Wahlperiode 09.11.2016
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth
Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner,
Kai Gehring, Tabea Rößner, Ulle Schauws, Doris Wagner, Beate
Walter-Rosenheimer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461 Nr. 1.5, 18/10056, 18/10235, 18/10236, 18/10280 –

Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher
und anderer Vorschriften

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an-
derer Vorschriften ist aufgrund der EU-Verordnung Nr. 536/2014 über klinische Prü-
fungen mit Humanarzneimitteln erforderlich geworden. Diese Verordnung gibt die Re-
geln für die Genehmigung, Durchführung und Überwachung von klinischen Prüfungen
europaweit vor. Wir sehen ebenfalls die Notwendigkeit, den Bereich der klinischen
Prüfungen europaweit zu harmonisieren, jedoch besteht am Gesetzentwurf noch er-
heblicher Nachbesserungsbedarf. Die geplanten Änderungen unterhöhlen den Schutz
besonders schutzbedürftiger Patientinnen und Patienten, können die Sicherheit von
Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmern gefährden und die Ethikkommissio-
nen und ihre Unabhängigkeit in Frage stellen.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich beim vorliegenden Gesetzentwurf Änderungs- und
Ergänzungsbedarf bei folgenden Punkten:
• Der Deutsche Bundestag ist sich der hohen Bedeutung klinischer Prüfungen für den

medizinischen Fortschritt im Dienste des Menschen und für den Forschungsstand-
ort Deutschland bewusst. Als wichtig erachtet der Deutsche Bundestag ebenso die
Forschung zur Prävention und Behandlung von Demenz in allen Stadien dieser Er-
krankung. Umso wichtiger ist es, den ethischen Kompass nicht zu verlieren und die
Sicherheit der Patientinnen und Patienten in den Vordergrund zu stellen.
Durch die geplanten Änderungen werden die hohen Schutzstandards, die es in
Deutschland bei klinischen Studien momentan für nicht einwilligungsfähige Er-

Drucksache 18/10292 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

wachsene gibt, insbesondere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner kör-
perlichen Unversehrtheit ausgehöhlt. Bisher ist eine sogenannte gruppennützige
Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen nach dem Arzneimittelrecht
ausgeschlossen. Dieses Verbot wird nun insoweit aufgeweicht, dass eine Teil-
nahme volljähriger Nichteinwilligungsfähiger auch ohne persönlichen Nutzen zu-
lassen wird, wenn die Betroffenen im früheren Zustand der Einwilligungsfähigkeit
mittels Vorausverfügung und nach einer ärztlichen Erklärung einer Teilnahme zu-
gestimmt haben. Betroffen davon werden vor allem Menschen mit neurodegenera-
tiven, beispielsweise dementiellen Erkrankungen, sein.
Diesem Vorhaben wird eine klare Absage erteilt. Bereits 2013 hat sich der Deut-
sche Bundestag (Drucksache 17/12183) dafür ausgesprochen, dass für diese Men-
schen das Schutzniveau zu erhalten ist. Von dieser Haltung darf nicht abgewichen
werden. Für den Deutschen Bundestag steht der umfassende Patientenschutz wei-
terhin an erster Stelle. Deswegen ist es ethisch bedenklich, wenn an Forschung
Menschen beteiligt werden, die nicht mehr in der Lage sind, das Risiko und den
Nutzen ihrer Teilnahme zu beurteilen, und dabei selbst keinen individuellen Vorteil
haben. Der Deutsche Bundestag hält es daher für zwingend geboten, im Hinblick
auf die Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen die jetzige Rechts-
lage in Deutschland beizubehalten.

• Auch die geplanten Eingriffe der Bundesregierung in die Arbeit der unabhängigen
Ethikkommissionen lehnen wir ab. Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung,
dass die Zuständigkeiten dieser in Deutschland sehr bewährten Kommissionen
nicht beschnitten werden dürfen. Die Genehmigung klinischer Studien muss wei-
terhin voll und ganz von dem Votum der Ethik-Kommissionen abhängen. Sie soll-
ten weiterhin vollumfänglich ihre Aufgabe erfüllen können, die Forschung in ethi-
scher und rechtlicher Hinsicht zu beraten, zu kontrollieren und zu beaufsichtigen
und so die Rechte und die Sicherheit der Probandinnen und Probanden im Sinne
der Deklaration von Helsinki zu schützen.
Mit den geplanten Änderungen werden die Ethikkommissionen erheblich ihrer Un-
abhängigkeit und ihrer Steuerungsmöglichkeiten im Bewertungsverfahren beraubt.
Künftig soll es dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
möglich sein, mit einer entsprechenden Begründung von dem Votum der Ethik-
kommissionen abzuweichen und sich bei der Zulassung einer Studie über ihre Stel-
lungnahmen und Entscheidungen hinwegzusetzen.
Mit der direkten Einrichtung der geplanten Bundes-Ethik-Kommission durch die
Bundesoberbehörde versucht die Bundesregierung, alle bisherigen Ethikkommis-
sionen auf Landesebene überflüssig zu machen. Die Bundes-Ethik-Kommission
würde nicht über die gleiche Unabhängigkeit verfügen wie die bestehenden Ethik-
Kommissionen.

• Auch dem Vorschlag der Bundesregierung, die Fernbehandlung und Fernverschrei-
bung zu verbieten, stimmt der Deutsche Bundestag nicht zu. Ein solches Verbot ist
nicht zeitgemäß und nicht im Sinne der Patientinnen und Patienten. Das Verbot ist
sowohl mit der EU-Richtlinie zur Ausübung der Patientenmobilität (Richtli-
nie 20011/24/EU vom 9. März 2011) als auch mit neuen Versorgungskonzepten
auf Basis telemedizinischer Angebote nicht vereinbar. Ein gesetzliches Verbot der
Fernbehandlung und Fernverschreibung widerspricht dem Ziel der Bundesregie-
rung, sowohl die wohnort- und patientennahe als auch die sektorenübergreifende
Versorgung unter Zuhilfenahme digitaler Dienste zu fördern, wie z. B. die Online-
Videosprechstunde, die laut geltendem E-Health-Gesetz ab Juli 2017 in die ver-
tragsärztliche Versorgung aufgenommen werden soll.
Der Deutsche Bundestag ist davon überzeugt, dass anstelle des Verbotes eine re-
gulierte Zulassung der Fernbehandlung und Fernverschreibung darüber hinaus
auch Möglichkeiten bietet, Versorgungsdefizite im ländlichen Raum zumindest zu

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10292

mindern. Die Fernbehandlung darf dabei selbstverständlich nicht als vollständiger
Ersatz für den direkten Arzt-Patienten-Kontakt betrachtet werden, sondern als eine
sinnvolle Ergänzung für bestimmte Patientengruppen- und Behandlungskonstella-
tionen. Ausgeschlossen werden muss die Fernbehandlung etwa bei Notfällen oder
akuten Schmerzen und in der Versorgung von Kindern oder Schwangeren.
Für eine patientensichere Implementierung und Regulierung der Fernbehandlung
und Fernverschreibung ist es außerdem absolut notwendig, dass bei der Entschei-
dung darüber die Patientenorganisationen, die Verbraucherzentrale und die medi-
zinischen Fachkreise beteiligt werden.

Aufgrund der Meldungen in der Presse zur intransparenten Durchführung von soge-
nannten Anwendungsbeobachtungen (AWB) ist es unverständlich, warum der Gesetz-
entwurf hier keine Änderungen vorsieht. Langzeitbeobachtungen von Medikamenten
und Therapien sind im Grundsatz sinnvoll, um die Wirkungsweise, aber auch die Ne-
benwirkungen und damit den Nutzen und die Risiken für die Patientinnen und Patien-
ten abschätzen zu können. Bisher werden systematisch nur Studien zur Zulassung und
zum Zusatznutzen bei Markteinführung in Deutschland erstellt. Das derzeitige Verfah-
ren einzelner Studien mit finanziellen Anreizen für die teilnehmenden Ärztinnen und
Ärzte im Auftrag der herstellenden Pharmaunternehmen ist jedoch korruptionsanfäl-
lig. Daran haben auch die in den letzten Jahren eingeführten Meldepflichten nichts
geändert. Die Studien sind nach wie vor intransparent, besonders in Bezug auf die be-
teiligten Ärztinnen und Ärzte und auf die mögliche Beeinflussung ihres Verschrei-
bungsverhaltens. Zuletzt hat eine gemeinsame Recherche von correctiv, NDR, WDR
und Süddeutscher Zeitung aufgezeigt, in welchem Ausmaß Pharmaunternehmen mit
Hilfe von AWB Einfluss auf Ärztinnen und Ärzte nehmen (http://www.sueddeut-
sche.de/gesundheit/arzneimittel-millionengeschaeft-mit-pseudo-studien-wie-pharma-
firmen-aerzte-beeinflussen-1.2898741). Ebenfalls unzureichend ist bisher die Aufklä-
rungspflicht gegenüber den Patientinnen und Patienten geklärt. Die Bundesregierung
ist bisher nicht gewillt, diese Lücke zu schließen und zur Steigerung der Transparenz
bei der Durchführung von Anwendungsbeobachtungen sowie zur Gewährleistung der
Patientensicherheit beizutragen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der

1. gruppennützige Forschung
a) von den im Rahmen der EU Verordnung eingeräumten Möglichkeiten, stren-

gere Schutzregelungen in den nationalen Gesetzen vorzunehmen, Gebrauch
macht und die jetzige strengere Regelung beibehält, die gruppennützige Studien
mit nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen ausschließt, wenn für sie kein in-
dividueller Nutzen zu erwarten ist;

b) grundsätzlich das in Deutschland bestehende und grundrechtlich gebotene
Schutzniveau für Prüfungsteilnehmerinnen und Prüfungsteilnehmer, insbeson-
dere für Minderjährige sowie für nicht einwilligungsfähige erwachsene Patien-
tinnen und Patienten aufrechterhält;

2. Ethik-Kommissionen und Bundes-Ethik-Kommission
a) regelt, dass die Genehmigung klinischer Studien von der positiven, bindenden

Stellungnahme der zuständigen, interdisziplinären, unabhängigen Ethik-Kom-
mission abhängig bleibt. Dies gilt insbesondere für die Einbeziehung von nicht
einwilligungsfähigen Menschen. Diese Zuständigkeit darf nicht in die alleinige
Zuständigkeit der Bundesoberbehörde fallen;

http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/arzneimittel-millionengeschaeft-mit-pseudo-studien-wie-pharmafirmen-aerzte-beeinflussen-1.2898741
http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/arzneimittel-millionengeschaeft-mit-pseudo-studien-wie-pharmafirmen-aerzte-beeinflussen-1.2898741
http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/arzneimittel-millionengeschaeft-mit-pseudo-studien-wie-pharmafirmen-aerzte-beeinflussen-1.2898741
Drucksache 18/10292 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

b) die Einrichtung der Bundes-Ethik-Kommission nur nach Zustimmung des Bun-
desrates zulässt und regelt, dass diese zeitlich an tatbestandliche Voraussetzun-
gen befristet ermächtigt und registriert wird;

3. Fernbehandlung und Fernverschreibung
im Interesse der Patientinnen und Patienten reguliert. Gegenstand einer solchen
Regulierung wären insbesondere Qualitäts- und Datenschutzstandards für Anbieter
und für die Behandlung sowie der Ausschluss ungeeigneter Therapiefelder. Dabei
sind Patienten- und Verbraucherschutzorganisationen sowie medizinische Fach-
kreise, beispielweise durch die Entwicklung von krankheitsspezifischen Leitlinien,
zu beteiligen. Entsprechende haftrechtliche Regelungen müssen ebenfalls beachtet
werden;

4. Anwendungsbeobachtungen
festlegt, dass Anwendungsbeobachtungen mit zugelassenen Arzneimitteln immer
der Prüfung und Genehmigung durch das BfArM oder Paul-Ehrlich-Institut (PEI)
bedürfen. Vorab sollen die Patientinnen und Patienten über die Beteiligung an sol-
chen Studien aufgeklärt werden und für die Teilnahme ist ihre schriftliche Zustim-
mung einzuholen. Zur Erhöhung der Transparenz über die finanziellen Verbindun-
gen von Arzneimittelherstellern mit Ärztinnen und Ärzten bzw. Krankenhäusern
sollen die für die Anwendungsbeobachtungen zu erhebenden Daten in einer aus-
wertbaren elektronischen Form übermittelt werden. Das BfArM und PEI sollen die
ihnen vorliegenden Informationen zeitnah in einer gemeinsamen Datenbank veröf-
fentlichen. So würde z. B. Patientinnen und Patienten die Suche nach einzelnen
Leistungserbringern ermöglicht. Das BfArM oder PEI haben die ihnen gemeldeten
Informationen auszuwerten und zu veröffentlichen. Bei Verstoß gegen diese
Grundsätze sind Sanktionen vorzusehen.

Berlin, den 8. November 2016

Kathrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.