BT-Drucksache 18/10013

Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika unterstützen - Absetzung der Präsidentin Brasiliens missbilligen

Vom 18. Oktober 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10013
18. Wahlperiode 18.10.2016
Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Jan van Aken, Christine
Buchholz, Sevim Dağdelen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Inge Höger,
Andrej Hunko, Katrin Kunert, Stefan Liebich, Niema Movassat, Dr. Alexander
S. Neu, Dr. Petra Sitte, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika unterstützen –
Absetzung der Präsidentin Brasiliens missbilligen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Treffen der Außenminister der Europäischen Union (EU) und der Gemeinschaft
der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) am 25./26. Oktober
2016 in Punta Cana (Dominikanische Republik) findet in einem auf beiden Seiten stark
bewegten politischen Umfeld statt. Sowohl Europa als auch Lateinamerika gehen
durch turbulente Zeiten. Brexit, Euro-Krise und die Auseinandersetzungen über den
Umgang mit Geflüchteten spalten und erschüttern die EU und befördern das Aufkom-
men rechtspopulistischer und rechtsextremer Strömungen. In Lateinamerika nehmen
die Auseinandersetzungen um den politischen Kurs, insbesondere um die Wirtschafts-
und Sozialpolitik, zu und werden immer schonungsloser ausgetragen.
Nach einer langen Phase fortschrittlicher Regierungen, die immer wieder in Wahlen
bestätigt worden waren, gelingt es den alten Eliten Lateinamerikas zunehmend, an die
politische Macht zurückzukehren. Wo sie dabei nicht auf das demokratische Votum
der Bevölkerung hoffen können, setzen sie auf Destruktion. Von Beginn an waren die
linken Regierungen Lateinamerikas permanent der Bedrohung durch Sabotage bis hin
zu Putschen ausgesetzt. Der Bundestag erinnert an den Militärputsch in Honduras
(2009) und den parlamentarischen Putsch in Paraguay (2012) sowie die fehlgeschla-
genen Putschversuche in Venezuela (2002) und Ecuador (2010).
Der EU-CELAC-Gipfel in Punta Cana ist nun überschattet von den Vorgängen in Bra-
silien. Dort wurde im September 2016 die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma
Rousseff in einem, wenn auch formal regelgerechten, offensichtlich politisch motivier-
ten Verfahren aus dem Amt entfernt, das demokratischen und rechtsstaatlichen
Grundsätzen hohnspricht. Sie selbst und ihre Arbeiterpartei (PT) sprechen von einem
Putsch. Viele Menschen protestierten gegen die Absetzung. Lateinamerikanische
Nachbarländer zogen ihre Botschafter zurück. Der Vorgang ist eine schwere Belastung
für den lateinamerikanischen Integrationsprozess. Die Absetzung der gewählten Prä-
sidentin stellt die sozialen Errungenschaften der vergangenen Jahre in Frage, droht
einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung politischer Korruption zu ziehen und stellt
sich als Bedrohung für die Menschenrechte in Brasilien dar.

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Die alten Eliten, die nun mit dem neuen, unter Korruptionsverdacht stehenden Präsi-
denten Michel Temer ohne Wahlen an die Macht zurückgekehrt sind, haben schnell
deutlich gemacht, dass sie, ohne sich dafür ein Mandat der Bevölkerung einzuholen,
einen drastischen Politikwechsel durchführen wollen.
Die Arbeiterpartei von Dilma Rousseff hatte im letzten Jahrzehnt mit Sozialprogram-
men mehr als 40 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer aus der Armut geholt. Die
ausschließlich weiße und männliche von Temer ernannte Regierung fühlt sich in kei-
ner Weise an das Wahlprogramm der gewählten Regierung gebunden, welches soziale
Rechte, kulturelle Diversität und gleiche Rechte für Frau und Mann garantierte. Temer
will beim Sozialetat sparen, so hat er als erstes das Ministerium für ländliche Entwick-
lung und das vorher eigenständige Ministerium für Frauen, Gleichstellung und Men-
schenrechte aufgelöst sowie das Kulturministerium zeitweise geschlossen. Temer will
mit einem umfassenden Privatisierungsprogramm ausländische Investoren in das Land
holen und brasilianisches Agrarland an ausländische Konzerne verkaufen. Dies hat ein
brasilianisches Gesetz unter Rousseff bislang verhindert. Die Arbeitnehmerrechte sol-
len eingeschränkt, das Rentenalter heraufgesetzt, der Mindestlohn gekürzt sowie die
verfassungsmäßige Verpflichtung aufgehoben werden, 18 Prozent der Steuergelder in
Bildung und 15 Prozent in Gesundheit zu investieren.
Die EU kann in ihren Beziehungen zu Brasilien die fehlende Legitimität dieses politi-
schen Abbaus sozialer Errungenschaften nicht ignorieren. Insbesondere darf der unde-
mokratische Machtwechsel von der EU nicht zum Anlass genommen werden, die Ver-
handlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Staatenbündnis
Mercosur, dem Brasilien angehört, nun beschleunigt voranzutreiben. Die freihandels-
kritische und antineoliberale Position von Dilma Rousseff ist in den letzten Präsident-
schaftswahlen klar bestätigt worden. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung
Temer hat sich noch keinem Votum der Wählerinnen und Wähler gestellt.
Auch in den anderen Mercosur-Mitgliedstaaten haben sich schwerwiegende politische
Veränderungen vollzogen und Krisen zugespitzt: In Venezuela stehen sich Regierung
und Opposition unversöhnlich gegenüber. Ein Abwahl-Referendum gegen den Präsi-
denten Nicolas Maduro wird vorbereitet, Hunderttausende demonstrieren für und ge-
gen die Regierung. Bedeutende Teile der Opposition schrecken dabei auch vor Gewalt
nicht zurück. Die politische Krise wird durch die wirtschaftliche Krise befeuert und
verstärkt diese zugleich. Auch in Venezuela ist davon auszugehen, dass ein Regie-
rungswechsel eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik, auch der Au-
ßenwirtschaftspolitik, zugunsten neoliberaler Konzepte und der Orientierung auf Frei-
handel mit sich bringen würde. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten nicht der Ver-
suchung erliegen, sich im Interesse des von ihnen angestrebten Freihandelsabkom-
mens in die inneren Auseinandersetzungen einzumischen oder gar die Opposition in
ihrem konfrontativen Kurs zu unterstützen. Sofern eine solche Unterstützung bereits,
etwa durch politische Stiftungen, gewährt wird, ist diese sofort zu unterlassen. Die
Drohung der übrigen vier Mercosur-Staaten, die Mitgliedschaft Venezuelas zu suspen-
dieren, ist nicht akzeptabel, ebenso wenig wie die bereits vollzogene regelwidrige Auf-
hebung der turnusgemäßen Präsidentschaft Venezuelas.
In Argentinien kam der Wechsel von einer linken zu einer rechten Regierung auf de-
mokratische Weise zustande. Allerdings werden die von der neuen Regierung unter
Präsident Macri vorgenommenen Weichenstellungen weg von einer wirtschaftlichen
Binnenorientierung und sozialem Ausgleich, hin zu neoliberaler Politik von massiven
Protesten begleitet und sind darauf angelegt, soziale Errungenschaften in Frage zu stel-
len und soziale Konflikte zuzuspitzen.
In Kolumbien kann sich die politische Situation wieder krisenhaft zuspitzen, selbst
eine Rückkehr zur Gewalt ist nicht ausgeschlossen, nachdem das Friedensabkommen,
das einen Schlussstrich ziehen sollte unter den 50-jährigen Bürgerkrieg, in einer
Volksabstimmung bei niedriger Wahlbeteiligung knapp abgelehnt wurde. Der Bun-
destag nimmt positiv zur Kenntnis, dass sowohl die kolumbianische Regierung als

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auch die Guerilla-Organisation FARC trotzdem an der vereinbarten Waffenruhe fest-
halten und einen neuen Anlauf für Friedensverhandlungen nehmen wollen. Die
Vergabe des Friedensnobelpreises an den kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel
Santos muss als Auftrag verstanden werden, den Friedensprozess fortzuführen.
Deutschland und die EU sollten alles dafür tun, damit das negative Votum nicht das
Ende des Friedensprozesses bedeutet. Kuba sollte Gastland der Friedensverhandlun-
gen bleiben und von anderen Ländern darin unterstützt werden. Die EU muss ihr Ver-
hältnis zu Kuba weiter verbessern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass sie die Absetzung der demokratisch ge-
wählten Präsidentin Brasiliens missbilligt;

– im Verhältnis zu Brasilien nicht zur Tagesordnung überzugehen, sondern gegen-
über der neuen Regierung darauf zu drängen, dass das brasilianische Volk über
den künftigen politischen Kurs befragt wird, etwa im Rahmen einer raschen Neu-
wahl deutlich vor dem Jahr 2018;

– gegenüber der Regierung des amtierenden Präsidenten Temer die Einhaltung von
Menschenrechten ebenso wie das Diskriminierungsverbot und die Gleichstellung
von Frau und Mann stark anzumahnen und den Abbau von sozialen Rechten zu
kritisieren;

– gegenüber der Regierung Temer jeglichen Verkauf von Land an ausländische Un-
ternehmen zu kritisieren;

– sich in der EU dafür einzusetzen, dass die Verhandlungen mit dem Mercosur über
ein Freihandelsabkommen ausgesetzt werden, solange es keine neue vom Volk
gewählte Regierung in Brasilien gibt;

– in den wirtschaftlichen Beziehungen zu den Mercosur-Staaten nicht auf Liberali-
sierung und Privatisierung, sondern auf inklusive wirtschaftliche und soziale Ent-
wicklung zu setzen;

– deutlich zu machen, dass der Mercosur für die EU nur ein Verhandlungspartner
sein kann, wenn alle Mitgliedstaaten darin ihre vollen Rechte wahrnehmen kön-
nen;

– deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass die demokratisch gewählte Regierung
Venezuelas von ihr vollständig als solche anerkannt und respektiert wird, und auf
jede Einmischung in die inneren Auseinandersetzungen in Venezuela zu verzich-
ten;

– sicherzustellen, dass die gewaltbereiten Teile der venezolanischen Opposition
keinerlei Unterstützung aus Deutschland und aus der EU erhalten;

– den kolumbianischen Friedensprozess auch nach dem Votum gegen den Frie-
densvertrag zu unterstützen;

– dabei dafür einzutreten, dass die zivilgesellschaftlichen Friedenskräfte den Pro-
zess mitgestalten und dabei ihre langjährigen Erfahrungen mit den Konfliktursa-
chen einbringen können;

– sich dafür einzusetzen, dass die EU das bilaterale Abkommen über Zusammenar-
beit und politischen Dialog mit Kuba schnellstmöglich abschließt und den nach
wie vor existierenden „Gemeinsamen Standpunkt“ von 1996 endgültig aufhebt.

Berlin, den 18. Oktober 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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