BT-Drucksache 17/9974

Neue Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt

Vom 13. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9974
17. Wahlperiode 13. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Josip Juratovic, Anette Kramme, Hubertus Heil (Peine),
Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Gabriele Hiller-Ohm, Angelika Krüger-Leißner,
Ute Kumpf, Gabriele Lösekrug-Möller, Katja Mast, Thomas Oppermann,
Anton Schaaf, Silvia Schmidt (Eisleben), Ottmar Schreiner, Dr. Frank-Walter
Steinmeier und der Fraktion der SPD

Neue Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Kurz gefasst

Menschen mit Migrationshintergrund haben zahlreichen Analysen zufolge nicht
die gleichen Chancen am Arbeitsmarkt wie Menschen ohne Migrationshinter-
grund. Dies muss sich ändern. Wir können es uns angesichts des demografisch
bedingten Rückgangs des Erwerbspersonenpotenzials nicht leisten, dass Talente
unentdeckt bleiben. Auch ist die Integration in den Arbeitsmarkt der zentrale
Hebel, um Teilhabe am ökonomischen, sozialen und kulturellen Leben zu er-
möglichen. Vorhandene Arbeitsmarktinstrumente müssen überdacht, um neue
ergänzt und Beratung und Vermittlung auf neue Füße gestellt werden.

Die strukturelle Diskriminierung am Arbeitsmarkt muss besser als bisher – auch
mit neuen Ansätzen – bekämpft werden. Unter Diskriminierungserfahrung leiden
sowohl Menschen, die auf der Suche nach Arbeit sind, als auch diejenigen, die er-
folgreich einen Arbeitsplatz gefunden haben. Von Diskriminierung sind nicht nur
Menschen mit Migrationshintergrund betroffen. Es trifft auch Ältere oder Frauen
mit Kindern. Sie alle haben laut Antidiskriminierungsstelle schlechtere Chancen,
zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Eine Studie der For-
schungsinstitute zur Zukunft der Arbeit GmbH (IZA) (vgl. IZA-Pressemittei-
lung vom 8. Februar 2010) zeigt, dass Bewerber mit türkischem Namen bei Stel-
len für hochqualifizierte Bewerber insgesamt 14 Prozent weniger positive
Antworten erhielten. Noch dramatischer ist nach den Ergebnissen der Studie die
Ungleichbehandlung in kleineren Unternehmen ausgeprägt. Dort hatten Bewer-
ber mit einem türkisch klingenden Namen um 24 Prozent geringere Chancen auf
ein Vorstellungsgespräch.

Die Ursachen für Schwierigkeiten in Schule und Beruf werden meist früh gelegt

Wichtige Ursachen für Schwierigkeiten in Schule und Beruf werden oftmals be-

reits im frühkindlichen Alter gelegt. Insgesamt kommen Kinder mit Migrations-
hintergrund seltener in den Genuss einer Betreuung außerhalb der Familie als
solche ohne Migrationshintergrund. Dies wiederum hat Auswirkungen auf den
Erwerb der deutschen Sprache. Fakt ist: In einem nennenswerten Umfang wird
im Elternhaus von Familien mit Migrationshintergrund nicht Deutsch gespro-
chen (vgl. Achter Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in
Deutschland, Bundestagsdrucksache 17/2400). Zentral für die Chancen im Bil-

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dungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungssystem ist aber gerade die vorhandene
Deutschkompetenz. Fehlt diese, so stellt dies eine entscheidende Integrations-
barriere dar (so Zimmermann u. a., Studie über die soziale Eingliederung und
Arbeitsmarktintegration ethnischer Minderheiten, IZA Research Report No. 16,
2008).

Jugendliche mit Migrationshintergrund haben es schwieriger bei ihrem Start ins
Berufsleben

Jugendliche mit Migrationshintergrund haben bei gleichen Qualifikationen ge-
ringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz als ihre Mitbewerber ohne Migra-
tionshintergrund (vgl. Berufsbildungsbericht 2008). Sie sind häufiger in un-
attraktiven Ausbildungssegmenten beschäftigt, finden sich nach der Schule
häufiger in einer Maßnahme des Übergangssystems wieder als Jugendliche ohne
Migrationshintergrund und sie profitieren in geringerem Umfang von diesen
Maßnahmen. Besonders benachteiligt sind Frauen mit Migrationshintergrund,
wenn es darum geht, einen Ausbildungsplatz zu erhalten (vgl. Bundesinstitut für
Berufsbildung – BIBB – 2009: „Übergänge in eine berufliche Ausbildung – Ge-
ringere Chancen für junge Menschen mit Migrationshintergrund. Von Chancen-
gleichheit keine Spur“; BIBB 2010: „Ausbildungsplatzsuche – Geringere Chan-
cen für junge Frauen und Männer mit Migrationshintergrund“). Jugendliche mit
Migrationshintergrund haben insgesamt stärkere Schwierigkeiten beim Über-
gang von einer allgemeinbildenden Schule in eine Berufsausbildung. Darüber
hinaus haben Jugendliche mit Migrationshintergrund erhöhten Unterstützungs-
bedarf während der Ausbildung und an der zweiten Schwelle beim Übergang
von der Ausbildung in den Beruf (vgl. hierzu Expertisen im Auftrag der Fried-
rich-Ebert-Stiftung e. V.: „Prekäre Übergänge vermeiden – Potenziale nutzen“,
Juli 2011 und „Notwendig, aber reformbedürftig“, Mai 2011).

Chancengleichheit macht nachhaltige Qualifizierungs- und Weiterbildungs-
anstrengungen erforderlich

Die Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer und damit auch an die von Menschen mit Migrationshintergrund steigen.
Weiterbildung und lebensbegleitendes Lernen gewinnen an Bedeutung. Fehlt
eine abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung, begünstigt dies Arbeits-
losigkeit und erschwert eine langfristig gesicherte Beschäftigung.

Für mehr Chancengleichheit am Arbeitsmarkt sind nachhaltige Qualifizierungs-
und Weiterbildungsinitiativen erforderlich. Daraus folgt, dass stärker in die
berufliche Qualifizierung von Arbeitslosen mit Migrationshintergrund investiert
werden muss. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der
Bundesagentur für Arbeit (Ausschussdrucksache 17(11)417 des Ausschusses
für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages) sind Ergänzungsqualifizie-
rungen oftmals auch dann notwendig, wenn Qualifikationen voll anerkannt sind,
um auf dem hiesigen Arbeitsmarkt angemessene Stellen zu finden. Die hervor-
gehobene Bedeutung der beruflichen Weiterbildung für die Verbesserung der
Beschäftigungschancen von Personen mit Migrationshintergrund ist auch Tenor
des Achten Berichtes über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in
Deutschland (Bundestagsdrucksache 17/2400). Diesbezügliche Beratungs-,
Informations- und Integrationsangebote müssen dem Bericht zufolge den beson-
deren Bedürfnissen des Personenkreises Rechnung tragen und vorzugsweise
auch in niedrigschwelliger Form organisiert sein. Die Bundesregierung räumt in
ihrem Bericht ein, dass die bisherige Förderung unzureichend ist.

Arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium, Beratung und Fallmanagement müs-
sen auf die Bedürfnisse von Menschen mit Migrationshintergrund ausgerichtet
werden
Viele Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten derzeit unter ihrem
Qualifikationsniveau bzw. können ihre Möglichkeiten nicht ausschöpfen. Ihre

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Potenziale müssen besser erschlossen werden. Klar ist: Gelingt es nicht, Men-
schen mit Migrationshintergrund einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt zu
erschließen, sind hohe volkswirtschaftliche Kosten das Ergebnis, weil einerseits
Steuern und Abgaben nicht oder nur in geringerem Umfang entrichtet werden
und andererseits verstärkt Transferzahlungen in Anspruch genommen werden
müssen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Insbesondere auch vor
dem Hintergrund eines steigenden Fachkräftebedarfs wird aus volkswirtschaft-
licher Perspektive auf Wertschöpfung verzichtet (für einen kurzen Überblick
hierzu vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Ungenutzte Poten-
ziale – Zur Lage der Integration in Deutschland, 2009).

In ihrer Studie „Wirkungen des SGB II auf Personen mit Migrationshintergrund,
Projekt IIa1 – 04/06“ (SGB II = Zweites Buch Sozialgesetzbuch) aus dem Jahr
2009 weisen das Institut Arbeit und Qualifikation, die Zentrum für Europäische
Wirtschaftsforschung GmbH und andere darauf hin, dass es an spezifischen För-
deransätzen für Migrantinnen und Migranten fehlt. Viele Grundsicherungsstel-
len betrachten den Untersuchungsergebnissen zufolge diesen Personenkreis
nicht als eigene Zielgruppe. Auch wird in der Studie bemängelt, dass in den Job-
centern der Anteil von mitarbeitenden Fachkräften mit eigenem Migrations-
hintergrund mit ca. 3 Prozent äußerst gering ist. Entscheidend sei auch, auf die
spezifische Situation der jeweiligen Gruppe von Menschen mit Migrationshin-
tergrund einzugehen. Innerhalb der Gruppe der Migranten gibt es große Unter-
schiede hinsichtlich des Förderbedarfs (vgl. Zimmermann u. a., Studie über die
soziale Eingliederung und Arbeitsmarktintegration ethnischer Minderheiten,
IZA Research Report No. 16, 2008; Existenzgründung von Migrantinnen und
Migranten, Schriftenreihe IQ, Band II, 2007). In den Agenturen und Jobcentern
müssen deshalb die interkulturellen Kompetenzen der Beratungsfachkräfte drin-
gend ausgebaut werden. Dazu gehören ein höherer Anteil von Beratungsfach-
kräften mit Migrationshintergrund ebenso wie interkulturelle Schulungen.

Menschen mit Migrationshintergrund müssen stärker als bisher in das Förderge-
schehen einbezogen werden. Ähnlich wie bei der Berufsausbildung müssen
Fort- und Weiterbildungen durch begleitende Hilfen unterstützt werden.

Passgenaue Unterstützung setzt auch voraus, dass verschiedene Träger ihre je-
weiligen Kompetenzen und Leistungen verbindlich miteinander verknüpfen. Es
müssen Netzwerkstrukturen aufgebaut und koordiniert werden, die die für eine
effektive Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Migrationshintergrund
relevanten Akteure wie Agenturen für Arbeit, Jobcenter, Kommunen, Schulen,
Unternehmen, Kammern, Verbände, Bildungsträger, Migrantenorganisationen
usw. umfassen. Hierzu sind entsprechende Ressourcen und ein Netzwerkma-
nagement notwendig (vgl. Integration durch Qualifizierung, IQ „Wege in den
Arbeitsmarkt, Integrationsangebote für Menschen mit Migrationshintergrund
regional gestalten und vernetzen“). Dabei ist es sinnvoll und notwendig, die Zu-
sammenarbeit der verschiedenen Akteure so zu gestalten, dass Hilfe und Unter-
stützung soweit wie möglich wie aus einer Hand erfolgen. Die Leistung muss
dem Menschen folgen und nicht der Mensch der Leistung.

So wie es ist, kann es nicht bleiben: Migrantinnen und Migranten stärker von Ar-
beitslosigkeit betroffen

Nach dem Mikrozensus 2010 haben rund 20 Prozent der Bevölkerung in
Deutschland einen Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt 2011,
Mikrozensus 2010, Bevölkerung mit Migrationshintergrund, Fachserie 1, Rei-
he 22). Knapp 8 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gelten im Sinne des
Grundgesetzes als Ausländer. Seit vielen Jahren ist die Arbeitslosenquote von
Ausländern etwa doppelt so hoch wie die von Deutschen. Während im März
2012 die Arbeitslosigkeit der Deutschen bei 6,5 Prozent lag, betrug sie bei
Ausländerinnen und Ausländern 15 Prozent. Besonders betroffen von Arbeits-

losigkeit sind Ausländer im Alter von 25 bis 50 Jahren und solche ohne abge-
schlossene Berufsausbildung. Auch werden Ausländerinnen und Ausländer

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häufiger als Geringqualifizierte beschäftigt als Deutsche und sind formal im
Durchschnitt weniger gut qualifiziert. Im Jahr 2008 hatten 37,5 Prozent der
25- bis 34-Jährigen mit Migrationshintergrund keinen beruflichen Abschluss.
In der gleichen Altersgruppe ohne Migrationshintergrund waren es hingegen
10,8 Prozent (vgl. Achter Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Aus-
länder in Deutschland, Bundestagsdrucksache 17/2400). Dabei besteht ein
enger Zusammenhang zwischen einem fehlenden schulischen Abschluss und
der Erlangung eines beruflichen Abschlusses. Scheitert der Schulabschluss,
dann scheitert auch die berufliche Integration (Wolfgang Seifert, Qualifikation
und Arbeitsmarktintegration der ersten und zweiten Generation am Beispiel
Nordrhein-Westfalens, Beiträge 2008 des Instituts für Migrationsforschung
und Interkulturelle Studien). Fehlt eine berufliche Ausbildung, ist der Zugang
zu einer qualifizierten beruflichen Position wesentlich erschwert. Arbeitslose
Ausländerinnen und Ausländer finden sich insgesamt mit einem Anteil von
80 Prozent häufiger in der Grundsicherung für Arbeitsuchende wieder als
Deutsche mit einem Anteil von 66,2 Prozent (vgl. Bundesagentur für Arbeit,
Analyse des Arbeitsmarktes für Ausländer, März 2012).

Der Anteil von im Ausland erworbenen, in Deutschland aber nicht anerkannten
Abschlüssen ist hoch. Dabei hängen die Beschäftigungschancen von Beziehern
von Arbeitslosengeld (ALG) II u. a. stark davon ab, ob eine im Ausland erwor-
bene Ausbildung anerkannt wurde (vgl. Martin Brussig, 2010, Migrant/innen im
ALG II-Bezug – weniger fit für den Arbeitsmarkt?).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

nach Maßgabe der nachfolgenden Anforderungen einen Gesetzentwurf vorzule-
gen und entsprechende Initiativen zu starten:

1. Diskriminierung beseitigen; Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse;

2. Arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium an den spezifischen Bedürfnissen
von Menschen mit Migrationshintergrund ausrichten; berufliche Deutschför-
derung stärken;

3. Beratung und Fallmanagement auf die Bedürfnisse von Menschen mit
Migrationshintergrund ausrichten.

Zu Nummer 1

• Bewerbungsverfahren sind entsprechend der Zielrichtung des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes anonymisiert durchzuführen, damit Bewerberin-
nen und Bewerber mit Migrationshintergrund bei Bewerbungen nicht von
vornherein von Vorstellungsgesprächen ausgeschlossen werden. Es sind die
notwendigen gesetzlichen Anpassungen vorzunehmen.

• Um Diskriminierung zu beseitigen, sollten im öffentlichen Dienst und in der
Privatwirtschaft verbindliche Zielvereinbarungen, die zum Inhalt haben, den
Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an den Beschäftigten zu
erhöhen, getroffen werden. Der öffentliche Dienst sollte hierbei eine Vor-
reiterrolle übernehmen.

• Änderung der mit dem Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und An-
erkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen vorgenommenen
rechtlichen Setzungen nach Maßgabe der in der Entschließung der Fraktion
der SPD formulierten Änderungsvorschläge (Ausschussdrucksache 17(18)199
des Ausschusses für Bildung und Forschung des Deutschen Bundestages).
Konkret:

Vorzusehen ist ein Rechtsanspruch auf Beratung der Betroffenen. Im Verfah-
ren zu erhebende Gebühren dürfen nicht zu einer sozialen Hürde werden. Es

sind Kostenobergrenzen und eine Härteklausel notwendig. Eine Feststellung
der Kompetenzen ausschließlich anhand der Papierlage ist unzureichend. In

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9974

das Gesetz muss für alle Berufe ein Anspruch auf Anpassungslehrgänge so-
wie auf Prüfungsvorbereitungsmaßnahmen aufgenommen werden. Vor allem
muss die Teilnahme an Ausgleichsmaßnahmen zur Erlangung der Gleichwer-
tigkeitsfeststellung finanziell ermöglicht werden. Die Bundesregierung wird
aufgefordert, ein Konzept zur Förderung vorzulegen, damit die Betroffenen
die Kosten für die Maßnahmen und ihren Lebensunterhalt finanzieren kön-
nen. Dafür kommt die Weiterentwicklung bestehender oder die Konzeption
neuer Instrumente in Betracht: Pflichtleistungen nach SGB III, Weiterbil-
dungskredite oder das Meister-BAföG (Bundesausbildungsförderungsgesetz).
Auf die Förderleistung besteht ein Rechtsanspruch ähnlich dem in dem Antrag
der Fraktion der SPD (Bundestagsdrucksache 17/6454) formulierten Rechts-
anspruch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die beispielsweise keine
berufliche Qualifikation haben und die in ihrem Unternehmen einen Berufs-
abschluss in der Tätigkeit erwerben wollen, die sie verrichten. Die Bundes-
länder sind aufgefordert, in Abstimmung miteinander Regelungen auf den
Weg zu bringen, die eine Vergleichbarkeit der Anerkennung gewährleisten.

Zu Nummer 2
• § 1 Absatz 2 Nummer 4 SGB III ist dahingehend zu erweitern, dass die

Förderung von Menschen mit Migrationshintergrund als ein Schwerpunkt
der Arbeitsförderung verankert wird, um die Ausbildungs- und Beschäf-
tigungsfähigkeit zu verbessern. Sie werden mindestens in dem Umfang in
Maßnahmen der Arbeitsförderung einbezogen, der ihrem Anteil an den
Arbeitslosen entspricht. Ergänzend hierzu ist die Steuerungslogik in den
Agenturen für Arbeit in der Form neu auszurichten, dass bei der Förderent-
scheidung eine Bestenauslese vermieden wird.

• § 1 Absatz 1 Nummer 3 SGB II ist dergestalt zu erweitern, dass die Leistun-
gen der Grundsicherung für Arbeitsuchende darauf ausgerichtet werden, dass
insbesondere auch migrationsspezifischen Nachteilen von erwerbsfähigen
Leistungsberechtigten entgegengewirkt wird, um die Ausbildungs- und Be-
schäftigungsfähigkeit zu verbessern. Sie werden mindestens in dem Umfang
in Maßnahmen der Arbeitsförderung einbezogen, der ihrem Anteil an den
Arbeitslosen entspricht. Ergänzend hierzu ist die Steuerungslogik in den Job-
centern in der Form neu auszurichten, dass bei der Förderentscheidung eine
Bestenauslese vermieden wird.

• Für Migrantinnen und Migranten wird in Anlehnung an das Programm
„Perspektive 50plus“ ein gesondertes Arbeitsmarktprogramm „Perspektive
MigraPlus“ geschaffen. Ziel ist es, innovative Ansätze für den Erwerb der
deutschen Sprache, z. B. das Erlernen von Sprache am Arbeitsplatz, zu finden
und bessere Qualifizierungs- und Fördermaßnahmen herauszuarbeiten. Im
Jahr 2012 stehen für dieses Programm zunächst 200 Mio. Euro zur Verfügung.

• Die Erfahrungen aus dem Programm „Integration durch Qualifizierung – IQ“
werden für alle Jobcenter und Agenturen für Arbeit zugänglich gemacht und
der arbeitsmarktpolitische Instrumentenkasten des SGB II und des SGB III
und damit die Regelförderung und die Umsetzung in der Praxis entsprechend
angepasst. Hierzu gehören z. B. die interkulturelle Sensibilisierung, Qualifi-
zierung und Begleitung des Personals der Jobcenter, der Agenturen für Arbeit
und der Beratungs- und Qualifizierungseinrichtungen (Diversity Manage-
ment), die kultursensible Ausgestaltung von Angeboten der Förderung der
beruflichen Weiterbildung und weiterbildungsbegleitende Hilfen, die Berück-
sichtigung der spezifischen Lebenslagen von Menschen mit Migrationshin-
tergrund, die Implementierung von niedrigschwelligen Zugangsmöglichkeiten
zu den einzelnen Arbeitsmarktinstrumenten, die Entwicklung entsprechender
Qualitätsstandards für Qualifizierungsangebote einschließlich berufsbezoge-

ner Deutschförderung und die Weiterentwicklung der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente für Gründer mit Migrationshintergrund.

Drucksache 17/9974 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

• Wer über keinen Schulabschluss verfügt, hat einen Rechtsanspruch auf För-
derung zum Nachholen eines Schulabschlusses. Ein niedrigschwelliger Zu-
gang außerhalb von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen wird ge-
währleistet. Dabei wird dem Grundverständnis Rechnung getragen, dass
Alphabetisierung und Grundbildung eine Voraussetzung zur dauerhaften In-
tegration in den Arbeitsmarkt sind.

• An Schulen, in der Berufsberatung und im Rahmen der Berufsorientierung
muss besser als in der Vergangenheit auf das gesamte Spektrum möglicher
Ausbildungsgänge aufmerksam gemacht werden, damit insbesondere auch
Jugendliche mit Migrationshintergrund sich nicht nur auf einige wenige Aus-
bildungen konzentrieren.

• Unternehmen müssen verstärkt dafür gewonnen werden, junge Menschen mit
Migrationshintergrund auszubilden. Die Erfahrungen erfolgreicher Pro-
gramme und Modellprojekte, insbesondere der Beratungsstellen zur Quali-
fizierung von Nachwuchskräften mit Migrationshintergrund (BQN), deren
Aufgabe es ist, die Akzeptanz für eine Berufsausbildung bei jungen Men-
schen mit Migrationshintergrund zu erhöhen und Ausbildungsbetrieben ge-
zielt geeignete Bewerber vorzuschlagen, müssen auf eine verlässliche Finan-
zierungsgrundlage gestellt werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass die
Selbstständigenquote von Menschen mit Migrationshintergrund steigt, müs-
sen durch gezielte Beratung mehr Arbeitgeber mit Migrationshintergrund als
bisher dazu ermutigt werden, Ausbildungsplätze anzubieten, und sie müssen
mit erfolgreichen Ausbildungskonzepten und den notwendigen Formalitäten
vertraut gemacht werden.

• Der Einsatz der Instrumente Einstiegsqualifizierung (§ 131 SGB III) und
berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (§ 51 SGB III) werden stärker als
bisher auf solche Jugendlichen konzentriert, die aus in ihrer Person liegenden
Gründen noch keine Ausbildung aufnehmen können, um unnötige Warte-
schleifen, in denen sich besonders häufig Jugendliche mit Migrationshinter-
grund wiederfinden, zu vermeiden. Die Förderinhalte werden so gestaltet,
dass sie den besonderen Bedürfnissen der betreffenden Jugendlichen Rech-
nung tragen und bei einer anschließenden Ausbildung auf die Ausbildungs-
zeit angerechnet werden können. Vorrang hat jedoch eine betriebliche oder
hilfsweise eine außerbetriebliche Ausbildung. Die Beratungsfachkraft wirkt
aktiv darauf hin, dass zunächst sämtliche Vermittlungsmöglichkeiten in eine
betriebliche oder hilfsweise in eine außerbetriebliche Ausbildung einschließ-
lich möglicher Unterstützungsmaßnahmen ausgeschöpft werden, und begrün-
det im Einzelfall, warum aus in der Person liegenden Gründen eine Vermitt-
lung nicht möglich ist.

• Die Möglichkeiten der ausbildungsbegleitenden Hilfen nach § 75 SGB III
sind stärker auf die Förderbedarfe von Jugendlichen mit Migrationshinter-
grund auszurichten, sodass diesen das Erreichen eines Ausbildungsabschlus-
ses besser als bisher ermöglicht wird. Es wird klargestellt, dass die Förderung
auch die Begleitung durch eine Mentorin bzw. einen Mentor umfasst. In
begründeten Ausnahmefällen muss eine Förderung im Anschluss an die Aus-
bildung auch länger als sechs Monate nach Begründung eines Arbeitsverhält-
nisses möglich sein.

• In Anlehnung an die ausbildungsbegleitenden Hilfen für Jugendliche werden
weiterbildungsbegleitende Hilfen für Erwachsene als Förderleistung im
SGB III verankert. Es wird hierbei sichergestellt, dass das berufsbezogene
Lernen mit sprachlichen Lernelementen verknüpft wird.

• § 59 SGB III (Förderungsfähiger Personenkreis Berufsausbildungsbeihilfe)
wird dahingehend angepasst, dass geduldete Ausländerinnen und Ausländer
nach § 60a des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht nur während einer

betrieblichen, sondern auch während einer außerbetrieblichen Ausbildung

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/9974

gefördert werden können. Es ist zu prüfen, wie § 59 SGB III und § 8 BAföG
dergestalt geändert werden können, dass in Anpassung an § 10 der Beschäf-
tigungsverfahrensverordnung eine Förderung diskriminierungsfrei bereits
nach einem Jahr möglich ist, wenn die betreffende Person sich rechtmäßig,
gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält.

• Gesetzliche Klarstellung, dass den Agenturen für Arbeit und den Jobcentern
auch Geduldeten nach § 60a AufenthG und Gestatteten nach § 55 AufenthG
gegenüber, denen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt
werden könnte, die Pflicht zu Information, Beratung und zum Angebot von
Ausbildungs- und Arbeitsvermittlung obliegt.

• Die Deutschförderung wird ausgebaut und die Ausstattung mit finanziellen
Mitteln des ESF-BAMF-Programmes (ESF = Europäischer Sozialfonds,
BAMF = Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) für Integrationskurse
gegenüber der laufenden Förderperiode wird erhöht. Dadurch wird für die
ESF-Förderperiode 2014 bis 2020 eine ausreichende Finanzierung der be-
rufsbezogenen Deutschförderung sichergestellt. Darüber hinaus ist die
Sprachvermittlung zum Erwerb berufsbezogener Deutschkenntnisse – auch
für Existenzgründerinnen und Existenzgründer, die im Rahmen von § 16c
SGB II (Leistungen zur Eingliederung von Selbständigen) oder von § 93
SGB III (Gründungszuschuss) gefördert werden – zu stärken und auf eine
stärker praxisbezogene Basis zu stellen. Das didaktische Konzept ist speziell
auf die Zielgruppe abzustellen. Gleichzeitig ist sie für ausländische Fach-
kräfte zu öffnen und stärker betrieblich zu verankern. Soweit passende För-
derangebote aus dem ESF-BAMF-Programm nicht zeit- und ortsnah zur Ver-
fügung gestellt werden können, sollen die Jobcenter Förderangebote im
Rahmen des § 16f SGB II (Freie Förderung) bzw. die Agenturen für Arbeit
im Rahmen des § 45 SGB III (Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen
Eingliederung) bereitstellen. Dabei ist § 45 Absatz 2 SGB III dahingehend
anzupassen, dass auch berufsbezogene Deutschkurse von mehr als acht Wo-
chen Dauer gefördert werden können. Sprachkurse werden bei Bedarf be-
schäftigungsbegleitend oder in Teilzeitform angeboten.

Zu Nummer 3

• Die Bundesregierung wird bis 31. Dezember 2012 dem Deutschen Bundestag
geeignete Vorschläge unterbreiten, durch neu gestaltete institutionelle Rah-
menbedingungen und organisatorische Strukturen und Verfahrensabläufe die
Information, Beratung und Unterstützung von Menschen mit Migrationshin-
tergrund unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus zu verbessern. Dabei ist
über Art und Umfang der Einbindung der Träger der Sozialversicherung und
der Jugendberufshilfe, von Kommunen, Schulen, Kammern, weiteren öffent-
lichen Stellen der verschiedenen föderalen Ebenen, Migrantenorganisationen
und anderen privat getragenen Einrichtungen und Initiativen sowie anderen
Stellen, die mit Arbeitsmarktfragen und mit Fragen der gesellschaftlichen
Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund befasst sind, in den neuen
institutionellen Rahmen und die neuen Strukturen und Verfahrensabläufe zu
entscheiden. Es ist auch zu klären, ob die Einrichtung einer gemeinsamen
Anlaufstelle der o. g. Institutionen zielführend ist. Zu entscheiden wäre in
diesem Zusammenhang über die institutionelle und organisatorische Veror-
tung einer solchen Anlaufstelle und es wäre die Frage zu klären, ob die
Schaffung einer solchen Organisationsstruktur und die Einbindung der o. g.
Akteure gesetzlich verpflichtend geregelt werden oder inwieweit dies auf
freiwilliger Basis geschehen soll und kann. Ziel ist es dabei, Menschen mit
Migrationshintergrund soweit wie möglich unabhängig von konkreten Zu-
ständigkeiten wie aus einer Hand zu informieren, zu beraten und zu unterstüt-

zen und Zuständigkeitsfragen im Back Office abzuklären. Die jeweilige Leis-
tungsverantwortung von Trägern bleibt dabei unberührt. Erfahrungen aus

Drucksache 17/9974 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
dem Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung – IQ“ werden be-
rücksichtigt und auf eine dauerhafte Basis gestellt.

• Die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit
setzt bei der Anerkennungsberatung neben ihrem Schwerpunkt bei den aka-
demischen Bildungsabschlüssen einen weiteren Schwerpunkt bei den nicht-
akademischen Bildungsabschlüssen. Die Anerkennungsberatung ist insbe-
sondere Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit. Sie steht als Regelangebot
zur Verfügung.

• Damit die migrationssensible Beratung verbessert werden kann, sind entspre-
chende Fortbildungsangebote in Jobcentern und Agenturen für Arbeit anzu-
bieten. Jobcenter und Agenturen für Arbeit setzen mehr als bisher Fachper-
sonal mit Migrationshintergrund ein.

• Die Beratungsfachkräfte in den Jobcentern und Agenturen für Arbeit werden
intensiv darauf vorbereitet, Menschen mit Migrationshintergrund auf dem
Weg in Ausbildung und Arbeit erfolgreich zu begleiten. Hierzu werden sie im
Rahmen der interkulturellen Weiterbildung stärker mit den besonderen Situ-
ationen von Menschen mit Migrationshintergrund vertraut gemacht. Dabei
werden Zweisprachigkeit und der mühelose Umgang mit unterschiedlichen
Kulturen als besondere Stärke von Menschen mit Migrationshintergrund be-
griffen und in den Vermittlungsunterlagen entsprechend kenntlich gemacht.

• In Städten oder Kreisen mit einem Anteil von Menschen mit Migrationshin-
tergrund an der Wohnbevölkerung, der höher als 20 Prozent ist, müssen Ar-
beitsagenturen und Jobcenter Integrationsbeauftragte benennen. Sie/Er stellt
die Verbindung zu den für Menschen mit Migrationshintergrund relevanten
Netzwerken her, ist Ansprechpartner, stellt migrationsspezifische Informa-
tionen bereit und wirkt auf eine Stärkung der migrationssensiblen Beratung
im Sinne des Mainstreamings in den Jobcentern und Agenturen für Arbeit hin
und organisiert den überregionalen Austausch der Jobcenter und Agenturen
für Arbeit bzw. wirkt an diesem mit. Er erfüllt seine Aufgabe gegenüber
Menschen mit Migrationshintergrund unabhängig vom Aufenthaltsstatus des
Rat- und Unterstützungsuchenden.

• Die Relation von Beratungsfachkräften zu Arbeitsuchenden mit Migrations-
hintergrund ist zu verbessern und die Unterstützung im Sinne des Mentoring
ist zu organisieren. Schrittweise ist zunächst durchgängig eine Relation von
1:75 – entsprechend der bei der Gewährung von Leistungen zur Eingliede-
rung in Arbeit von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bis zur Vollendung
des 25. Lebensjahres (vgl. § 44c Absatz 4 SGB II) – zu erreichen. Dies wird
gesetzlich verankert. Damit werden von der Grundidee her positive Erfah-
rungen des Modellprojektes PINGUIN, einer ganzheitlichen und intensiven
Unterstützung von Arbeitsuchenden, durch das Fallmanagement aufgegrif-
fen. Das erfolgreiche Projekt GINCO (ganzheitliches Integrationscoaching),
welches derzeit an 18 Standorten durchgeführt wird, wird bundesweit etab-
liert. Die Berufseinstiegsbegleitung nach § 49 SGB III wird auf berufsvorbe-
reitende Schulen erweitert.

Berlin, den 13. Juni 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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