BT-Drucksache 17/9920

Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische Kinderarbeit durchsetzen

Vom 12. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9920
17. Wahlperiode 12. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Karin Roth (Esslingen), Marlene Rupprecht (Tuchenbach),
Christoph Strässer, Petra Crone, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Günter Gloser,
Kerstin Griese, Gabriele Hiller-Ohm, Petra Hinz (Essen), Christel Humme, Ute
Kumpf, Caren Marks, Franz Müntefering, Aydan Özog˘uz, Thomas Oppermann,
Sönke Rix, Stefan Schwartze, Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische Kinderarbeit durchsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Kinderarbeit ist ein Verbrechen und eine besonders subtile Form von Gewalt
gegen Kinder. Die Übereinkommen 138 und 182 der Internationalen Arbeits-
organisation (ILO) ächten weltweit Kinderarbeit. Ausbeuterische Kinder-
arbeit steht auch im Widerspruch zur UN-Kinderrechtskonvention, wonach
jedes Kind ein Recht auf Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung hat und
nicht zu einer Arbeit herangezogen werden darf, die die Erziehung des
Kindes behindern oder die Gesundheit des Kindes oder seine körperliche,
geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnte (Ar-
tikel 32 der UN-Kinderrechtskonvention).

Das Problem der ausbeuterischen Kinderarbeit besteht unverändert in vielen
Ländern fort. Nach aktuellen Schätzungen der ILO arbeiten täglich weltweit
220 Millionen Kinder, davon über 100 Millionen unter gefährlichen und aus-
beuterischen Bedingungen. 70 Millionen dieser Kinder sind jünger als zehn
Jahre. Fast die Hälfte der arbeitenden Jungen und Mädchen haben keine
Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Das ist ein Kreislauf der Diskriminie-
rung, denn ohne schulische und berufliche Ausbildung bekommen sie später
auch keine bessere Arbeit. Sie bleiben arm und können oft auch ihren Kin-
dern kein besseres Leben ermöglichen. Für Mädchen gilt dies besonders. Sie
bleiben ohne Bildung, werden oft früh verheiratet und damit doppelt ausge-
beutet.

Es ist zu befürchten, dass ein wichtiges Millenniumsziel der Vereinten Natio-
nen, nämlich allen Kindern den Zugang zur Primarbildung bis 2015 zu er-
möglichen, nicht erreicht wird. Kinderarbeit ist ein Hauptgrund, der einen re-

gulären Schulbesuch von Kindern verhindert. Bildung ist aber ein wichtiger
Schlüssel zur Bekämpfung von Armut und ausbeuterischer Kinderarbeit.
Kinder haben ein Recht auf Bildung nach Artikel 28 der UN-Kinderrechts-
konvention sowie auf angemessene Lebensbedingungen nach Artikel 27 der
UN-Kinderrechtskonvention.

2. Armut ist die Hauptursache für Kinderarbeit. Die wirtschaftliche Not lässt
Familien oft keine andere Wahl: Ihre Kinder müssen mitverdienen, um die

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Existenz zu sichern. Um die Armut als wesentliche Ursache für Kinderarbeit
wirksam und nachhaltig zu bekämpfen, muss vor allem die wirtschaftliche
Situation der Familien verbessert werden. Dazu gehört es, dass soziale
Grunddienste wie Bildung und Gesundheitsversorgung auch die ärmsten
Familien erreichen.

Dem Auf- und Ausbau von Systemen der sozialen Sicherung – vor allem im
Gesundheitsbereich – kommt dabei besondere Bedeutung zu. Denn nach wie
vor ist Krankheit das größte Verarmungsrisiko. Jahr für Jahr sind rund 150
Millionen Menschen ruinierenden Gesundheitsausgaben ausgesetzt und 100
Millionen Menschen fallen unter die Armutsgrenze alleine deswegen, weil
sie Krankheitsbehandlungen direkt aus eigener Tasche zahlen müssen.

Die ILO-Initiative eines Social-Protection-Floors und das Konzept der Welt-
gesundheitsorganisation (WHO) für eine universelle Absicherung im Krank-
heitsfall bieten dafür die systematische Grundlage. Der Social-Protection-
Floor ist zudem der zentrale Ansatz zur Bekämpfung von Armut und Kinder-
arbeit, da er nicht nur die Gesundheitsversorgung sicherstellt, sondern auch
staatliche Transferleistungen für Kinder garantiert und so Kinderarbeit direkt
verhindert.

3. Nach wie vor gelangen Produkte, die durch ausbeuterische Kinderarbeit im
Sinne des ILO-Übereinkommens 182 entstanden sind, auf den deutschen
Markt. Dies betrifft vor allem landwirtschaftliche und industriell gefertigte
Produkte (z. B. im Textilbereich, im Bergbau und in Steinbrüchen).

Ein vorhandenes internationales Instrument zur Bekämpfung von ausbeuteri-
scher Kinderarbeit sind die Leitsätze der Organisation für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (OECD) für multinationale Unternehmen
zur Förderung von verantwortungsvoller Unternehmensführung. Sie sollen
für Unternehmen einen Verhaltenskodex bei Auslandsinvestitionen und für
die Zusammenarbeit mit ausländischen Zulieferern bieten; ebenso wie der
Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung ISO 26000. Die seit Mai
2011 gültige neue Fassung der OECD-Leitsätze unterstreicht die Verantwor-
tung der Unternehmen auch für die Zulieferkette. Sowohl die Leitsätze als
auch die ISO-Norm haben allerdings für Unternehmen nur unverbindlichen
Empfehlungscharakter.

Auf nationaler Ebene haben in den vergangenen Jahren viele Länder und
Kommunen Maßnahmen ergriffen, um die Beschaffung von Produkten aus
ausbeuterischer Kinderarbeit zu verhindern. Ein wichtiger Schritt war die
Novellierung des Vergaberechts, durch die soziale, ökologische und innova-
tive Kriterien bei der Auftragsvergabe berücksichtigt werden können. Zudem
haben sich alle Länder und zahlreiche Kommunen der Kampagne „Aktiv ge-
gen Kinderarbeit“ angeschlossen. Auch nach EU-Vergaberecht ist es unzu-
lässig, Produkte aus Kinderarbeit zu beschaffen.

Doch noch immer gibt es Meldungen beispielsweise über in Deutschland ver-
wendete Grabsteine oder Pflastersteine, die durch ausbeuterische Kinder-
arbeit entstanden sind. Mehrere Verwaltungsgerichte haben sich mit der
Frage der Zulässigkeit eines Verbots von Grabsteinen aus Kinderarbeit in
Friedhofssatzungen befasst.

Ein weiterer Schlüssel zur Bekämpfung von Kinderarbeit liegt in der Ausge-
staltung und konsequenten Umsetzung der EU-Handels- und Rohstoffab-
kommen. Hier muss für alle zukünftigen Abkommen verbindlich festgelegt
werden, dass die ILO-Kernarbeitsnormen umzusetzen sind. Mit Partnerlän-
dern, die dies verweigern, darf es keine Handelsabkommen geben. Auf die-
sen Punkt ist bei den laufenden Verhandlungen des EU-Indien-Freihandels-

abkommens genau zu achten.

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4. Die Bundesregierung hat sich mit der Ratifizierung der ILO-Kernarbeits-
normen verpflichtet, aktiv gegen ausbeuterische Kinderarbeit vorzugehen.
Sie muss daher weitere Maßnahmen ergreifen, um die international bestehen-
den Verpflichtungen wirksam umzusetzen. Deutschland muss eine Vorreiter-
rolle beim Kampf gegen Kinderarbeit einnehmen.

Es versteht sich daher von selbst, dass die Bundesregierung bei der öffent-
lichen Auftragsvergabe durch Bundesministerien und -behörden mit gutem
Beispiel vorangehen und alle Maßnahmen ergreifen muss, um die Anschaf-
fung von Produkten, die durch ausbeuterische Kinderarbeit entstanden sind,
möglichst auszuschließen.

Die Bundesregierung sollte zudem verstärkt auf Unternehmen einwirken, alle
relevanten Produktionsschritte zu kontrollieren, um ausbeuterische Kinder-
arbeit für ein Endprodukt möglichst ausschließen zu können. Wichtig ist dies
insbesondere für Produktionsschritte in Ländern oder Regionen, für die be-
kannt ist, dass ausbeuterische Kinderarbeit in diesem Bereich regelmäßig
vorkommt. Dies betrifft auch Vorprodukte über die gesamte Produktions- und
Lieferkette hinweg, die das Unternehmen von Zulieferern bezieht. Wie aus
der Firmenliste auf www.aktiv-gegen-kinderarbeit.de hervorgeht, besteht
hier bei zahlreichen Unternehmen Handlungsbedarf.

Transparenz ist ein zentraler Schlüssel für faire Arbeitsbedingungen und
Voraussetzung für die Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit. Deshalb
wäre die Einführung eines einheitlichen Zertifizierungssystems für die ge-
samte Produktions- und Lieferkette von Produkten, entsprechend dem Vor-
bild der internationalen Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der
Rohstoffindustrie (EITI), ein wichtiger Schritt.

Außerdem ist es dringend erforderlich, die Transparenz- und Berichtspflich-
ten für die sozialen Folgen des eigenen unternehmerischen Handelns ver-
bindlich zu regeln. Die Europäische Kommission hat dazu einen Vorschlag
für eine neue europäische CSR-Strategie (CSR = Corporate Social Responsi-
bility) vorgelegt. Wird diese Strategie europäisches Recht, müsste jedes
europäische Unternehmen darlegen, ob es im Kerngeschäft und in der Liefer-
kette zu Kinderarbeit kommt.

5. Des Weiteren sollte die Bundesregierung Verbraucherinnen und Verbraucher
stärker für das Thema Kinderarbeit sensibilisieren und darüber besser infor-
mieren. Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen zwar grundsätzlich Kin-
derarbeit ab. Aber viele Menschen wissen nicht, dass sie tagtäglich auf Pro-
dukte stoßen, die aus ausbeuterischer Kinderarbeit stammen. Sie haben kaum
Kenntnisse über Zulieferketten, Zertifizierungen und Standards. Zudem sind
der Zusammenhang zwischen globaler Armut, Kinderarbeit und fehlendem
Zugang zum Bildungssystem auf der einen Seite und die konkreten Auswir-
kungen dieser Zusammenhänge auf den deutschen Markt auf der anderen
Seite häufig nicht ausreichend bekannt.

6. Damit sich Kinder und Jugendliche mit dem Thema auseinandersetzen und
eigene Handlungsansätze zur Bekämpfung von Kinderarbeit entwickeln
können, haben vor allem die Bildungseinrichtungen eine besondere Verant-
wortung. Die UN-Kinderrechtskonvention und die ILO-Kernarbeitsnormen
sollten ebenso wie entsprechende Unterrichtsmaterialien zum Thema Kinder-
arbeit, die beispielsweise auf www.aktiv-gegen-kinderarbeit.de bereitstehen,
besser bekannt gemacht werden.

Weitere öffentliche Einrichtungen wie beispielsweise Behörden und Gerichte
sollten ebenfalls stärker für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention
und der ILO-Kernarbeitsnormen sensibilisiert werden.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit zu einem Schwerpunkt der
Entwicklungspolitik und das Verbot von Kinderarbeit zum Maßstab in allen
Bereichen der bi- und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit zu ma-
chen;

2. sich auf internationaler Ebene für die weltweite Durchsetzung des Verbots
der schlimmsten Formen der Kinderarbeit nach der ILO-Kernarbeitsnorm
182 sowie für geeignete Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels einzuset-
zen;

3. sich bei den Verhandlungen mit den Partnerländern für die nachhaltige Be-
kämpfung von Armut in den Entwicklungsländern als Hauptursache von
Kinderarbeit und für den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme
nach dem Vorbild eines Social-Protection-Floors einzusetzen;

4. sich dafür einzusetzen, dass bei Unternehmen die Akzeptanz der OECD-
Leitsätze erhöht und so deren Wirkung gesteigert wird;

5. ein Importverbot von Waren, die durch ausbeuterische Kinderarbeit her-
gestellt wurden, zu prüfen und dabei den Beschluss des Bundesrates zur
Verhinderung des Marktzugangs von Produkten aus ausbeuterischer Kin-
derarbeit vom 9. Juli 2010 (Bundesratsdrucksache 309/10) einzubeziehen;

6. sich dafür einzusetzen, dass das Verbot von Kinderarbeit Bestandteil jedes
EU-Handelsabkommens wird und Verstöße dagegen entsprechend sanktio-
niert werden;

7. ihre Blockadehaltung gegenüber der neuen CSR-Strategie der EU-Kom-
mission aufzugeben und sich für verbindliche Transparenz- und Berichts-
pflichten einzusetzen;

8. bei der Auftragsvergabe durch Bundesministerien und -behörden alle Maß-
nahmen zu ergreifen, um die Anschaffung von Produkten, die durch aus-
beuterische Kinderarbeit entstanden sind, möglichst auszuschließen. Dazu
gehört beispielsweise, die Norm ISO 26000 („Leitfaden zur gesellschaft-
lichen Verantwortung“) bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in allen Bun-
desministerien und -behörden zwingend zu beachten;

9. auf deutsche Unternehmen einzuwirken, alle relevanten Produktionsschritte
zu kontrollieren, um ausbeuterische Kinderarbeit für ein Endprodukt mög-
lichst ausschließen zu können;

10. bei deutschen Unternehmen insbesondere auf die Einführung von Sozial-
standards in der Wertschöpfungskette (z. B. Zertifizierung nach SA 8000)
einzuwirken;

11. die Einführung eines einheitlichen Zertifizierungssystems für die gesamte
Produktions- und Lieferkette von Produkten entsprechend dem Vorbild der
internationalen Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der Rohstoff-
industrie (EITI) zu prüfen und umzusetzen;

12. sich bei den Ländern dafür einzusetzen, dass alle landeseigenen Unterneh-
men und Gesellschaften, an denen das jeweilige Land beteiligt ist, sich dazu
verpflichten, nur noch Produkte zu erwerben, die nachweislich ohne aus-
beuterische Kinderarbeit hergestellt wurden oder deren Hersteller und Ver-
käufer aktiv zielführende Maßnahmen zum Ausstieg aus derselben einge-
leitet haben;

13. sich bei den kommunalen Spitzenverbänden dafür einzusetzen, bei der Ver-
gabe in Kommunen ebenso zu verfahren und entsprechende Maßnahmen

umzusetzen;

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14. eine bundesweite Aufklärungskampagne für Verbraucherinnen und Ver-
braucher über Produkte aus Kinderarbeit und deren Hintergründe zu entwi-
ckeln und umzusetzen;

15. die Förderung der Kampagne „Aktiv gegen Kinderarbeit“ fortzusetzen und
sie bekannter zu machen;

16. gemeinsam mit den Ländern und Akteuren der Zivilgesellschaft Maßnah-
men zu ergreifen, um die UN-Kinderrechtskonvention und die ILO-Kern-
arbeitsnormen beispielsweise in Schulen, anderen Bildungseinrichtungen,
Behörden und Gerichten bekannter zu machen. Dazu gehört auch die Auf-
klärung über Ursachen und Hintergründe von ausbeuterischer Kinderarbeit;

17. internationale und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich bei der
Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit engagieren, ausreichend organi-
satorisch und finanziell zu unterstützen. Dazu gehört auch eine Erhöhung
der Beiträge zum UN-Kinderhilfswerk UNICEF und zur ILO und deren
Internationalem Programm zur Beseitigung der Kinderarbeit (International
Programme on the Elimination of Child Labour – IPEC);

18. sich dafür einzusetzen, dass die Durchsetzung des Verbots von Kinderarbeit
und des Decent-Work-Ansatzes dauerhaft zu Themen aller G8- und G20-
Gipfeltreffen werden;

19. die Vereinten Nationen dabei zu unterstützen, dass am Weltmädchentag, der
am 11. Oktober 2012 zum ersten Mal begangen wird, die besondere Situa-
tion von Mädchen in die Öffentlichkeit gerückt wird;

20. über alle entsprechenden Aktivitäten bis spätestens zum Ende der 17. Le-
gislaturperiode dem Deutschen Bundestag einen Bericht vorzulegen.

Berlin, den 12. Juni 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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